Samstag, 14.03.2020 / 18:32 Uhr

Ende der Fahnenstange in Nahost

Von
Oliver M. Piecha

Die Regime in der Region fahren eine Niederlage nach der anderen ein und rücken dem Abgrund immer näher. Es wird ein entscheidendes Jahr im Nahen Osten.

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(Bild: Azaz, Quelle: Wikipedia)

Libanon, Irak, Syrien, Türkei, Iran, Saudi-Arabien – Corona-Pandemie, Staatspleiten & Ölpreisschock. Korrupte alte Männer mit schwankendem Gang am Rande des Abgrundes, immer bricht schon unter den Sohlen die Substanz weg. Die großen Führer von gestern rutschen als Desperados dem Ende der Fahnenstange entgegen. Unter ihnen ein Abgrund, hinter ihnen Flüchtlinge und Demonstranten, die den Mittelfinger emporrecken.

Die Konflikte im Nahen Osten eskalieren; es wird ein spannendes und dramatisches Jahr für die Region. Vielleicht kommen manche Umwälzungen doch schneller als erwartet. Dumme, kleine Viren, mit denen niemand gerechnet hat, könnten die Katalysatoren sein, und wenn nun noch der Ölpreis ins Bodenlose fällt… Viel spricht dafür, dass die Substanz des alten Nahen Ostens mittlerweile zu marode ist, um die abgewirtschafteten Führer und inkompetenten politischen Klassen noch eine weitere Dekade durchhalten zu lassen.

Die Führer sehen alt aus

Vor einem Jahr sah das noch anders aus. Der Krieg in Syrien schien nahezu eingefroren, und wer nicht die dünn aufgegossenen Analysen vom „Sieg“ Assads“ glauben mochte, konnte allerdings mit furchtbarer Stagnation und einem unendlichen Dahinsiechen der Region rechnen.

Im Libanon steht der Staatsbankrott in der Tür. Und im Iran rafft das Coronavirus hochsymbolisch Revolutionäre der Generation von 1979 dahin.

Dann kamen die Demonstrationen im Irak, im Iran, im Libanon, auch Ägypten und Algerien meldeten sich zwischendurch auch wieder. Und nun, im März 2020, ist in Idlib die große Flüchtlingskatastrophe gerade noch einmal abgewendet worden, die Europäer sind aus ihrer Trance kurz hochgeschreckt – Flüchtlinge? Wo? Wo? –, der Libanon ist bankrott, der Irak ohne Regierung, mit Qassem Soleimanis Tod Anfang des Jahres hat sich auch der letzte Rest Nimbus der Islamischen Republik Iran verflüchtigt, und bei Erdogan fragt man sich, wann er den einen entscheidenden Fahler zu viel macht. Und nun fluten die Saudis den Globus mit billigem Öl, und der Coronavirus mag nun Hassan Nasrallah, den Chef der Hisbollah, infiziert haben oder nicht – sie sehen plötzlich alle so alt und verletzlich aus.

Die Untergangsszenarien unterscheiden sich dabei je nach Herrschaftsmodell: Im Libanon oder im Irak bieten abgehalfterte politische Klassen ein fortwährendes Schmierenstück, in dem es nur noch um ihre beharrliche Weigerung geht, abzutreten. Im Irak ist gerade wieder eine Regierungsbildung gescheitert, und ob den Laden jemand bei dramatisch sinkenden Öleinnahmen übernehmen will, ist fraglich.

Im Libanon steht der Staatsbankrott in der Tür. Und im Iran rafft das Coronavirus hochsymbolisch Revolutionäre der Generation von 1979 dahin. Man hat es ungehindert gedeihen lassen, man brauchte jeden Wähler an den Urnen zur Parlamentswahl, und man mochte schon gar nicht die Pilgerschreine schließen. Wieder einmal Versagen und Zynismus auf der ganzen Linie. Da können die Revolutionsgarden nun auch dem Virus den Krieg erklären und die Pandemie martialisch mit Propaganda dekorieren, mit jedem verdienten Repräsentanten des Systems, der an der Infektion stirbt, beerdigt sich das System selbst. Und nun klagen sie, dass der Virus nur eine Verschwörung sein könne, weil er ja nur Amerikas Feinde treffe.

