In Belarus haben Atomkraftgegner am Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl gegen den Bau des ersten Reaktors im Land demonstriert

Aus den Fehlern nichts gelernt

Am traditionellen Tschernobyl-Marsch in der belarussischen Hauptstadt Minsk beteiligten sich neben Atomkraftgegnern viele Oppositionelle, denen sonst kaum Raum für politische Artikulation bleibt. An seinen Plänen zum Bau des ersten eigenen Atomkraftwerks hält das bela­russische Regime trotz zahlreicher Pannen fest.

Dass die traditionelle Kundgebung am Jahrestag des Reaktorunglücks von Tschernobyl ohne Repression verlaufen würde, dessen konnten sich die Atomkraftgegner und -gegnerinnen am 26. April in Minsk nicht sicher sein. Nur einen Monat zuvor war das belarussische Regime mit aller Härte gegen Sozialproteste vorgegangen, landesweit wurden mehr als 1 100 Demonstrierende festgenommen. Als Vorsichtsmaßnahme hatten einige Umweltschützer daher eine Wohnung in Minsk angemietet, um sich dort mit Tierkostümen verkleiden und per Taxi zur Demonstration fahren zu können. Es lag eher an der permanenten Drohkulisse und gezielten Störmanövern der Behörden als am ­Regen, dass sich schließlich nur etwa 500 Menschen zum Tschernobyl-Marsch versammelten. Da der marginalisierten und zersplitterten Opposition sonst kaum Raum für legale Demonstrationen bleibt, traf sich dort eine bunte Mischung an Menschen unterschiedlichster politischer Ausrichtungen, von Nationalkonservativen bis zu Grünen und Linken: Angehörige von 18 seit März Inhaftierten, denen das Schüren von Massenunruhen vorgeworfen wird, verlangten deren Freilassung; das Banner der belarussischen Volksfront propagierte ein unabhän­giges Belarus und die Grünen forderten den Stopp des Baus des ersten Atomkraftwerks (AKW), das in Ostrowets errichtet wird.

»Wenn schon beim Bau Unfälle passieren, können wir nicht daran glauben, dass die Behörden das AKW sicher betreiben können.« Ulads, Atomkraftgegner

Man demonstriere neben- statt miteinander, so der Eindruck des Umweltschützers Ulads, der im Plüschtierkostüm protestierte. Er vermisse Solidarität zwischen den verschiedenen Gruppen, in der Zivilgesellschaft gebe es wenig Empathie für die Atomkraftgegner. Die Aussichten, den Bau der Anlage in Ostrowets noch zu stoppen, beurteilt Ulads pessimistisch. Eine öffentliche Kontrolle des AKW hält er aber für sehr wichtig: »Wenn schon beim Bau Unfälle passieren, können wir nicht daran glauben, dass die Behörden das AKW sicher betreiben können.«
In der Tat ist der Bau des AKW in Ostrowets eine Geschichte zahlreicher Pannen. Bisher wurden mindestens zehn Unfälle mit vier Todesopfern gezählt: Ein Mann wurde von einem Sauerstofftank erschlagen, eine Frau von einem LKW überfahren, im Juli 2016 fiel die zu montierende Schutzhülle des Reaktors auf mehrere Bauarbeiter. Dieser Vorfall wurde wochenlang vertuscht, das Gelände von Sicherheitskräften abgeschirmt. Von Sicherheitsmaßnahmen am Bau kann offensichtlich kaum die Rede sein. Da beruhigt es wenig, dass der belarussische Geheimdienst KDB Ende April die erfolgreiche Durchführung von Antiterrorübungen verkündete. Auch dass ausgerechnet die von zahlreichen Korruptionsfällen betroffene russische Atomagentur Ros­atom für den AKW-Bau verantwortlich ist, weckt wenig Vertrauen. Hatte doch Transparency International in einer Untersuchung ­festgestellt, dass es bei 40 Prozent aller Aufträge des Unternehmens zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Die heruntergestürzte Reaktorschutzhülle wurde schließlich ersetzt, doch beim Bahntransport wurde Ende Dezember 2016 auch die zweite Schutzhülle beschädigt.

