Aliza Marcus, Journalistin

»Alle in der PKK unterliegen strengen Regeln«

Interview Von Jonathan Weckerle

Die amerikanische Journalistin Aliza Marcus wurde 1995 in der Türkei wegen »Anstiftung zum Rassenhass« angeklagt, weil sie als Reuters-Korrespondentin über das brutale Vorgehen des türkischen Militärs gegen die kurdische Bevölkerung berichtet hatte. Kürzlich ist ihr Buch »Blood and Belief: The PKK and the Kurdish Fight for Independence« erschienen, in dem sie die Geschichte und die innere Organisation der PKK analysiert.

Welche Quellen hatten Sie für Ihr Buch zur Verfügung?

Ich habe viele Jahre lang aus Istanbul für die Nachrichtenagentur Reuters über die PKK berichtet. Es war schwierig, überhaupt Informationen über die Gruppe zu bekommen, die nicht vom türkischen Militär oder angeblichen Insidern stammten. Ich habe dann PKK-Camps in der Türkei und im Nordirak besucht, aber die Leute dort gaben nur die offiziellen Positionen wieder, sprachen über ihren großen Führer und dessen Ziele. Warum sie sich der Gruppe angeschlossen hatten oder wie es innerhalb der PKK aussieht, war nicht von ihnen zu erfahren. Das änderte sich, nachdem Abdullah Öcalan 1999 festgenommen worden war. Viele Mitglieder haben, aus Enttäuschung über seine Verteidigungsstrategie und das verkündete Ende des bewaffneten Kampfes, die PKK verlassen. Durch Gespräche mit ehemaligen PKK-Angehörigen war es dann möglich, mehr über den inneren Aufbau der PKK zu erfahren.

Wie hat sich die Ideologie der PKK über die Jahre verändert? Was ist heute etwa noch von sozialistischen Ideen übrig?

Öcalan und die anderen Gründer der PKK kamen aus der türkischen Linken der siebziger Jahre oder waren von ihr beeinflusst. So fanden sich in der PKK Vertreter des Marxismus-Leninismus, Stalinismus oder Maoismus wieder. Aber die PKK war immer eine ungemein pragmatische Organisation. Im Laufe der Zeit wurde der Nationalismus immer wichtiger. Die linken Ideologien waren stets sekundär und wurden von Außenstehenden überbewertet. Die Mehrzahl der Mitglieder hat sich der PKK nicht wegen linker Ideen angeschlossen, sondern weil sie Nationalisten waren. Die Organisation war immer sehr geschickt darin, unterschiedliche Leute anzusprechen. Studenten erzählte sie etwas von linken Theorien, Menschen ohne Schulabschluss erreichte sie mit nationalistischen Reden über Volk und Heimat.

Welches Potenzial hat die PKK derzeit überhaupt noch?

Grundsätzlich ist es dabei geblieben, dass Öcalan der Anführer ist, obwohl er im Gefängnis sitzt. Zwar werden die Tagesgeschäfte von Militärführern im Nordirak geleitet, die allerdings wissen, was Öcalans Vorstellungen sind, von denen sie etwa über die Anwälte erfahren. Im Vergleich zu den neunziger Jahren hat sich die Zahl der PKK-Kämpfer allerdings um mehr als die Hälfte, auf 3 000 bis 5 000, verringert. Auch die zivile Struktur in der Türkei und insbesondere in Europa war früher wesentlich stärker. Trotzdem funktionieren die in den neunziger Jahren etablierten Vorläuferorganisationen und Büros in ganz Europa, ihre Zeitungen oder Fernsehsender immer noch, so dass die PKK eine relevante Gruppe bleibt.

Haben die Kurden in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran gemeinsame Interessen, oder gibt es eine Verbundenheit zwischen ihnen nur in der Ideologie der PKK?

Die Kurden in dieser Region haben immer schon sehr unterschiedliche Kämpfe geführt, die nicht unbedingt miteinander verbunden waren. Iranische und irakische Kurden haben zeitweise miteinander, aber auch gegeneinander gekämpft, ähnlich ist es mit syrischen und türkischen Kurden. Doch mit dem Mini-Staat im Nordirak ist ein ideologisches Zentrum und praktisches Exempel für die Kurden in dieser Region entstanden, an dem sich alle orientieren können. Die Position der PKK wird durch diesen Umstand in einem gewissen Sinne unterhöhlt, da sie bisher nur theoretisch über einen kurdischen Staat oder andere Lösungsmodelle gesprochen hat.

Kann die PKK überhaupt Interesse an praktischen Lösungen und einer politischen Entspannung haben, wo sie doch in Krisenzeiten am meisten Unterstützung erhält?

Die PKK war immer hinreichend pragmatisch und interessiert an einer Lösung, aber sie möchte anerkannter Teil dieser Lösung sein. Wie alle Rebellengruppen möchte sie nicht einfach beiseite geschoben werden. Und da liegt das Problem. Denn niemand will mit solchen Gruppen verhandeln.

Was waren die Motive der PKK, die gegenwärtige Krise durch ihre Attacken aus dem Nord­irak mit herbeizuführen?

Der Nordirak ist für die PKK als Rückzugsgebiet und Basis ungemein wichtig, und es ist fast unmöglich, sie von dort zu vertreiben. Derzeit versucht sie, die Situation zu internationalisieren, um die Aufmerksamkeit von den irakischen Kurden wieder auf den türkisch-kurdischen Konflikt und die PKK zu lenken. Durch die Aktionen in den vergangenen Wochen erhielt die PKK genau die Aufmerksamkeit, die sie wollte. Nun aber muss sie vorsichtig sein und darf die Sache nicht zu weit treiben, um die irakischen Kurden nicht gegen sich aufzubringen. Letztlich befindet sich die PKK in einer Sackgasse und kann wenig bewirken. Sie ruft einen Waffenstillstand aus, fordert Verhandlungen und lässt entführte Soldaten wieder frei, doch solange die Türkei nicht will, wird es auch keine Lösung geben.

