Nach Weltuntergang

Die Linke, Auschwitz und das Ende der Geschichte. Von Jan Gerber

Kurz nach dem Fall der Berliner Mauer verkündete Francis Fukuyama das Ende der Geschichte. In einem Aufsatz, der später zu einem Buch (»The End of History and the Last Man«) ausgeweitet wurde, erklärte er, dass sich die Prinzipien des Liberalismus, der bürgerlichen Demokratie und des »freien Marktes« nach der Implosion des Ostblocks bald überall und vor allem endgültig durchsetzen würden. Mit dem Ende der Bipolarität, so führte er unter Berufung auf Hegel und die insbesondere in Frankreich beliebte Hegel-Exegese Alexandre Kojèves aus, seien die weltpolitischen Widersprüche in einer letzten Synthese aufgehoben worden. Damit habe die Menschheit einen glück­lichen Endzustand, das Ziel der Geschichte, erreicht; Geschichte finde von nun an nicht mehr statt.

Fukuyamas Thesen zogen in nahezu allen politischen Lagern Kritik auf sich. Niemand war allerdings so empört wie die Linke, die 1989 in eine ihrer größten Krisen geraten war. Ein Teil der Bewegung erklärte mit dem Rudi Dutschke der siebziger Jahre, dass die Chancen für den Sozialismus in Deutschland mit der Wiedervereinigung erheblich gestiegen seien. Andere beschränkten sich darauf, für die kommenden Jahre eine Zunahme weltpolitischer Konflikte, Krisen und Auseinandersetzungen vorauszusagen. Diese Fraktion schien Recht zu behalten.

Nur wenige Jahre nach dem Erscheinen von »The End of History« relativierte Fukuyama seine Thesen schließlich. Er habe das Erstarken des Islamismus nicht vorausgesehen; das Ende der Geschichte müsse vorerst vertagt werden. Mit solchen Aussagen verwies er zwar durchaus richtig auf die Gefahren, die Emanzipation, individuellem Glück und Freiheit von Seiten des Islamismus drohen. Die islamistische Formierung, die weltpolitischen Auseinandersetzungen seit 1989/90 und die unzähligen Nationalitätenkonflikte, die regelmäßig gegen Fukuyama aufgeführt wurden, können allerdings auch als Beleg für das Gegenteil gewertet werden; sie zeigen, dass er mit seiner These vom Ende der Geschichte Recht hatte – allerdings unfreiwillig.

Das Ende der Geschichte ist dabei jedoch nicht der glückliche Endzustand, von dem Fukuyama schwärmt. In Fortführung eines Gedankens von Marx, der immer wieder gegen Hegel betont, dass die wirkliche Geschichte erst mit dem Übergang in die »Gesellschaft der Freien und Gleichen« beginne – alles andere sei die »Vorgeschichte de Menschheit« –, lässt sich das Ende der Geschichte vielmehr als katastrophische Wiederkehr des Immergleichen begreifen.

I.

In seinen berühmten geschichtsphilosophischen Thesen erklärt Walter Benjamin: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.« Mit anderen Worten: Jede Erzählung von Geschichte erfolgt aus dem Kontext der gegenwärtigen Gesellschaft. Ihre Rekonstruktion und insbesondere die Rekonstruktion ihres »logischen Fortgangs« setzt daher die Erkenntnis der Gegenwart voraus.

Diese Erkenntnis ist allerdings nicht so leicht zu haben. Eine Erkenntnis, so Gerhard Stapelfeldt, »die sich allein auf dem Boden des Gegenwärtigen bewegte, wäre in diesem gefangen; sie entzöge sich dem Begreifen.« Das heißt, Erkenntnis über die Gegenwart – und damit zugleich über die Vergangenheit – kann nur gewonnen werden, wenn die Gegenwart transzendiert wird, wenn sie selbst als veränderbarer Teil der Geschichte und als Voraussetzung für eine vernünftige Zukunft erkannt werden kann; sie kann nur aus der Perspektive einer antizipierten Zukunft gewonnen werden.

