Der Bürger ist nackt

Das Gegenteil von Geschichte – oder warum man heute gut sehen kann, dass Francis Fukuyama mit seiner These vom »Ende der Geschichte« unfreiwillig Recht hat. Von Jan Gerber

Kaum jemand gilt für überholter, kaum jemand scheint mehr zu langweilen als der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama. Konservative, Liberale und Linke sind sich darin einig, dass Fukuyama »von der Geschichte überrollt« wurde, seine Rede vom Ende der Geschichte ein Hirngespinst und sein Vertrauen in die Anziehungskraft der westlichen Demokratie an Naivität nur schwer zu überbieten gewesen sein.

Dennoch können sie nicht von ihm lassen. Nach wie vor kommt kaum ein zeitkritischer Essay ohne einen ironischen Verweis auf Fukuyama aus, seine Formel vom Ende der Geschichte ist zu einer stehenden Redewendung geworden, und seine jeweils aktuellen Bücher können sich der Aufmerksamkeit des Feuilletons sicher sein.

Diese Reaktionen verwundern. Denn wer Dinge erzählt, die allgemein als abstrus und abwegig gelten, kann in der Regel nicht mit Beachtung rechnen. Er dürfte vielmehr das Schicksal derjenigen teilen, die sich von Zeit zu Zeit mit roten Fahnen in der Einkaufszone treffen. Niemand interessiert sich für sie, sie taugen nicht einmal mehr als Gegner.

Nicht so Fukuyama. Während die Freunde des roten Oktober in öffentlichen Debatten inzwischen selbst als Kuriosität abdanken mussten, weist der Umgang mit ihm auch weiterhin obsessive Züge auf. Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen: Woher der Furor? Woher das Bedürfnis, sich auch 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung von »The End of History« sowie von Fukuyamas Thesen – und sei es nur in einer spöttischen Randbemerkung – abzugrenzen?

Die Antwort lautet: Als im November 1989 die Mauer fiel und der Ostblock kurze Zeit später implodierte, verschwand der wohl letzte Statthalter einer Idee, die bereits in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und in Auschwitz dementiert worden war. Bei aller berechtigten Kritik am Bolschewismus, seinem Staatsfetischismus und seiner Begeisterung für Volk, Nation und Trachtengruppe war der rote Oktober stets ein Symbol dafür, dass die Menschen ihre Geschicke in die eigenen Hände nehmen und dem Schicksal eine Absage erteilen können.

Bis 1989, so erklärte Jan Philipp Reemtsma vor einigen Jahren, konnte auch ein kompromissloser linker Kritiker des Stalinismus im Hinblick auf das Projekt 1917 »von einer ›eingefrorenen‹, einer ›arretierten‹ (…) welthistorischen Chance sprechen«. Dieser Glaube an welthistorische Chancen und die Machbarkeit von Geschichte ist mit der Sowjetunion ein weiteres Mal untergegangen. Mit dem »Ende der Utopien«, von dem nach 1989 überall die Rede war, verschwand auch der Glaube an eine bessere Zukunft.

Seither ist die Menschheit auf Schicksal und Naturzusammenhang zurückgeworfen, der Gang der Dinge erinnert an die Abfolge von Naturkatastrophen, und der Alltag ähnelt Harold Ramis’ Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«: Die Menschen durchleben alptraumhaft immer wieder denselben Tag, in den Nachrichten wird Woche für Woche über das gleiche Ereignis berichtet, und auch der Wetterbericht bietet keine Neuigkeiten. Wenn schließlich nicht einmal mehr neue Bekanntschaften Abwechslung versprechen, weil auch sie nur schlechte Kopien derjenigen sind, die man schon zur Genüge kennt, verschwinden – und hier hatte Fukuyama unfreiwillig Recht – Geschichte und Gegenwart.

Da die Menschen geahnt haben dürften, dass es von nun an immer so weitergehen wird, wollte sich so rechte Freude über den Niedergang des Ostblocks nicht einstellen. In den Gesichtern derjenigen, die nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs singend durch die Straßen Berlins, Prags, Bukarests und Zagrebs zogen, war kaum Vorfreude und Hoffnung zu erkennen. Die verbissene Meute, die sich mit Sektflaschen, Fahnen und Böllern bewaffnet hatte, weckte vielmehr Assoziationen zu einer Gruppe von Hafturlaubern, die sich kurz vor Ablauf ihres Freigangs noch einmal kräftig betrank. Im Unterschied zum herkömmlichen Häftling konnten sie jedoch weder auf die Entlassung hoffen, die hierzulande bei »lebenslänglich« in der Regel nach 15 Jahren ansteht. Noch sind sie in der Lage, den notwendigen Ausbruchsversuch zu starten.

Da sie nicht einmal mehr fähig zu sein scheinen, einen Zustand jenseits des schlechten Jetzt auch nur zu denken, bleiben ihnen lediglich zwei Möglichkeiten. Sie üben sich in Affirmation und propagieren, was ohnehin ansteht, wenn sich die Verhältnisse nicht ändern. Oder sie leugnen die Realität. Das Problem dabei ist: Ebenso wenig wie diese beiden Optionen tatsächlich in Konkurrenz zueinander stehen – sie ergänzen sich vielmehr gegenseitig –, lässt sich das Realitätsprinzip einfach überlisten. Es bricht immer wieder über Umwege in das Geflecht aus Flunkereien, Lügen und Halbwahrheiten ein, die das Leben gelegentlich erleichtern.

Einer dieser Umwege war Francis Fukuyama. Seine Rede vom Ende der Geschichte erinnerte die Menschen an ihre große Verdrängungsleistung; sie erinnerte sie daran, dass sie auf keine Entwicklung mehr hoffen durften, die sich vom drögen Einerlei abhebt. Dabei war es irrelevant, dass Fukuyama das Ende der Geschichte nicht als alptraumhafte Wiederkehr des Immergleichen, sondern als marktwirtschaftlichen Himmel auf Erden begriffen wissen wollte.

Im Westen wusste man seit den Krisen der siebziger Jahre, was unter Marktwirtschaft zu verstehen ist; im Osten sorgten ARD und ZDF für die Verbreitung dieser Erkenntnis. In der Regel waren solche Kombinationsleistungen allerdings nicht nötig. Die Mehrzahl der Rezensenten hatte »The End of History« entweder nicht gelesen oder vergaß den Inhalt des Buches über seinem Titel.

Fukuyama beschwerte sich immer wieder verwundert darüber, dass die Debatten über das Ende der Geschichte so sehr an seinen Ausführungen vorbeigingen. Er hatte nicht begriffen, dass er unfreiwillig ein offenes Geheimnis verraten hatte; er hatte nicht begriffen, dass er – und hier dürfte der Grund für die vehementen Abwehrreaktionen zu suchen sein – öffentlich ausgesprochen hatte, was jeder ahnte, aber nicht zu artikulieren wagte.