Donnerstag, 18.02.2021 / 21:49 Uhr

"Die Revolution ist nicht besiegt"

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Demonstration gegen Assad, Mai 2011

Demonstration gegen Assad, Mai 2011

Bild:
Flickr, Syrian Freedom

Auf der Seite der Organisation Adopt a Revolution erinnert sich Abdallah al-Khateeb an die Anfänger der Proteste gegen das syrische Regime:

"Mit einer Gruppe von Jugendlichen, von denen ich heute der einzige Überlebende bin, saß ich in meinem kleinen Zimmer auf dem Dach unseres Hauses im ehemaligen Flüchtlingslager Jarmuk am Rande von Damaskus. Es war Mitte März 2011, die Revolutionen in Ägypten, Tunesien und Libyen waren in vollem Gange. Auch in Damaskus und Daraa hatte es Demonstrationen gegeben und wir diskutierten, wie wir damit umgehen sollten.

Da kam mein 60-jähriger Vater ins Zimmer und fragte uns mürrisch:

„Was macht ihr hier? Spielt ihr Revolution-Planen? Regimesturz? Glaubt ihr wirklich, dass das syrische Regime dem in Ägypten oder Tunesien gleicht? Dass ihr es mit ein paar Postern, Demonstrationen und Parolen stürzen werdet? Ihr seid dumm und habt keine Ahnung von der Brutalität des syrischen Regimes!“

Mit trauriger Stimme fuhr er fort zu erklären, wie Hafiz al-Assad, der Vater des jetzigen Präsidenten, das Massaker von Hama zu verantworten hatte, in dem in den Achtigzerjahren, als wir noch gar nicht geboren waren, Tausende Menschen getötet wurden.

„Dieses Regime wird eher das Land niederbrennen“

„Ich habe das zwar nicht mit meinen eigenen Augen gesehen, aber als ich meinen Wehrpflichtdienst leistete, hörte ich hunderte von Geschichten von der Elitegruppe, den sogenannten Verteidigungsbrigaden, die unter Kommando von Rifaat al-Assad standen und verantwortlich für das Massaker waren. Die Soldaten des Onkels des jetzigen Präsidenten erzählten stolz, wie sie Kinder im Leib ihrer Mütter töteten und Frauen bis zum Tod vergewaltigten“.

 

Er fuhr fort: „Erinnert euch an meine Worte. Dieses Regime wird eher das Land niederbrennen, als von der Macht abzulassen.“

Dann ging er und hinterließ uns in einer Spirale widersprüchlicher Vorstellungen davon, was er über das Regime und die Revolution gesagt hatte. Der Strom war ausgefallen und ich hatte Kerzen angezündet. „In zwei Monaten wird das Regime gestürzt sein“, war der Satz, mit dem ich die Stille durchbrach. So setzten wir unsere Diskussion über das fort, womit wir tatsächlich begonnen hatten: dem Planen der Revolution.

Mein Vater war mit seinem Standpunkt nicht allein in dieser Zeit. Seine Haltung war vielmehr eine deutliche Manifestation der Sichtweise einer ganzen Generation von Syrer*innen und palästinensischen Geflüchteten, die unter der Herrschaft von Assad, dem Vater, gelebt hatten.

Sie alle hatten Massaker, die die Assad-Familie nicht nur an Syrer*innen, sondern auch an Libanes*innen und Palästinenser*innen verübt hat, erlebt – eine Generation, die nicht genug Mut gehabt hatte, eine Revolution zu wagen, die den Syrer*innen ihr natürliches Recht einräumt, in einem demokratischen Land zu leben. Es hatte zwar in der Vergangenheit Forderungen nach Veränderung gegeben, aber aus vielen Gründen hatten sie sich leider nicht in eine Massenrevolution verwandelt.