Die Voraussetzung für Geschichte ist also Zukunft. »Nur wenn man einen Ursprung und ein Ziel schon voraussetzt«, so Wolfgang Pohrt, »stellt sich Geschichte überhaupt als ein Prozess mit unterscheidbaren, nämlich in Relation zum Ursprung und zum Ende verschiedenen Entwicklungsstufen dar, und die Unterscheidung verschiedener Entwicklungsstufen ist die erste Voraussetzung, deren zeitliche Abfolge in einen logisch zwingenden Zusammenhang zu bringen.« Erst mit der bürgerlichen Gesellschaft und dem von ihr produzierten Glauben, der Himmel könne auch auf Erden errichtet werden, entsteht Geschichte.

Während mittelalterliche Chronisten reine Genealogie betreiben und die Zeugungs- und Gebärakte der jeweiligen Herrscherhäuser aneinanderreihen mussten, waren bürgerliche und kommunistische Historiker in der Lage, Abläufe zu analysieren, Prozesse zu benennen und von Epochen zu sprechen. Vor dem Hintergrund eines vorweggenommenen besseren Zustands fanden plötzlich Geschichte, Fortschritt, Logik und Vernunft zusammen.

Vom Standpunkt der Erlösung aus betrachtet, erschien die Kanonade von Valmy nicht mehr als weitere Metzelei auf ungezählten Schlachtfeldern; sie erschien vielmehr als schreckliche, aber doch notwendige Bedingung für die Errichtung der erwarteten paradiesischen Bürgergesellschaft. Vom Standpunkt der Erlösung aus betrachtet, erscheint auch das Kapitalverhältnis nicht mehr nur als Hölle auf Erden, sondern zugleich als Voraussetzung für das Reich der Freiheit.

Wird das System der Wertvergesellschaftung allerdings nicht von der befreiten Gesellschaft, sondern vom großen Armageddon abgelöst, kann es nicht mehr als Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit begriffen werden; das Kapitalverhältnis ist dann die Vorstufe zu ihrer Vernichtung. Die Zerstörung von Sippe, Clan, Stamm und »Blutsurenge« durch den Kapitalismus ist vor diesem Hintergrund nicht mehr Voraussetzung für die Assoziation der Freien und Gleichen. Sie ist lediglich die Ablösung eines Zwangsverhältnisses durch ein anderes; die »ganze alte Scheiße« (Marx) wird durch neue ersetzt.

II.

Zeitgenössische Autoren berichteten immer wieder verwundert darüber, dass die Kommunarden von Paris 1871 singend auf den Barrikaden standen und singend in den Tod gingen. Trotz der brutalen Auseinandersetzungen und des grausigen Endes der Kommune – die Reaktion ermordete nach ihrem Sieg mehr als 25 000 Menschen – erfüllte der Aufstand einen Anspruch, den die Situationisten fast 100 Jahre später in bemerkenswerter Geschichtsvergessenheit an eine Revolution stellten: »Die proletarischen Revolutionen werden Feten sein oder sie werden nicht sein, denn das von ihnen angekündigte Leben wird selbst unter dem Zeichen der Fete geschaffen werden.«

Das aus heutiger Sicht kitschig anmutende Pathos der Kommunarden war nur wegen der Überzeugung möglich – und das ist zugleich der zentrale Unterschied zu den Irren von Langemarck, die 1914 aufrecht und mit dem Deutschland-Lied auf den Lippen in französisches Maschinengewehrfeuer marschiert sein sollen –, dass der eigene Tod und der Tod all derer, die zuvor gestorben waren, nicht sinnlos war; es war nur möglich, weil man den Tag der Rache und damit zugleich den Tag der Befreiung von Freunden, Kindern und Geliebten in naher Zukunft glaubte.

Der Oktoberrevolution und dem russischen Bürgerkrieg fehlte diese Emphase bereits; das Pathos musste ihnen in ranzigen Revolutionsdramen wie Nikolai Os­trowskis »Wie der Stahl gehärtet wurde« oder Dmitri Furmanows »Tschapajew« nachträglich übergestülpt werden. Der Grund dafür ist, dass die »letzten Tage der Menschheit«, die Karl Kraus in seinem gleichnamigen Stück über den Ersten Weltkrieg beschreibt, bereits stattgefunden hatten; die Mitglieder der Roten Armee dürften geahnt haben, dass ihre Aktivitäten bereits, wie Theodor W. Adorno in »Minima Moralia« formuliert, »nach Weltuntergang« stattfanden.

