Montag, 22.06.2020 / 14:14 Uhr

In Moria auf Lesbos herrscht das Chaos

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Social Distancing ist nicht möglich, genügend Wasser gibt es auch nicht. Der Musiker Daniel Benyamin hat mich kürzlich über die Lage auf Lesbos interviewt:

 

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Daniel: Hallo Thomas, schön dass ich dich zu einem virtuellen Gespräch treffen kann.

Wie ich gehört habe, konnte sich Griechenland gut gegen das Coronavirus schützen, ist das wahr?

Thomas: Die Griechen haben es viel besser gemacht als alle erwartet haben. Sie haben immer noch unter der Krise 2012 zu leiden, sind ein extrem armes Land. Dann haben sie die verrückte Situation mit den Hotspots. Gerade eine Insel wie Lesvos mit 100.000 Einwohnern und 24.000 Flüchtlingen war null auf eine Krise wie Corona vorbereitet. Es gibt 6 Quarantäne-Betten auf der ganzen Insel. Hätte Corona ernsthaft zu geschlagen, wäre das ein Desaster geworden. 

Daniel: Wie habt ihr es geschafft das Virus aus dem Camp Moria fernzuhalten ?

Thomas: Wir sind jetzt in der Phase 2. Anfang März, als ich hier ankam, gab es überhaupt keine Vorbereitung. Niemand wusste irgendwas über das Virus. Diese Hotspots sind ein europäisches Problem und Europa ließ Zehntausende von Menschen in einer von sich aus schon unzumutbaren Lage 100% unvorbereitet in diese Krise sinken. 

Auf Seiten der internationalen Organisationen und der griechischen Administration war kaum etwas zu dem Schutz vor und dem Umgang mit dem Virus bekannt. Zwei Monate später ist Griechenland halbwegs zur Normalität zurückgekehrt. Das Virus kam zwar auch auf der Insel an. Die Leute sagen jedoch, dass ein großer Teil der Bemühungen, das Virus vom Camp fernzuhalten an den lokalen, griechischen Organisationen wie Stand By Me Lesvos liegt, die wir unterstützen.

D: Du arbeitest seit 30 Jahren in verschiedenen Flüchtlingscamps und hast bestimmt schon viele verherrende Situationen erlebt . Wie ist deine Sicht auf die Dinge im Camp Moria?

T: Zuallererst: dies ist kein Flüchtlingsscamp. Wäre es eins, dann wären die Umstände viel besser, Es ist ein sogenannter Hotspot, ursprünglich gebaut für 1.600 Soldaten und dann auf 3.000 Flüchtlinge umstrukturiert. Jetzt gibt es 20.000 Flüchtlinge hier ohne ausreichend Wasser, Strom und hygienische Versorgung. Ohne Gesundheitssystem, medizinische Behandlung oder psychologische Betreuung. Es gibt keine kaum Security, manche von ihnen warten schon 16 Monate bis 2 Jahre auf Asyl. Ein echtes Flüchtlingscamp muss Menschen, die um Asyl bitten all diese grundlegende Dinge garantieren. 

Social distancing ist ein Witz: wie Sardinen in einer Dose stehen hier 5.000 Leute pro Schlange 3 Mal am Tag für Essen an.

Dazu Essen und Unterkunft. Nichts davon ist hier gegeben. Das hier ist ein absolutes Chaos. Ich arbeite als Geschäftsführer von Wadi e.V. seit 1991 eigentlich hauptsächlich im Mittleren Osten und es bedeutet etwas, wenn ich sage, dass ich so etwas noch nie gesehen habe.

D: Durch den Verkauf meines Albums haben wir Stand by me Lesvos aktiv finanziell unterstützt. Was genau passiert mit dem Geld, wo wirkt eure Arbeit?

T: Normalerweise bietet unser e.V.  Bildung auf ganz unterschiedlichen Ebenen an – Alphabetisierung, Aufklärung im Frauenrecht, Selbsthilfe bei Gewalt , Schuldbildung für Mädchen und Frauen. Aber da es hier nichts in der Richtung gab, mussten wir uns auch um das Corona-Krisenmanagement kümmern. Die Flüchtlinge kamen zu uns und baten uns um Hilfe. Sie sagten: „Wir wissen, dass das sehr gefährlich für uns ist und haben keine Ahnung, wie wir damit umgehen sollen.“ So haben wir ihnen erstmal geholfen, das Moria Corona Awareness Team und die Moria White Helmets zu gründen. Haben ihnen Poster gedruckt,  Megafone besorgt und was sie sonst noch brauchen, um die Leute zu informieren. Wie man an einem Ort, wo die einfachsten Corona Regeln purer Zynismus sind, trotzdem versuchen kann, sich nicht anzustecken.