Wir weinten mit den Menschen in Ägypten

Was uns angeht, so waren wir die glückliche Generation, die die Revolutionen, die in der Region ausbrachen, miterlebte. Wir haben die Parolen der Menschen, die in Tunesien nach dem Sturz des Regimes gerufen haben, gehört. Wir wurden Zeugen, wie sie mit ihren Sprechchören den Sieg errangen. Wir haben gesehen, wie in Ägypten der Tahrirplatz aus allen Nähten platzte. Und wir weinten mit ihnen, als Hosni Mubarak erklärte, dass er von der Macht ablassen würde. Da sagten wir zu uns selbst: Das können wir auch!

Deswegen haben wir uns mit aller Kraft an der syrischen Revolution beteiligt und alle Warnungen ignoriert, die wir von der Generation gehört hatten, die glaubte, dass das Regime immun sei gegen einen Zusammenbruch. Wir konzentrierten unsere Anstrengungen am Anfang auf die Gründung von lokalen revolutionären Koordinationskomitees. Diese waren die einzige Verbindung zwischen den Gebieten, die gegen das Regime aufbegehrten. Mit der Zeit verwandelten sie sich in ein Netzwerk mit mehr als 500 Komitees in ganz Syrien.

In den ersten Tagen der Revolution war es Aufgabe der Komitees, friedliche Demonstrationen gegen das Regime zu organisieren und Medienbüros zu gründen, die die Demonstrationen filmten und den internationalen Medien zeigten, was wirklich geschah. Auch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, die mit der Revolution zunahmen, gehörte dazu.

Ich erinnere mich noch gut an meine Angst, als ich meine erste Demonstration im Lager Jarmuk mit der Kamera meines Handys filmte. Aber als ich hörte, wie die Leute flüsternd zu sich sagten „Der filmt für das Koordinationskomitee“, erfüllte mich das mit so einer Freude über den Wert dessen, was ich da tat, dass ich meine Angst einfach ignorierte.

Ich war damals wie die meisten Syrer*innen überzeugt, dass das Regime aus Angst, die Situation noch weiter zu befeuern, keine übermäßige Gewalt gegen uns anwenden würde – zumal wir fast alles dokumentierten und es in den sozialen Medien veröffentlichten in der Annahme, dass es uns schützen und zur Verurteilung des Regimes führen würde.

„Verabschiede dich von deiner Mutter“

Aber die Reaktion des Regimes nicht nur im Umgang mit den Aktivist*innen, sondern auch mit ihren Familien und Nachbar*innen, einschließlich derer, die uns vor der Teilnahme an der Revolution gewarnt hatten, übertraf spätestens dann alle Vorstellungen, als das Regime begann, mit scharfer Munition die Demonstrationen zu zerstreuen.

Ich erinnere mich an das Lachen meines Freundes und Komplizen in der Revolution, Ahmad Kusa, als er zu mir meinte: „Nimm einen Helm mit und verabschiede dich von deiner Mutter, bevor du zur Demonstration kommst“. Wir verabschiedeten uns tatsächlich jedes Mal von unseren Lieben, wenn wir zu einer der friedlichen Demonstrationen gingen – aus Angst, nicht zu überleben. Das Glück, nicht von einem der scharfen Schüsse auf einer Demonstration getroffen zu werden, hieß außerdem noch lange nicht, auch das Glück zu haben, der Verhaftung zu entgehen.

Aufgrund der vielen Gefangenen wandelte das Regime Schulen in Gefängnisse um. Es unterschied nicht zwischen einem*einer Aktivist*in wie meinem Freund, dem Künstler und Regisseur Hassan Hassan, der zu Tode gefoltert wurde, und einer unpolitischen Person wie meinem Onkel.

Der Bruder meines Vaters wurde an einem Kontrollpunkt des Geheimdienstes in Damaskus festgenommen, weil er den gleichen Familiennamen trägt wie ich – und das, obwohl er wie Tausende andere Syrer*innen, Mitglied in der regierenden Baath-Partei war. Er wurde erst entlassen, nachdem er von der Intensität der Folter halb verrückt geworden war."

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