Isaak Babels »Reiterarmee«, eines der großartigsten Bücher über die Revolution und den Bürgerkrieg, liest sich eben nicht wie die Entstehungsgeschichte des »neuen Menschen«. Babel beschreibt vielmehr geschundene Kreaturen, von denen nur schwer­lich vorstellbar ist, dass sie selbst jemals mit dem Schinden aufhören können. »Die Reiterarmee« wurde unter Stalin folgerichtig verboten, Babel vermutlich im Jahr 1941 hingerichtet.

Den Glauben an einen logischen Gang der Geschichte wollten sich jene, die sich die Befreiung der Menschheit auf die Fahnen geschrieben hatten, weder von ihrem Genossen Babel noch von Franco, Mussolini und Hitler, den Proleten der SA oder den Folterknechten in den Kellern der Gestapo nehmen lassen. Die KPD gab 1933 inoffiziell die Parole »Nach Hitler wir!« aus; Georgi Dimitroff rationalisierte den Faschismus als Treppenstufe auf dem Weg zum Kommunismus: Der Faschismus sei eine »Folge des Niederganges des kapitalistischen Systems« und würde ganz logisch und gesetzmäßig zu seiner eigenen »Zersetzung« – und damit zum Sieg des Kommunismus – beitragen.

Der Verweis auf den logischen Gang der Geschichte wurde damit endgültig zum Religionsersatz. Jean Améry erinnert sich, dass Parteikommunisten und überzeugte Christen diejenigen waren, die die Qualen der Konzentrationslager am stoischsten ertrugen. Beide glaubten, dass ihr Leiden einen tieferen Sinn hatte; die einen erklärten sich ihr Elend mit dem unergründlichen Willen Gottes, der im Paradies auf sie warte, die anderen beriefen sich auf den gesetzmäßigen Gang der Geschichte in der Gestalt Josef Stalins.

III.

War der Glaube an einen roten Faden der Geschichte schon mit dem Ersten Weltkrieg in Mitleidenschaft geraten, lässt sich spätestens seit Auschwitz kein Zusammenhang mehr zwischen Geschichte und Vernunft herstellen. Warum Nationalsozialismus und Auschwitz eine notwendige Voraussetzung für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen sein sollen, ist mit den Mitteln der Vernunft auch beim besten Willen nicht zu erklären. Mit Auschwitz, so Moi­she Postone, wurde die Frage gestellt, »ob und auf welche Weise es noch möglich ist, eine Zukunft zu denken, ohne die Vergangenheit zu verraten«.

Das Leben »unter dem Zeichen der Fete«, von dem die Situationisten 1966 sprachen, als stünde der Aufstand der Pariser Kommune noch bevor, ist durch den Massenmord affiziert worden – eine wahrhaft menschliche Gesellschaft hätte entsprechend die Trauer um die sinnlos Hingemetzelten in sich aufzunehmen –; der glücklich-unbeschwerte Zustand, von dem selbst gestandene Bolschewiki wie frühsozialistische Utopisten schwärmten (Trotzki: »Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Stimme musikalischer werden«), ist damit unerreichbar geworden.

Anstatt jedoch die Notbremse zu ziehen und einen Zustand zu schaffen, in dem die Toten zumindest vor nachträglicher Bemächtigung sicher sind, tat die Menschheit so, als wäre nichts geschehen. Im Osten versuchte man, mit beschränkten Mitteln und noch beschränkteren Vorstellungen zumindest eine Gesellschaft ohne Ausbeutung zu schaffen. Die »Lehren aus der Geschichte« sollten allerdings mit Hilfe »natio­naler Volks­armeen«, der »Helden der Arbeit«, sozialistischer Zwangsmoral und uniformierte Kinder gezogen werden.