In der Falle

In der Türkei herrscht dagegen die Einmannshow. Sie heißt: Erdogan. Ihre Gegenwart und Zukunft: Erdogan. Die Perspektiven dieses Systems ohne Erdogan sind nicht längerfristiger als das Überleben von Coronaviren auf Türklinken. Das System Erdogan steht und fällt mit seiner Person, potentielle Konkurrenten, die ambitioniert und fähig waren, hat er geschasst und verprellt. Erdogan steht ganz alleine da.

Man mag sich nicht ausmalen, was alles auf seinen Schultern lastet, die Familie, der Anhang, die Fans und Wähler – ohne ihn säßen die einen am nächsten Tag im Knast oder im Exil und die anderen würden weggesäubert und arbeitslos. Daher auch die Relevanz von Putschgerüchten in der Türkei; Erdogans Herrschaft ist rein persönlich und das macht sie trotz allem Gepolter sehr fragil, er alleine muss das Alles am Laufen halten.

Die Angriffe auf die syrischen Kurden, das Drohen mit den Flüchtlingen, der Kauf der russischen Flugabwehrraketen und sein dubioses Verhältnis zu Islamisten, Erdogan hat es sich mit allen verdorben, mit seinen NATO-Partnern, zumal mit den USA, und mit der EU.

Über Idlib ist er nun auch noch mit seinem neuen Partner Putin aneinandergeraten, auf den er gleichzeitig angewiesen ist, und dem er doch auch militärisch etwas entgegenhalten musste. Ein extrem schwieriger und kräftezehrender Balanceakt, man muss sich nur den türkischen Präsidenten betrachten, wie Putin ihn zwei Minuten vor dem Audienzzimmer warten lässt, das russische Fernsehen ließ dazu eine eingeblendete Uhr laufen. Schließlich setzt sich Erdogan, müde sieht er aus, im Vordergrund steht der türkische Außenminister mit hängendem Kopf. So geht Demütigung.

Die Übereinkunft über Idlib, die sie schließlich getroffen haben, war so überraschend nicht, grob skizziert war sie hier schon Mitte Februar vorausgesagt. Das türkisch kontrollierte Gebiet ist weiter zusammengestutzt worden, die Stadt Idlib selbst bleibt unangetastet, die beiden strategischen Straßenverbindungen M4 und M3 werden geöffnet und gemeinsam von Russen und Türken kontrolliert.

Wie lange diese Vereinbarung Bestand haben wird ist die Frage, momentan und in nächster Zeit dürften aber beide Seiten ein starkes Interesse daran haben. Das gilt im Übrigen auch für die Europäer, hier ist nun tatsächlich einmal das Wort von der Realpolitik am Platz. Mag sich Erdogan mit einem Geldsegen und Versprechungen aus Europa auch innenpolitisch aufplustern können, er hat immerhin Assads Soldaten aufgehalten, und das Finale der Flüchtlingskatastrophe verhindert.

Die „Sicherheitszone“, der deutschen Bundeskanzlerin hat sich dagegen erwartungsgemäß in Luft aufgelöst. Bei einem Krisentreffen der EU-Außenminister wurde sie nicht einmal mehr erwähnt. Stattdessen kam das übliche inhaltsleere Gewäsch:

„Der Rat fordert eine dringende Deeskalation des Konflikts in Syrien, um ein Abgleiten in die internationale militärische Konfrontation zu verhindern und weiteres Leid zu verhindern. Der Rat bedauert den Verlust von Menschenleben. Der Rat erkennt auch die schwierige Situation an, mit der die Türkei aufgrund der Offensive in Idlib und ihrer Folgen konfrontiert ist.“

Amen. Die EU ist außenpolitisch nicht mehr handlungsfähig und auf Erdogans Panzer in Idlib und auf seine Grenzposten angewiesen. Erdogan ist wiederum ökonomisch auf die Europäer angewiesen. Die Währung, in der das verhandelt wird, sind Flüchtlinge.

