Mittwoch, 19.12.2018 / 12:55 Uhr

Türkische Jugend begehrt auf

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Glaubt man einer Umfrage, die jüngst unter Jugendlichen in der Türkei durchgeführt wurde, dann hat Erdogans Politik einer weiteren Islamisierung des Landes nicht besonders große Chancen, ja scheint auf längere Sicht zum Schietern verurteilt. Die Umfrage spricht von einem Trend, der auch in anderen Ländern der Region zu beobachten ist:

"Befragt wurden 5793 Türken über 15 Jahre in 36 von 81 Provinzen, in Metropolen wie in Dörfern. Danach sind die 15- bis 29-Jährigen im Alltag heute weniger konservativ als vor zehn Jahren. Es halten sich weniger junge Leute an die islamischen Gebetsregeln, und im Ramadan wird weniger gefastet. Mädchen und junge Frauen tragen seltener Kopftuch. 58 Prozent verhüllen ihr Haupt nie, vor zehn Jahren waren es 50 Prozent. Die strenge Form des Kopftuchs, in der Türkei Türban genannt, wobei kein Haar zu sehen ist, tragen nur noch sechs Prozent der 15- bis 29-Jährigen, vor zehn Jahren waren es 16 Prozent. Und die allermeisten wollen sich ihren Lebenspartner selbst aussuchen, statt sich von der Familie verkuppeln zu lassen. (...)

Irgendwann werde eine neue Generation übernehmen. "Sie ist beweglich, gebildet, global orientiert, ideologiefrei.

"Die Türkei ist wie ein soziales Labor für die Folgen von Urbanisierung und Globalisierung", sagt Bekir Ağırdır, der Chef von Konda, in seinem Büro in einem Istanbuler Geschäftsbezirk, in dem Wolkenkratzer die Siebzigerjahrebauten verdrängen. Ağırdır hat den Wandel selbst erlebt, er wuchs in einer westanatolischen Kleinstadt auf. "Da waren alle Sunniten, alle Türken, und wenn jemand von Sünde sprach, verstanden alle dasselbe darunter." Ağırdır wurde 1956 geboren. "Damals lebten 75 Prozent der Türken auf dem Land." Heute sind es nur noch sieben Prozent. "In keinem anderen Land gab es zuletzt eine solche Binnenmigration." Die Folge der rasanten Verstädterung: "Ein ziemlich krasser Kulturwandel."

So war es noch vor einer Weile auch in Städten undenkbar, dass sich Paare auf der Straße küssen. "Jetzt machen das auch Mädchen mit Kopftuch." Auf den Dörfern war jede öffentliche Berührung "Sünde". Dagegen werden politische Gesinnungen in der Öffentlichkeit nun versteckt, "weil wenig Vertrauen in den Rechtsstaat besteht". So bewege man sich auf der Straße eher mit Ängsten, in den eigenen vier Wänden werden solche Gefühle abgelegt. "Die Wohnung ist eine Sicherheitszone."

Nun wollte Erdoğan doch eine konservative Generation erziehen? Ağırdır lächelt, nicht jeder Traum gehe in Erfüllung, sagt er. Auf die Frage, welchem Land die Türkei ähnlich sein sollte, nennen 60 Prozent ein europäisches. "Die Türkei wird niemals Iran werden", sagt der Forscher. Leider aber gebe es auch in Europa zunehmend negative Vorbilder, Populisten regierten auch andernorts in der Welt. "Wir leben in einer globalen Zwischeneiszeit, was die Werte der Demokratie betrifft. (...)

Irgendwann, so sagt Ağırdır, werde aber eine neue Generation übernehmen. "Sie ist beweglich, gebildet, global orientiert, ideologiefrei. In zehn Jahren wird sie dieses Land verwalten."