Im Westen simulierte man den status quo ante. Nach der Verschmelzung von Staat und Kapital wurde freie Marktwirtschaft gespielt; während das Individuum in den letzten Zügen lag, entdeckte die Kulturindustrie »Individualität«. Nach der Auflösung des Klassenantagonismus ernannte die Linke kurzerhand die »unterdrückten Völker« zum Nachfolger des Proletariats. Selbst diejenigen, die sich die Kritik des Bestehenden auf ihre Fahnen geschrieben hatten, spielten mit: Die Studenten der sechziger und siebziger Jahre verkleideten sich als Proleten, zogen Kommissarslederjacken an und ahmten die KPD der zwanziger Jahre nach.

Und tatsächlich: Vor dem Hintergrund des neu begonnenen Kalten Kriegs konnten einige zentrale Parolen des bürgerlichen Zeitalters – allen voran die Aussage, ein jeder sei seines Glückes Schmied – auch über das Ende dieser Epoche hinaus eine gewisse Gültigkeit für sich beanspruchen. Das clevere Taktieren verschiedener Trikontstaaten führte im Rahmen des Ost-West-Konfliktes gelegentlich zu einer bescheidenen Steigerung des Lebensstandards in diesen Ländern; die Aufstiegschancen in den subventionierten Wirtschaftswunderländern boten einen schwachen Abglanz der Vorstellung »vom Tellerwäscher zum Millionär«.

Fortschritt und Zukunft hatten auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs« Konjunktur. Ludwig Erhard versprach »Wohlstand für alle«; die Staaten des »real existierenden Sozialismus« wollten den Westen mit Fünfjahresplänen überholen und später einholen; die Helden der Jugend stammten aus der Science-Fiction-Literatur. Im DDR-Standardwerk »Weltall, Erde, Mensch«, das junge Staatsbürger zu ihrer »Jugendweihe« überreicht bekamen, wurden Weltraumstädte, mit denen man um das Jahr 2000 rechnete, vorgestellt; im Westen gingen Perry Rhodan, die Raumpatrouille Orion und das Raumschiff Enter­prise auf die Suche nach neuen Galaxien.

Die Voraussetzung für diesen fortschritts- und zukunftsfrohen Utopismus war das Verschweigen von Auschwitz. Im Osten schien man zu ahnen, dass die Kontinuitätslinie, die in »Weltall, Erde, Mensch« vom Neandertaler über Spartakus und Lenin zu Walter Ulbricht gezogen wurde, durch Auschwitz unterbrochen wurde. Verweise auf den Massenmord fehlten.

Im Westen unterblieben ebenfalls Hinweise auf die deutsche Vernichtungspolitik – wenn auch aus dem entgegengesetzten Grund. Hier wurde nicht geschwiegen, weil der Massenmord die Vorstellung vom logisch-vernünftigen Gang der Geschichte und der »historischen Mission der Arbeiterklasse«, die sich am Morden bekanntlich enthusiastisch beteiligt hatte, in Frage stellte; hier wurde Auschwitz verschwiegen, weil tatsächlich Kontinuitäten bestanden.

Diese Verbindungen bestanden nicht nur, wie von der Protestbewegung der sechziger Jahre immer wieder beklagt wurde, auf personeller Ebene. Es dürfte vielmehr ein Bewusstsein davon existiert haben, dass der Vernichtungskrieg und der Massenmord tatsächlich die Voraussetzung für das Wirtschaftswunder waren. So wurde die große Krise des Kapitals, wie Gerhard Scheit in »Die Meister der Krise« ausführt, nicht durch den Ideenreichtum der Ökonomen und Technokraten beendet, sondern durch den Krieg. »Im Krieg, für den der Staat als monströser Konsument tätig war, ist eine Kaufkraft angestaut worden, die sich nun am Ausstoß der neu investierten Konsumgüterindustrie schadlos halten konnte.«

Das heißt: Diejenigen, die den Nachkriegsboom in den westlichen Ländern genießen konnten, hatten dem Nationalsozialismus obszönerweise etwas zu verdanken. Nicht zuletzt das ist die Barbarei, die Adorno zufolge fortbesteht, weil auch ihre Bedingungen fortbestehen.

IV.