Welche Bedeutung kommt der angeblich von den USA unterstützten kurdischen PJAK im Iran zu?

Die PJAK ist weniger wichtig, als gerade suggeriert wird. Sicher hat sie in den letzten Monaten dutzende iranische Revolutionsgardisten getötet. Aber sie ist auf einige Grenzgebiete beschränkt und wird das iranische Regime sicher nicht gefährden. Einige Kurden im Iran mögen sie für ihre Taten bewundern, aber ich wäre erstaunt, wenn sie wirklich große Unterstützung erhalten würde, nicht zuletzt weil es im Iran immer auch andere, nicht militante kurdische Gruppen gab. Ich finde es schwer, den Gerüchten über eine Unterstützung der USA für die PJAK Glauben zu schenken, denn die USA wissen, dass die PJAK mit der PKK in Kontakt steht, und damit wollen die USA nicht in Verbindung gebracht werden.

Wie ist das Verhältnis der PKK zum Islam?

Auch zum Islam hatte die PKK immer eine pragmatische Haltung. Die Mehrheit der Kurden ist muslimisch und traditionell, deshalb trugen PKK-Aktivistinnen zu Beginn der achtziger Jahre sogar Kopftücher. 1995 versuchte Öcalan, allerdings nicht sonderlich erfolgreich, einen islamischen Flügel zu etablieren, um religiöse Führer für die Sache des Nationalismus zu gewinnen. Die Gefahr einer Islamisierung der PKK ist insgesamt aber eher gering.

Welche Rolle spielt die antiimperialistische, antiwestliche, antizionistische Weltsicht und der damit oft einhergehende Antisemitismus in der PKK?

Antisemitismus habe ich in der PKK nie erlebt. Ich bin Jüdin und wurde oft von ehemaligen Mitgliedern belehrt, was für ein großartiger Mann Ben Gurion war. Natürlich findet sich in den Schriften der PKK ein gewisser antiimperialistischer, antiisraelischer Diskurs. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass Öcalan lange in Damaskus war und sich den Gepflogenheiten seiner Gastgeber anpasste. Die PKK ist weder anti­zionistisch noch antisemitisch, sondern pragmatisch. Ein hoher PKK-Funktionär sagte einst, wenn Öcalan in Israel inhaftiert wäre, würde er sich als großer Zionist darstellen, denn er versucht, jede Unterstützung zu erhalten, die er bekommen kann. Selbst in den frühen achtziger Jahren, als die PKK von palästinensischen Gruppen wie der PFLP ausgebildet wurde, war allen Beteiligten klar, dass sie nicht gemeinsam gegen Israel kämpfen würden. Ich erinnere mich an ein Gespräch in einem PKK-Camp in der Türkei, bei dem mich ein Kommandant fragte, warum die USA die PKK nicht unterstützen würden. Ich erklärte ihm, dass die USA für gewöhnlich keine marxistisch-leninistischen Gruppen im Kampf gegen einen Nato-Verbündeten unterstützen. Die PKK wünscht sich nichts lieber als Hilfe aus den USA, denn letztlich siegt der Pragmatismus über die Ideologie.

Mit »Pragmatismus« lassen sich allerdings Selbstmordattentate, Todesfasten, Selbstverbrennungen und Märtyrerkult nicht erklären. Wie kam es dazu, dass diese extremen Phänomene zum Kennzeichen der PKK wurden?

Das ist eine der Fragen, der ich in meinem Buch nachgehe. Die PKK hat immer darauf bestanden, dass ihre Mitglieder alle Verbindungen zu ihren Familien abbrechen. Es wird ihnen verboten, zu heiraten oder Sex zu haben. Die Kämpfer sollen einen spartanischen Lebensstil verfolgen, um sich ganz auf den Kampf zu konzentrieren. Und das funktioniert. Die innere Struktur der PKK ist von kultischen Zügen gekennzeichnet. Wie ich bei meinen Interviews allerdings überrascht festgestellt habe, lassen die Aussteiger diesen Lebensstil schnell hinter sich. Doch innerhalb der PKK gelten diese Methoden der internen Kontrolle bis heute und sind gefährlich, weil sie zu den genannten extremen Phänomenen führen können.

Gerade Frauen sind oft besonders engagierte Kämpferinnen der PKK. Die Frauenemanzipation gilt als eines der Hauptziele der Organisation. Wie sieht die Realität der Frauen in der PKK aus?

Seit Öcalan, gegen Ende der achtziger Jahre, begann, über Frauenrechte und Emanzipation zu sprechen, hat er eine Art separate und direkt mit ihm verbundene Frauenarmee gebildet, um seine Führerschaft zu sichern. Frauen sind in der PKK nicht frei, sondern unterliegen wie Männer strengen Regeln, werden für Fluchtversuche, oder weil sie sich gegen Öcalan aussprechen, erschossen. Doch viele Frauen empfinden die Mitgliedschaft in der PKK als Befreiung. Denn das Leben in der südöstlichen Türkei ist für Frauen unglaublich brutal und eingeschränkt. Sie können in jungen Jahren verheiratet werden und die Familie kann ihnen den Schulbesuch verbieten. Als PKK-Kämpferinnen bestimmen sie wenigstens, wenn auch nur eingeschränkt, selbst über ihr Leben und lernen beispielsweise lesen und schreiben. Die PKK ist sicher keine feministische Organisation, aber Öcalan spricht zumindest die existierenden Probleme an, und das reicht vielen Frauen, um sich in dieser Organisation zu engagieren.