»Wir denken, dass man auch diese zweite Schutzhülle austauschen sollte, da man ihre Sicherheit nicht garantieren kann«, kommentiert Tatyana Novikova von der belarussischen Anti-Atom-Bewegung den Vorfall. Bereits für den Vorabend des Tschernobyl-Marschs hatte sie eine Informationsveranstaltung zu den Gefahren der Atomkraft organisiert. Live aus seinem Exil in Kiew zugeschaltet war Professor Yury Bandazhevsky, der als erster Wissenschaftler in Belarus zu den Folgen des Tschernobyl-Unglücks forschte, von denen das Land am stärksten betroffen ist. Seine Kritik an der belarus­sischen Gesundheitspolitik brachte ihn von 1999 bis 2005 hinter Gitter. Offi­ziell wurde ihm vorgeworfen, er habe Bestechungsgelder von Eltern kranker Kinder angenommen, um diese in seine Forschungen am Institut in Gomel aufzunehmen, was er abstritt. Kritiker der Regierung und Amnesty Interna­tional sahen in ihm einen politischen Gefangenen, bis heute traut er sich aus Angst vor Repression nicht zurück nach Belarus. Seine Forschungen zeigen, dass es bei Jugendlichen im stark vom radioaktiven Niederschlag betroffenen Südosten von Belarus zu besorgniserregenden Änderungen des Hormonsystems und einer größeren Anfälligkeit für Herzkrankheiten kommt.

Die Folgen des Tschernobyl-Unglücks im Hinterkopf engagieren sich die belarussischen Umweltschützer umso stärker gegen den Bau des AKW in Ostrowets. Novikova ist überzeugt davon, dass dieser jederzeit beenden werden kann: »Je früher man das AKW stoppt, desto besser. Denn vor der Inbetriebnahme gibt es auch noch keinen Atommüll. Wir haben noch circa drei Jahre Zeit, alles dafür zu unternehmen. Experten sagen auch sehr klar, dass das AKW wirtschaftlich keinen Sinn ergibt, nur hört die Regierung nicht auf sie.« So brauche Belarus die Energie des AKW nicht, es verhindere den Ausbau er­neuerbarer Energien. Prognosen der Regierung über eine Verdopplung des Energieverbrauchs im nächsten Jahrzehnt hält Novikova für maßlos übertrieben: »Das AKW soll 30 Prozent des gesamten Energiebedarfs von Belarus abdecken. Für den Fall, dass man das AKW zeitweise abschalten würde, müssten also sofort andere Energiequellen als Ersatz bereitstehen, um die gleiche Menge Strom zu produzieren. Dies ergibt energetisch und finanziell keinen Sinn.« Da der belarussische Staat die eigene Bevölkerung und die der betroffenen Nachbarländer vorab nicht konsultiert hat, hat er zudem internationale Verträge über den Bau und Betrieb von AKW, die Espoo Convention und die Aarhus Convention, verletzt.

Vor allem Litauen ist daher besorgt und fordert seit langem die Einrichtung einer internationalen Expertengruppe zur Kontrolle des AKW im Nachbarland. Denn Ostrowets liegt nur 50 Kilometer von der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt. Da sich die belarussische Regierung einer ­Kooperation bisher verweigert und sich hinter inhaltsleeren Erklärungen versteckt, verabschiedete das litauische Parlament im April einstimmig ein Gesetz, das den Import belarussischen Atomstroms untersagt – in der Hoffnung, dass sich die übrigen EU-Staaten dem anschließen. Auf internationalen Druck hofft auch Anastasiya Dorofeeva, die Vorsitzende der belarussischen Grünen, deren Parteibüro Ende März während der Sozialproteste von der Polizei gestürmt wurde. Dabei wurden zehn Personen festgenommen und zu Haftstrafen von zehn bis 15 Tagen verurteilt. »Die Frage des AKW in Ostrowets gehört auf die Agenda der EU, denn die Sicherheitsmängel stellen auch ein Risiko für die baltischen Staaten, Schweden und Polen dar. Die EU sollte die Kooperation von Belarus in dieser Frage zu einer Vorbedingung für weitere finanzielle und wirtschaftliche Hilfen machen. Denn nur diese Sprache versteht die belarussische Regierung«, so Dorofeeva.