In den siebziger Jahren fand das 1945 begonnene »golden age of capitalism« (Eric Hobsbawm) sein Ende. Die im Krieg angestaute Kaufkraft war aufgebraucht, die seit den großen Zusammenbrüchen betriebene Krisenlösung in Permanenz versagte. Hatten die Bewohner der Industrienationen in den fünfziger und sechziger Jahren noch darauf gehofft, immer wohlhabender zu werden, sorgten sie sich in Meinungsumfragen plötzlich darum, zumindest nicht ärmer zu werden.

Auch die Parolen hatten sich verändert. Ging es in den Wahlkämpfen bis dahin um »Wohlstand für alle« und den »Stolz auf das Erreichte«, hieß es von nun an, den »Gürtel enger zu schnallen«, kürzer zu treten und sich nicht auf dem Bisherigen auszuruhen. Mit der Implosion des Ostblocks verschwand schließlich die letzte Bedingung für die Simulation des bürgerlichen Zeitalters; der Zusammenbruch des alternativen Weltmarktes des RGW machte die ohnehin armseligen Subventionspraktiken in der Dritten Welt aus herrschaftsrationaler Sicht vollends sinnlos. Der erste, nunmehr einzige Weltmarkt hat keine Verwendung mehr für die Überflüssigen und ihre Produkte. Die »eine Menschheit« ist auf Schicksal und auf blinden Naturzusammenhang zurückgeworfen.

»Der Gesellschaftszustand«, so Wolfgang Pohrt, »reproduziert seine ideologische Existenzbedingung nicht mehr, nämlich die mit seiner Unerträglichkeit versöhnende Illusion, er werde sich kontinuierlich zum Besseren ändern, denn alles Schlechte an ihm sei Übergangserscheinung und Restbestand, Hinterlassenschaft von Verhältnissen, die man gerade überwindet. (…) Seither hat, wie sich ohne Pathos und Übertreibung sagen lässt, die Menschheit keine Zukunft.«

Weil die Menschheit keine Zukunft mehr hat, träumen die Menschen wieder von ihrer Vergangenheit. Sie sehnen sich nach ihrer Kindheit bzw. der Kindheit der Gattung zurück, nach einer Zeit, in der Kapitalismus und Weltmarkt noch nicht existierten, die Menschen sich in Sippen, Stämmen und Clans organisierten und die Konflikte scheinbar überschaubar waren.

Bei diesem Kampf um die Kindheit stehen sie allerdings vor zwei Problemen. Erstens: Kindheit ist nie so schön, wie sie im Rückblick erscheint; sie besteht in der Regel aus einer Aneinanderreihung von Unsicherheiten, Demütigungen durch Eltern und Geschwister und Quälereien durch Gleichaltrige. Zweitens: Die guten alten Zeiten, in denen nichts gut war, können nicht wiederkehren, weil die vorkapitalistischen Gemeinwesen irreparabel und unwiderruflich zertrümmert sind.

Wenn die Menschheit keine Zukunft mehr hat und die Vergangenheit unwiederbringlich ist, so lautet die Schlussfolgerung, bleibt nur der Tod. Oder mit den Worten Pohrts: Im Bewusstsein ihrer eigenen Überflüssigkeit, »im Bewusstsein der Tatsache vielleicht, dass sie auf der Welt nichts mehr zu suchen hätten, sind die Menschen weltweit mit selbstzerstörerischer Aggressivität erfüllt«.

Ebenso wie vor dem Ersten Weltkrieg, als die Menschheit ihrem bevorstehenden Untergang mit Endzeitgedichten, Untergangsgemälden und militärischer Körperertüchtigung entgegenfieberte, hofft die Gattung seit dem Ende des »goldenen Zeitalters« wieder auf die Apokalypse. Die »neuen sozialen Bewegungen« – Frieden, Ökologie, Anti-Atom – sehnten sich nach Atomkrieg und explodierenden Kernkraftwerken und kaschierten diese Hoffnung nur lieblos als Angst. Putzfrauen, Tankwarte und Manager bereiteten sich in Kampfsportschulen auf das Hauen und Stechen beim Weltuntergang vor. Die Untergangsgedichte der Jahrhundertwende fanden ihre Entsprechung in den Katastrophenfilmen – »Mad Max«, »The Day After«, »Meteor« usw. –, die den Markt seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre überschwemmten.