 

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Social distancing ist ein Witz: wie Sardinen in einer Dose stehen hier 5.000 Leute pro Schlange 3 Mal am Tag für Essen an. Wo kann man sich selbst isolieren, wenn man sich krank fühlt, wenn man mit 15 anderen in einem Zelt lebt? Bleibt zuhause! Wo ist mein Zuhause?

Diese Flüchtlinge wussten, dass kämpfen nichts bringt, wenn man nicht mal Wasser hat. 

Daher bauten wir Wasserstellen. Fragten uns: wie organisieren wir Müll? 

Viele denken Araber und Afghanen sind schmutzig, weil sie Bilder aus diesen Camps sehen, die völlig vermüllt sind. Dabei liegt es daran, dass es keine Müllabfuhr gibt und keine Struktur, Müll wegzuschaffen. Das haben wir so organisiert,  dass auch für die Inselbewohner klar wurde, dass die Flüchtlinge sich selbst helfen. 

40% der Campbewohner sind Minderjährige, die natürlich nicht alleine sondern mit ihren Eltern aus Afghanistan gekommen sind. Wir reden nicht über sie. Wir reden über 12-18 jährige, die kommen wirklich alleine und haben ein Problem. 

Jetzt starten wir andere Projekte, um das Missmanagement zu umgehen. In allen Aspekten herrscht Unorganisiertheit und das Problem ist nicht das Geld, sondern dass es keine Organisation des Lebensnotwendigen gibt. Große Organisationen sammeln Millionen und ändern damit kaum etwas, weil sie keine Organisation und Struktur in die Sache bringen. Die Flüchtlinge brauchen Hilfe dabei sich selbst zu organisieren und für sich selbst reden zu können. Das war uns sehr wichtig, sodass wir ihnen beibrachten, wie man sich selbst filmt, wie man sagt, was man braucht, Interviews für die BBC, Zeitungen etc. gibt. Plötzlich waren es keine Flüchtlinge mehr, sondern Ingenieure, Ärzte, Menschen mit einem Beruf und einer Meinung.

Dann waren Moskitos ein Problem, das wir zu bekämpfen halfen. Nur eines von vielen „kleineren“ Problemen die nebenher in so einer Situation zu einer großen Belastung heranwachsen können.

 

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Das Campmanagement verteilt Plastikflaschen mit Wasser und es gibt unglaublich viel Plastikmüll und  keinen Ort für den Müll, er landet einfach auf großen Haufen. So haben wir ein Projekt gestartet, wo man für 10 leere Plastikflaschen eine gekühlte Flasche Wasser bekommt. Das ist ein Projekt, das Kinder lieben. Sie sammeln Flaschen und bringen sie zurück. Jetzt planen wir eine neue Schule, Erste Hilfe Kurse, da es nachts keine Security und keine erste Hilfe gibt. 

Ein sehr großes Problem ist die Gewalt denen die Flüchtlinge ausgesetzt sind.

Gewalt bricht aus in überfordernden Notsituationen wie diese, Leute werden überfallen, mit Messern attackiert und müssen lernen, wie sie sich in diesem Fall selbst helfen können. Das ist eine enorme Herausforderung wenn man kaum einen Ort für Schutz hat, keine Tür die man verriegeln kann, kein Hilfe von außen auf die man hoffen darf.

Die Feuerwehr vor Ort zeigt ihnen wie sie Feuer bekämpfen können. Es ist uns wichtig, dass die Lokalen zusammen mit den Flüchtlingen die Probleme lösen und nicht mit internationalen Leuten von außerhalb. Es gibt ein Problem mit den Leuten von außerhalb, vor allem jetzt mit der Corona Krise. Sie kommen und sind potentielle Coronawirte. 

Wenn Kriminelle im Gefängnis besser behandelt werden als Flüchtlinge steckt ein System in einer tiefen Krise. 

Darüber hinaus sind wir eine griechische Organisation und helfen auch armen Griechen auf der Insel. Alte, Kranke, Romas, die auch sehr weit unten auf der sozialen Leiter sind versorgen wir mit dem Nötigsten. Die ganze Insel hat ein Problem und es ist uns wichtig zu sagen: es gibt keinen Unterschied, wir stecken alle zusammen in diesem Problem und das ist etwas, was die griechische Seite verstanden hat. Letzten Montag gab es eine große Strandsäuberungsaktion, wo alle gemeinsam den Strand für den Sommer vorbereitet haben. Auch Flüchtlinge haben mitgeholfen und Bilder von Flüchtlingen und Inselbewohnern gemeinsam sind sehr eindrucksvoll und wichtig.

D: Das stimmt! Zurück zur Politik, es ist ein Witz, dass Deutschland gerade einmal 50 Kinder aufgenommen hat. Die EU tut nichts, hält sich raus und lässt die Flüchtlinge vollkommen im Stich. Wie genau springt ihr mit Politik um?

T: Die Philosophin Hannah Arendt, die ich sehr bewundere, hat einmal gesagt: 

Wenn Kriminelle im Gefängnis besser behandelt werden als Flüchtlinge steckt ein System in einer tiefen Krise. 

Sie hat recht.

Es geht hierbei um Rechte. 

Ich als Flüchtling hier in Moria habe keine Security. Ich kann nachts vergewaltigt oder getötet werden, es gibt keine Polizei, ich warte Stunden auf Essen oder um auf eine Toilette zu gehen und ich lebe in einem Zelt. 

Wenn ich jemanden umbringe bin ich besser dran. Dann krieg ich dreimal was zu essen, ein Dach überm Kopf, einen Anwalt. Das ist die Realität. 

Mein einziges "Verbrechen" war von zuhause zu fliehen und Asyl zu suchen. 

Das Problem mit Corona ist: Alte und Kranke sind am meisten betroffen. Warum reden wir dann über Kinder? Das kommt noch aus Zeiten von vor der Corona Krise. Ich habe es schon immer kritisiert, Kinderbilder von 6 oder 7-jährigen zu veröffentlichen. Man kann als Hilfsorganisation kein Bild von einen 7-jährigen Kind veröffentlichen und sagen "wir müssen die Kinder von der Insel holen." 

 

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40% der Campbewohner sind Minderjährige, die natürlich nicht alleine sondern mit ihren Eltern aus Afghanistan gekommen sind. Wir reden nicht über sie. Wir reden über 12-18 jährige, die kommen wirklich alleine und haben ein Problem. 

Das sind traumatisierte, sexuell missbrauchte Jugendliche, die hier im Camp von der Mafia rekrutiert werden. In einem Ort mit 30.000 Leuten entstehen mafiöse Strukturen, die Minderjährige benutzen, die nicht verurteilt werden können. Als Gangmitglieder.

Deswegen müssen wir sie von der Insel holen. Nicht nur die 3-jährigen, mit denen NGOs werbeträchtige Bilder machen.

50 ist nichts. Ein Riesen Medienspektaktel für nichts.

Griechenland hat erst jetzt 2400 besonders gefährdete Menschen von der Insel aufs Festland geholt. Und Griechenland ist ein armes Land. Moria ist ein europäisches Problem und Griechenland hat mehr für Europa getan als die europäische Union. 50 ist ein Witz. Deutschland kann 200.000 Touristen aus der ganzen Welt zurückholen, schafft es aber nicht, ein paar Alte und Kranke aus Moria zu evakuieren?

D: Das ist bizarr und tut weh, ja. Lass uns noch über eure Ziele für die nächsten Monate reden. Wie sehen diese aus?

T: Große Lösungen müssen geschafft werden. Zum Beispiel hat diese Gegend der Insel an sich  nicht genug Wasser für alle die im Camp leben. D.h. es müssen auf lange Sicht auch auf der Insel außerhalb des Camps Wasserleitungen strukturiert und gelegt werden, damit 24 h fließend Wasser zur Verfügung steht.

D: Und für uns ein bisschen konkreter: außer Geld spenden, was können WIR unternehmen?

T: Deutsche Politiker erzählen in den Medien, dass Moria eine Schande sei. Sie schaffen es aber nicht mal, die Briefe die ihnen die Flüchtlinge aus Moria schreiben zu beantworten. Da kommt nichts von deutschen Politikern. Das Ganze ist eben keine Menschenrechtsverletzung, sondern ein politischer Skandal. Die Leute brauchen keinen Mitleid sondern ihre Forderungen müssen erfüllt werden.