Samstag, 27.11.2021 / 11:03 Uhr

Gründe für den Exodus aus Irakisch-Kurdistan

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Ohne Perspektive: Jugendliche in Irakisch-Kurdistan. Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Unter denen, die in den vergangenen Monaten versuchten, über Belarus in die EU zu gelangen, befinden sich überdurchschnittlich viele, nämlich über 8000 Menschen aus Irakisch-Kurdistan.

Es gibt viele Gründe, warum so viele, vor allem jüngere Kurden versuchen, nach Europa zu gelangen. In einem informativen Artikel für das Zenith-Magazin fasst Tomáš Kaválek einige zusammen:

Die demografische Zusammensetzung der KRI führt dazu, dass die Wirtschaft nicht in der Lage ist, die wachsende Zahl junger Abiturienten, Arbeiter und Akademiker zu absorbieren. Über 54 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei den 18- bis 34-Jährigen über 20 Prozent. Selbst diejenigen, die einen Arbeitsplatz finden, sind zunehmend frustriert über die niedrigen Löhne angesichts steigender Preise für Grundbedürfnisse und die fehlenden Aussichten auf berufliche Weiterentwicklung.

Der private Sektor beschäftigte 2018 nur schätzungsweise 12 Prozent der aktiven Arbeitskräfte (die anderen 21 Prozent sind Selbstständige, 21 Prozent sind Tagelöhner und 2 Prozent unbezahlte Familienarbeitskräfte). Im öffentlichen Sektor wiederum ist fast die Hälfte der Erwerbstätigen beschäftigt. Insgesamt sind erstaunliche 65 Prozent der Haushalte in Bezug auf ihr Einkommen vom Staat abhängig, entweder als Arbeitnehmer oder als Rentenempfänger. (...)

Steigende Preise, Einkommensunterschiede, fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten und mangelnde Aussichten auf sozioökonomische Mobilität: Diese Gründe sind sowohl in der Autonomen Region Kurdistan zu hören, wenn die Menschen über derzeitige Lage und ihre Zukunftsaussichten klagen und ihre Optionen abwägen, als auch bei denjenigen, die sich bereits entschieden haben, das Land zu verlassen. 2020 gaben bei einer Umfrage des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) 30 Prozent der befragten Jugendlichen an, darüber nachzudenken, außerhalb der Autonomen Region Kurdistan einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz suchen zu wollen.

»Ohne Wasta keine Pasta« – geflügelte Worte wie diese stehen sinnbildlich für die Hürden, die dem wirtschaftlichen Aufstieg junger Menschen frustrierend enge Grenzen setzen. Im Innern ist die Autonome Region Kurdistan in zwei klar abgegrenzte Einflussbereiche unterteilt. Im Westen wird sie von der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und damit von der Familie Barzani beherrscht, während im Osten die Patriotische Union Kurdistans (PUK) mit der Familie Talabani regiert. Die beiden Parteien waren 1994-97 in einen blutigen Bürgerkrieg verwickelt. (...)

Amnesty International berichtet, dass allein zwischen März 2020 und April 2021 über 100 Menschen, darunter Journalisten und Organisatoren von Protesten, willkürlich festgenommen wurden. Während die meisten von ihnen wieder auf freien Fuß kamen, blieben andere für längere Zeit in Haft, und einige wurden wegen verschiedener fragwürdiger Anschuldigungen wie Spionage, Verleumdung von Behörden durch Aktivitäten in sozialen Medien oder Gefährdung der nationalen Sicherheit verurteilt. Darüber hinaus ließen die Behörden immer wieder Medien vorübergehend schließen.

Schließlich befindet sich die Autonomieregion Kurdistan aufgrund regionaler Spannungen und Machtspiele, bei denen sowohl die KDP als auch die PUK ihre Position sorgfältig austarieren müssen, in einer Zwickmühle. Vor allem ist sie in den Wettbewerb zwischen den USA und dem Iran im Irak verwickelt.