Dienstag, 14.01.2025 / 22:24 Uhr

Israel: Geiselbefreiung oder Sieg gegen Hamas

Israel steht an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Die Regierung um Premierminister Benjamin Netanyahu hat nach monatelanger militärischer Offensive in Gaza ein neues Kapitel aufgeschlagen – und zahlt dafür einen hohen Preis. Ein Deal zur Freilassung von Geiseln scheint bevorzustehen, doch die damit einhergehenden politischen und sicherheitspolitischen Konsequenzen sind gravierend. Das Land befindet sich in einem moralischen Dilemma, in dem die Rettung von Leben mit der Aufgabe militärischer Ziele erkauft wird.

 

Zwischen Idealen und Realpolitik: Netanyahus Zwickmühle

 

Nach den verheerenden Ereignissen des 7. Oktobers hat Israel versprochen, die Hamas zu zerschlagen und die Sicherheit seiner Bürger wiederherzustellen. Doch dieser Krieg hat sich als zäher und verlustreicher erwiesen als erwartet. Nun steht die Regierung unter massivem Druck der Vereinigten Staaten, einen Geiselaustausch mit Hamas abzuschließen. Die Befreiung von etwa 50 Frauen, älteren Männern und verletzten Geiseln ist ein humanitärer Erfolg, doch der Preis dafür ist hoch: Der Deal bedeutet, dass Israel von der völligen Zerschlagung der Hamas abrücken muss.

Premierminister Netanyahu, der bislang jede Kompromissbereitschaft als Sicherheitsrisiko dargestellt hat, steht vor einem politischen Drahtseilakt. Seine bisherige Rhetorik vom "totalen Sieg" gegen Hamas ist nicht mehr haltbar. Stattdessen muss er nun den Weg des geringeren Übels einschlagen – zur Rettung von Geiseln, aber auch zur Beruhigung der amerikanischen Verbündeten.

Doch dieser Weg stößt auf heftigen Widerstand aus den Reihen der extremen Rechten in Netanyahus Koalition. Der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, hat in einem wütenden Tweet deutlich gemacht, dass er den Deal entschieden ablehnt. Er schrieb:

Der sich abzeichnende Deal ist schrecklich. Ich kenne ihre Details gut: Dazu gehört die Freilassung von Hunderten mörderischen Terroristen aus den Gefängnissen, die Rückkehr von Gaza-Bewohnern, darunter Tausende von Terroristen, in den Norden des Gazastreifens, der Rückzug der IDF aus der Netzer-Achse und die Wiederherstellung der Bedrohung für die Bewohner der Otaf – also damit werden die Kriegserfolge, die unsere Kämpfer im Gazastreifen bisher mit viel Blut errungen haben, effektiv zunichte gemacht.“

Ben-Gvir stellt den Deal als eine bewusste Entscheidung dar, die das Leben vieler israelischer Bürger gefährdet. Er behauptet weiter, dass die Regierung damit den Weg für künftige Angriffe und Entführungen ebne:

Es sei keine ‚schwere Entscheidung‘, die Entführten zurückzugeben. Dies ist eine bewusste Entscheidung auf Kosten des Lebens vieler anderer israelischer Bürger, die den Preis dieses Deals leider mit ihrem Leben bezahlen werden. Die Früchte dieser Deals haben wir bereits zuvor gesehen.“

Ben-Gvirs radikale Position offenbart eine zynische Haltung, die das Leben der Geiseln und der in Gaza kämpfenden Soldaten als Mittel zum Zweck sieht. Anstatt Lösungen zur Rettung von Menschenleben zu unterstützen, opfert er diese Menschen seinem rechtsextremen politischen Programm. Seine Ideologie fordert bedingungslosen Krieg gegen die Palästinenser, unabhängig von den menschlichen Kosten – sowohl für israelische Soldaten als auch für unschuldige Geiseln.

Diese Haltung ist gefährlich und moralisch fragwürdig. Sie ignoriert die Tatsache, dass jeder Tag ohne eine Einigung bedeutet, dass Geiseln in den Tunneln der Hamas sterben entweder durch israelische Bomben oder durch die Hände ihrer Entführer. Die kompromisslose Ablehnung eines Geiselaustauschs stellt keinen Schutz Israels dar, sondern bedeutet ein leichtfertiges Opfern von Menschenleben im Namen einer Ideologie, die sich weder um Diplomatie noch um Menschlichkeit schert.

In der Vergangenheit hat Ben-Gvir solche Deals blockiert, doch diesmal scheint der Druck auf Netanyahu zu groß. Dass die extremen Rechten mit ihrer Blockadepolitik scheitern, könnte ein Wendepunkt sein. Denn die israelische Öffentlichkeit sieht die Dringlichkeit, Geiseln zu retten – und wird nicht vergessen, wer in dieser Krise für ihre Rettung kämpfte und wer bereit war, sie zu opfern.
 

Der Druck der USA: Trumps Einfluss auf den Deal

 

Einen entscheidenden Anteil an dem bevorstehenden Abkommen hat der designierte US-Präsident Donald Trump. Bereits vor seiner offiziellen Amtseinführung übt Trump erheblichen Druck auf Netanyahu aus. Die Botschaft ist klar: Ein Geiselaustausch muss her – koste es, was es wolle. Für Trump steht dabei nicht nur Israels Sicherheit im Fokus. Seine Vision eines neuen Nahen Ostens, einschließlich eines Normalisierungsabkommens zwischen Israel und Saudi-Arabien, hat Priorität.

Der Deal wird von vielen als taktische Niederlage Israels interpretiert. Doch in Wirklichkeit verfolgt Trump ein größeres strategisches Ziel: Er will langfristige Stabilität in der Region schaffen. Für Netanyahu bedeutet das, sich zwischen kurzfristigen militärischen Erfolgen und langfristigen diplomatischen Zielen entscheiden zu müssen.
 

Hamas: Gewinner des Deals?

 

Kritiker des Deals befürchten, dass Hamas am meisten davon profitieren wird. Die Freilassung zahlreicher palästinensischer Gefangener könnte die Position der Terrororganisation in der palästinensischen Gesellschaft stärken. Zudem bleibt unklar, ob die zweite Phase des Deals – die Freilassung israelischer Soldaten und junger Männer – überhaupt zustande kommen wird. Viele Familien der Geiseln fürchten, dass ihre Angehörigen weiterhin als Faustpfand für Hamas-Führer dienen werden.

Ein weiteres Problem ist der militärische Rückzug Israels aus Teilen des Gazastreifens. Gebiete wie der Philadelphi-Korridor, die für Israels Sicherheit von zentraler Bedeutung waren, werden in der ersten Phase des Abkommens aufgegeben. Das könnte die Kontrolle der IDF über Gaza weiter einschränken und der Hamas Raum geben, um sich wieder zu bewaffnen und neu zu organisieren.
 

Moralische Verantwortung und militärische Realität

 

Doch bei aller Kritik darf man eines nicht vergessen: Israel hat die moralische Verpflichtung, seine Bürger zu retten. Die Bilder von trauernden Geiselangehörigen, die seit Monaten auf Nachrichten hoffen, haben das Land tief erschüttert. Der Tod von mindestens acht Geiseln während der Kämpfe zeigt, dass die Zeit drängt. Der Deal mag militärisch fragwürdig sein, doch moralisch ist er kaum zu verhindern.

Die israelische Armee (IDF) hat bislang keine klare militärische Lösung zur Rettung der Geiseln präsentieren können. Trotz massiver Angriffe auf Hamas-Stellungen bleiben die Entführer unauffindbar. Gleichzeitig sterben israelische Soldaten in Gaza – oft ohne ersichtlichen strategischen Gewinn. Die hohe Zahl an Verlusten zeigt die Grenzen der militärischen Optionen auf.

 

Die politischen Folgen für Netanyahu

 

Der Deal stellt auch eine enorme Belastung für Netanyahus politische Zukunft dar. Seine rechtsgerichteten Koalitionspartner, darunter Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, lehnen jeglichen Kompromiss mit Hamas ab. Dennoch drohen sie bislang nicht mit einem Austritt aus der Regierung. Netanyahu muss entscheiden, ob er an seiner aktuellen Koalition festhält oder den politischen Kurs wechselt.

Langfristig könnten die Entwicklungen im Nahen Osten eine Neuausrichtung der israelischen Politik erzwingen. Sollte die Trump-Regierung ein umfassendes Abkommen mit Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten vorantreiben, könnte Netanyahu gezwungen sein, sich vom rechten Lager zu distanzieren und eine breitere, gemäßigtere Koalition zu bilden. Auch sein laufender Korruptionsprozess könnte durch politische Veränderungen beeinflusst werden.

 

Ein schwerer, aber unvermeidbarer Preis

 

Israel steht vor einer bitteren Erkenntnis: Ein vollständiger Sieg über Hamas ist derzeit nicht erreichbar. Der Geiselaustausch mag wie eine Schwächung Israels erscheinen, doch angesichts der humanitären Dringlichkeit bleibt er die einzige Option. Es ist ein hoher Preis, den Israel zahlt – ein Preis, der jedoch unausweichlich ist.

Die Frage bleibt, ob Netanyahu und seine Regierung bereit sind, die Konsequenzen des Deals zu tragen. Wird es gelingen, langfristige Stabilität in der Region zu schaffen? Oder wird Hamas durch die Freilassung ihrer Gefangenen gestärkt? Eins ist sicher: Die Entscheidung für den Geiselaustausch wird Israels politische Landschaft verändern – und die Wunden des aktuellen Konflikts werden noch lange schmerzen.