Erdogan saß und sitzt in Idlib in der Falle, sein Militär schenkt den Islamisten Panzerfahrzeuge, um die Russen muss er vorsichtig herumbomben, nur syrisches und schiitisches Kanonenfutter darf man ungestraft wegsprengen. Zu hohe türkische Verluste kann er sich nicht leisten, und ein Flüchtlingsexodus über die türkische Grenze würde ihn wohl selbst den Kopf kosten. Für Erdogan war Syrienpolitik immer eine Verlängerung seiner Innenpolitik. Er hat sich in Idlib gerade noch einmal gerettet, aber für wie lange? Sein Ende wird ein jähes sein.

Ein Land auf Abbruch

Die klassische arabische Führerdiktatur Assads ist nachhaltiger aufgebaut als die neoosmanische Türkei Erdogans; Baschar Al-Assad steht auf einer ganz alleine auf ihn ausgerichteten Pyramide, und die ist der gesamte Staat. Wenn Assad fällt, stürzt alles ein, deswegen darf er nicht fallen. Sein volljähriger Sohn darf mittlerweile schon mal als Nachwuchsführer posieren– beim Besuch seiner alten Schule, mit strammstehendem Rektor. So soll sie also aussehen, die glorreiche fernere Zukunft von Syrien.

Die Frage ist nur, wer bis dahin die Betriebskosten bezahlt. Denn das ist ja die ganze Wahrheit hinter diesem fortwährenden Gerede, dass Assad „militärisch“ den Krieg gewonnen habe: Assad hat überhaupt nichts gewonnen, und militärisch schon mal gar nicht, dafür hat er kein Geld mehr. Assad hat den Krieg bisher überlebt. Das ist aber etwas grundsätzlich anderes als Siegen. Assads Armee ist militärisch eine Nullnummer – das hat die türkische Armee mit ihrem Drohnenkrieg ein paar Tage lang exemplarisch vorgeführt.

Zugleich gärt es fortwährend in seinem Herrschaftsbereich, dort wo er die Bevölkerung nicht ganz vertreiben konnte wie im Süden rund um Daara häufen sich Demonstrationen und Angriffe auf Checkpoints.

Der Krieg in Syrien soll vorbei sein? Mit der Realität hat diese Behauptung  nichts zu tun.

Gleichzeitig warten seine Anhänger auf ihren Bonus. Der mag mager ausfallen, aber er muss in irgendeiner Form gezahlt werden. So funktioniert das System. Doch Assads Reich ist ökonomisch gesehen nicht mehr von dieser Welt. Seine plündernden Eliteeinheiten haben bei ihrem Vormarsch in der Provinz Idlib Kochtöpfe und Plastikstühle zusammengerafft. Mehr ist da nicht mehr zu holen. In den letzten Jahren war Kupfer immer wieder der Hauptausfuhrartikel Syriens – Syrien fördert aber gar kein Kupfer. Es sind die herausgerissen Leitungsdrähte, die seine Milizen aus den Wänden der Häuser reißen. Assads Syrien ist ein Land auf Abbruch.

Assad muss daher den Krieg am Laufen halten, er hat seinen Leuten überhaupt nichts mehr zu bieten außer der Hoffnung auf später. Vermutlich wird er sich nun, wenn die Russen tatsächlich Ruhe in Idlib haben wollen, auf Nadelstiche gegen die Amerikaner im kurdischen Gebiet kaprizieren.

Der Krieg in Syrien soll vorbei sein? Mit der Realität hat diese Behauptung  nichts zu tun. Einer der klarsten Beobachter des Konfliktes, Hassan Hassan, hat im Guardian darauf verwiesen, dass ein scheinbarer Sieg in Idlib nur die perfekte Voraussetzung für einen frischen islamistischen Aufstand gegen das Regime abgeben würde.