Zur gleichen Zeit begann der erneute Siegeszug der Religionen. Die Beatles fuhren ganz avantgardistisch bereits Ende der sechziger Jahre zu Maharishi Mahesh Yogi nach Indien; Bhagwan konnte sich mit den Spenden seiner Anhänger auch noch seinen 97. Rolls Royce kaufen; der Islam wurde mit der Revolution im Iran wieder zu einer politischen Größe.

Zwischen dieser »Suche nach Spiritualität« und der Sehnsucht nach dem Weltuntergang besteht nicht nur ein zeitlicher Zusammenhang. So ging der Niedergang der alten Religionen bekanntlich mit der Entstehung des Glaubens einher, dass der Himmel auch auf Erden errichtet werden kann. Dantes noch religiös verbrämtes Loblied auf den Menschen, der aus eigener Kraft zum »irdischen Paradies« gelangt, war der Anfang vom vorläufigen Ende der Religionen. Seit die Zukunft der Menschheit wieder auf einen unbestimmten Termin vertagt wurde, wird der Glauben an ein besseres Dasein nahezu konsequenzlogisch wieder ins Jenseits, den Zuständigkeitsbereich der Priester, Gurus und Scharlatane, verschoben.

Doch nicht nur das: Seit die Verhältnisse den Slogan no future wieder auf die Tagesordnung gesetzt haben, können sich die Menschen plötzlich wieder an das Ereignis erinnern, das den Zukunftsoptimismus der vorangegangenen Jahre permanent in Frage gestellt hatte – und nicht zuletzt deshalb verdrängt wurde.

So ist es möglicherweise mehr als ein Zufall, dass man sich just zu dem Zeitpunkt, als die Nachkriegsprosperität ein Ende fand, wieder an die so lange verschwiegene Voraussetzung des eigenen kurzzeitigen Glücks zu erinnern begann. Seit den späten siebziger Jahren schrieben Stadtteilinitiativen und Geschichtswerkstätten »Regionalgeschichten des Holocaust«; die Menora wurde zum festen Bestandteil der zahnärztlichen Wohnzimmereinrichtung; und die neu aufkommende Erinnerungsarbeit bewahrte Tausende Historiker, Sozialpädagogen und Erziehungswissenschaftler vor der Arbeitslosigkeit.

V.

Ohne die Vorstellung eines zukünftigen Himmels auf Erden, die die bürgerliche Gesellschaft noch von sich produzierte, verschwindet Geschichte. Mit dem Verfall einer Zukunft, die mehr ist als verlängerte Gegenwart, kommt sie – und hier hatte Fukuyama wieder unfreiwillig Recht – an ihr Ende.

Der seit den frühen siebziger Jahren immer wieder beklagte »Verlust von Geschichte« ist, wie Klaus Bergmann und Hans-Jürgen Pandel 1975 richtig feststellten, »in Wahrheit ein Verlust von Zukunft«. Wenn als Reaktion auf die Krise alle nur den Gürtel enger schnallen wollen und selbst Liberale nicht mehr auf die Selbstheilungskräfte des Marktes vertrauen, lässt sich der Standpunkt der Erlösung, aus dessen vorweggenommener Retrospektive sich der Gang der Dinge als historischer Prozess darstellt, immer schwerer einnehmen. An die Stelle von Geschichte tritt die Wiederkehr des Immergleichen.

Ebenso wenig wie sich die Arbeit des Sisyphos in geschichtliche Kategorien fassen lässt, lässt sich die unendliche Verlängerung der schlechten Gegenwart als Historie begreifen. Sie ist nicht einmal mehr, wie Adorno in Anlehnung an Marx’ Begriff der Vorgeschichte formuliert, die Verlängerung der Vorgeschichte ins Unabsehbare. Der Gang der Dinge scheint vielmehr die vorbürgerliche Vorstellung von Geschichte als einem ewigen Kreislauf, wie sie noch bei Machiavelli, einem der ersten Bürger, zu finden ist, zu bestätigen.

In dem Maß, in dem sich Geschichte in den Lauf der Zeit und damit in Schicksal zurückverwandelt, kollabiert notwendigerweise auch das Geschichtsbewusstsein. Ereignisse, an die sich schon nach zwei Tagen niemand mehr erinnern kann, werden als »historische Momente« ausgegeben; sechs Jahre nach dem Millenniumswechsel bejubeln Reporter und kreischende Deutschlandschalträger einen Sieg im Achtelfinale als »Jahrhundertereignis«; die im Zweijahrestakt wiederholten linken Diskussionen erinnern an die Zeitschleifen, mit denen Jean-Luc Picard und seine Mannschaft in den neuen Star-Trek-Staffeln gelegentlich zu kämpfen haben.

Angesichts dieser Wiederkehr des Immergleichen macht sich überall Langeweile breit. Das Fernsehprogramm ermüdet nur noch, Gespräche im Bekanntenkreis werden fade, und die Eintönigkeit der Nachrichten wird nur von der Monotonie linker Organisationsversuche übertroffen.

Diese permanente Langeweile ist allerdings nicht nur Ausdruck der Ermüdung beim Warten auf die Neuigkeit, die doch nicht kommt. Sie entsteht auch dann, wenn man ahnt, dass die eigenen Handlungen folgenlos bleiben. Die Langeweile, über die sich vom Sechstklässler über seinen Sozialkundelehrer bis hin zum »Partygirl« Paris Hilton alle beklagen, dürfte Ausdruck des Verdachts sein, dass es auf das Handeln der Menschen nicht mehr ankommt. Sie dürfte Resultat der Ahnung davon sein, dass die Menschen selbst oder gerade dort, wo sie sich für geschichtsmächtig halten, nur das exekutieren, was ohnehin auf der Tagesordnung steht.

Die freiwilligen und unfreiwilligen Vordenker der Neuen Linken – von den Situa­tionisten bis hin zu den kritischen Theoretikern – hofften einmal darauf, dass sich die Gattung nach dem Erhalt dieser Nachricht aus Scham doch noch dazu entschließt, den Gegenbeweis anzutreten; sie hofften darauf, dass die Menschen aus Empörung über die eigene Statistenrolle doch noch geschichtsmächtig werden.

In ihrer programmatischen Schrift über das »Elend im Studentenmilieu« erklärten die Situationisten in exemplarischer Weise, »die Schmach noch schmachvoller machen« zu wollen, »indem man sie publiziert«. Die Begeisterung, die systemtheoretischen und poststrukturalistischen Theorieproduktionen im Soziologie- und Philosophiegrundkurs entgegengebracht wird, weckt hinsichtlich der Erfolgsaussichten dieses Unterfangens allerdings nicht gerade Optimismus. Anstatt sich darüber zu entrüsten, dass es in der Gesellschaft, die von Luhmann, Butler und Co. affirmativ beschrieben wird, auf das Handeln der Menschen nicht mehr ankommt, reagiert der Wissenschaftsbetrieb auf solche Aussagen mit zufriedenem Kopfnicken.

Bleibt also nur zu hoffen, dass die Mensch­heit schlauer ist als ihre akademische Vorhut. Zumindest dabei stehen die Chancen nicht schlecht. Immerhin sind die Intellektuellen, vom Philosophen im Staatsdienst bis zum ehemaligen Kommunisten im Zeitgeistmagazin, diejenigen, die sich stets als erstes krumm machen und die jeweils neueste Agentur der Barbarei – seien es die Nazis, sei es der Islamismus – begeistert begrüßen.

Literatur:

Klaus Bergmann, Hans-Jürgen Pandel: Geschichte und Zukunft. Didaktische Reflexionen über veröffentlichtes Geschichtsbewusstsein. Athenäum, Frankfurt am Main 1975

Wolfgang Pohrt: Vernunft und Geschichte bei Marx. In: Ders.: Theorie des Gebrauchswerts. Über die Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen, unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt. Tiamat, Berlin 1995

Ders.: Abschied ohne Tränen. In: Ders.: Harte Zeiten. Neues vom Dauerzustand. Tiamat, Berlin 1993

Moishe Postone: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen. Ça ira, Freiburg 2005

Gerhard Stapelfeldt: Der Merkantilismus. Die Genese der Weltgesellschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Ça ira, Freiburg 2001