Sonntag, 28.06.2020 / 10:42 Uhr

Es lohnt sich

Von
Amed Sherwan

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 »Warum ist eine Propaganda, die an den Hass appelliert, so ungleich erfolgreicher als irgendein Versuch, freundschaftliche Gefühle zu erwecken?«

Dieses Zitat von Russell steht am Anfang meines Buchs und das hat einen guten Grund. Denn ich war auch mal kurz davor, in die Falle zu tappen und mich dem Hass hinzugeben. Nach der Folter, der Inhaftierung, der Ächtung, der Flucht und den weiteren Attacken durch fanatischen Muslim*innen in Deutschland war ich von Hass förmlich besessen. Ich hatte panische Angst vor der Islamisierung, fand alle Gläubige scheiße und hatte krasse Gewaltphantasien.

Ich sah nur noch das Schlechte. Es ging so weit, dass ich in einer Situation, wo mein muslimischer Freund mich vor einem Angriff eines Muslimen beschütze, nur noch die Aktion des Angreifers sah und nicht meinen Freund. Deswegen verstehe ich, warum einige Ex-Muslim*innen, alle Muslim*innen pauschal verurteilen und sich mit Leuten zusammentun, die genauso denken. Gefährlich finde ich es trotzdem.

Keinen Kontakt mehr

Die meisten dieser Ex-Muslim*innen haben gar keinen Kontakt mehr zu Muslim*innen. Sie sprechen zu Menschen, die nie zum Islam konvertieren würden. Sie lassen sich von Leuten feiern, die den Islam sowieso scheiße finden. Und ich frage mich, was sie damit erreichen wollen? Mehr Hass in die Welt zu bringen? Manche Beiträge erinnern mich an meine Begegnung mit einer Islamkritikerin, die einen persönlichen Rachefeldzug führte. Sie hatte gar kein Interesse an mir und meinen Gedanken und sagte es auch ganz direkt: »Ich finde dich scheiße, aber deine Story ist geil!«

Ich kenne Ex-Muslim*innen, die wirklich heftige Sachen erlebt haben, aber trotzdem freundlich und offen geblieben sind. Und ich kenne Ex-Muslim*innen, die nur ein paar Enttäuschungen erlebt haben, und jetzt im Kampfmodus sind. Natürlich dürfen sie das. Aber es regt mich auf. Es regt mich auch auf, weil einige von denen gar keine Ahnung davon haben, was es heißt, in einem muslimisch geprägten Land zu leben. Es ist so leicht, sich von einer Sache abzugrenzen, die man gar nicht wirklich kennt.

Islam bleibt teil

Meine Eltern und Geschwister sind gläubig und mein geliebter Neffe wird vermutlich auch Muslim werden. Meine allerbesten und langjährigsten Freunde sind Muslime. Ich war in meiner Kindheit sehr gläubig. Ich habe die Moschee und unseren Imam geliebt. Der Islam wird immer ein Teil von mir bleiben. Im Schlechten, aber auch im Guten. Denn natürlich war nicht alles scheiße. Und genau deswegen heißt mein Buch, so wie es heißt.

Ich kenne schwule, lesbische und transgender Menschen, die von ihren muslimischen Eltern unterstützt werden, aber von Ex-Muslim*innen dafür angegriffen werden, dass sie weiter gläubig sind.

Ich will mich nicht mehr rächen. Ich versuche zu verstehen, warum meine Eltern und andere Muslim*innen mir so viel Schmerz zugefügt haben. Und ich will meine muslimischen Freund*innen bewegen. Nur ein kleines Stück. Ich weiß, dass ich die Welt nicht retten kann. Aber wenn ich nur einen Freund dazu bringen kann, seine Vorstellungen zu überdenken, dann ist es doch schon etwas wert.

Ich weiß, dass ich anders bin als meine Freund*innen. Ich war immer anders. Ich bin es gewohnt anzuecken. Ich bin einen Weg gegangen, den die meisten meiner muslimischen Freund*innen nie werden gehen können. Aber deswegen bin ich nicht besser als sie. Und deshalb werde ich sie nicht verurteilen. Und ich finde es unmöglich, wenn einige Ex-Muslim*innen alle Muslim*innen angreifen.

Kein Interesse an einem uralten Buch

Immer wieder lese ich in meinem Newsfeed Beiträge von Ex-Muslim*innen, in denen es um irgendwelche Aussagen im Koran geht. Was interessieren mich ein uraltes Buch und irgendein Scheiß, den sich Leute vor hunderten von Jahren ausgedacht haben. Ich will mich mit damit auseinandersetzen, was konkret passiert.

Ich bin Mitglied im Zentralrat der Ex-Muslime und anderen islamkritischen Gruppen, ich unterstütze die säkulare Flüchtlingshilfe und engagiere mich gerne gemeinsam mit anderen Islamkritiker*innen. Aber ich habe mich bewusst dagegen entschieden, eine Organisation zu vertreten. Denn ich kann mich mit einige Ansichten andere Ex-Muslim*innen nicht mehr identifizieren.

Ich kenne schwule, lesbische und transgender Menschen, die von ihren muslimischen Eltern unterstützt werden, aber von Ex-Muslim*innen dafür angegriffen werden, dass sie weiter gläubig sind. Merkt ihr die Einschläge eigentlich noch?

Und ja, es ist einfach zu hassen. Komplexität auszuhalten ist super anstrengend. Aber es lohnt sich.