Es ist einfach nicht zu machen, mit Assad wird Syrien nie zum Frieden kommen und Assads ist ökonomisch fertig. Der wirtschaftliche und finanzielle Zusammenbruch des Libanon ist für ihn verheerend. Die syrische Wirtschaft ist symbiotisch mit der libanesischen verschmolzen. Über den Libanon wurden die Gelder für Syrien transferiert und gewaschen, über den Libanon wird der Import abgewickelt, ob für das Angebot des kleinen Händlers oder das Geschäft des der Assad-Tycoone. Assads Syrien ist ein ökonomisch totes Armenhaus. Um es mit einer berühmten Phrase von Bill Clinton zu sagen: It‘ the econiomy, stupid.

Also wird ein ökonomisches Phantasiereich beschworen, man will schnell Fabriken bauen und Importe durch Eigenfabrikation ersetzen ersetzten Transaktionen sollen nun über Banken und syrische Pfund abgewickelt werden müssen, und großzügig bietet die Staatsbank für imaginäre Inverstoren etwas bessere Tauschkonditionen als den offiziellen Wechselkurs. Ob die Russen sich auch daran halten werden, die die syrische Phosphatindustrie übernommen haben? Auch ein paar Schwarzwechsler hat man verhaftet – das ist alles hoffnungslos, als ob die Syrer nicht seit Jahrzehnten an solche staatssozialistischen Maßnahmen gewohnt wären.

Die Versorgung Syriens hat immer nur durch die über den Libanon vermittelte Schattenwirtschaft funktioniert, und auf dem Korruptionsindex von Transparency International steht Syrien auf dem vorletzten Platz von 180 Ländern (vor dem Schlusslicht Somalia).

Eine Niederlage nach der anderen

Und nun sackt der Ölpreis zusammen und mit ihm die Einnahmen der Region. Der saudische Staat unter der Führung des Kronprinzen Mohammed bin Salman hat in den letzten Jahren eine Niederlage nach der anderen einstecken müssen, man hat die iranischen Raketenangriffe auf eine der sensibelsten Stellen der saudischen Ölforderung hingenommen, als klar wurde, das aus Amerika keine substantielle Unterstützung kommt; aus dem Krieg in Syrien haben sich die Saudis schon vor Jahren zurückgezogen, und die Intervention im Jemen, einst gestartet als Prestigeobjekt bin Salmans, wird zu einem immer größeren Desaster.

Die Emiratis haben sich jüngst aus dem Konflikt mit ihren Truppen zurückgezogen, seitdem wird es für die Saudis immer schlimmer. Die Houthis bedrohen nun schon Marib, Stadt und die Region sind das letzte große Machtzentrum, dass die mit den Saudis verbündeten jemenitische Regierung im Nordjemen hält, die dortigen Stämme sind den Saudis traditionell verbunden. Dank der iranischen Waffenlieferungen und Technologietransfers verfügen die Houthis mittlerweile über Flugabwehrraketen, mit denen sie die saudische Luftwaffe bedrohen können. Nach dem ersten Abschuss eines Tornados Mitte Februar war klar, dass die einzige Waffengattung, die die Saudis wirklich gegen die Houthis in die Waagschale werfen konnten, dramatisch entwertet worden war.

Gerade hat Bin Salman wieder Schlagzeilen gemacht, als der vormalige Kronprinz und zwei weitere enge Verwandte aus dieser Linie verhaftet wurden, weil sie offenbar versucht hatten, bin Salman zu entmachten und von der Thronfolge auszuschließen. Und nun hat „MBS“ also auch noch einen globalen Ölkrieg angefangen.

Der Konflikt um die Förderquoten zielt auf Russland und auf die Ölschieferproduzenten in den USA, doch die Erschütterungen, die damit quasi nebenbei im Nahen Osten ausgelöst werden dürften, sind in möglichen Auswirkungen noch gar nicht absehbar. Was ist mit den Budgets des Iran oder des Irak? Selbst die saudischen Finanzen sind labil und bin Salman rutscht auf seiner Fahnenstange auch immer weiter vor. Da sind noch sehr viele Brüder und Onkel, die endlich einmal genug haben könnten von dem schnittigen Kronprinz, der ein Desaster nach dem anderen produziert.

Und so geht es munter weiter den Untergängen entgegen, immer weiter über den Abgrund hinaus. Dann kommt der freie Fall. Es wird ein entscheidendes Jahr im Nahen Osten.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch