Mittwoch, 28.11.2018 / 11:14 Uhr

'Demokratie. So etwas gab es unter Saddam Hussein nicht'

Von
Oliver M. Piecha

Ein Interview mit Salam Omer, dem Chefredakteur des irakischen Online-Newsportals Kirkuk Now, das sich der Berichterstattung über die sogenannten „umstrittenen Gebiete“ verschrieben hat. Diese „disputed territories“ umfassen einen Gebietsstreifen von der nordirakischen Stadt Mosul bis zur Erdölstadt Kirkuk. In der Zone leben Minderheiten, hier war ISIS aktiv, und die politische Zugehörigkeit ist ebenso umstritten, wie oft die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse vor Ort. Der Kernbereich der disputed territories wurde bis Oktober 2017 von kurdischen Sicherheitskräften kontrolliert, war aber offiziell nie Teil der kurdischen Autonomiezone (KRG). Im Anschluss an das kurdische Unabhängigkeitsreferendum übernahm die Zentralregierung in Bagdad gewaltsam die Kontrolle über diese Region. Sie zeichnet sich durch eine schlechte Sicherheitslage, viele intern Vertriebene und die Anwesenheit diverser Milizen und bewaffneter Gruppen aus.

 

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(Bild: Salam Omer in den Redaktionsräumen von Kirkuk Now)

 

Oliver M. Piecha (OP): Worum genau geht es bei Kirkuk Now?

Salam Omer (SO): Wir wollen ein Beispiel dafür geben, dass seriöse Medien auch in einer schwierigen Umgebung wie den disputed territories funktionieren können, wo Menschen ganz unterschiedliche ethnische, religiöse oder kulturelle Hintergründe haben. Und wir wollen zeigen, dass Medien auch ein Werkzeug sein können, um auf Dialog und Verständigung hinzuarbeiten. Die irakischen Medien sind untereinander scharf abgegrenzt, und repräsentieren in der Regel Einzelinteressen. Sie sind zudem nicht besonders professionell und voller Fake news. Wir bringen verlässliche, faktenbasierte Nachrichten in den Sprachen der Menschen vor Ort – arabisch, türkisch, kurdisch und ausgewählte Artikel auch auf Englisch. So versorgen wir Menschen aus verschiedenen Gemeinschaften parallel mit denselben Nachrichten in Gegenden, die von scharfen Meinungsgegensätzen geprägt sind.

OP: Wie wird dieser Grundgedanke in einer Gesellschaft aufgenommen, die sonst fast nur Parteipresse kennt?

SO: Im Irak sind Journalisten und Medien ein Teil des Problems. Sie können ihre Rolle nicht wirklich ausfüllen. Wir wollten anders sein, uns anders verhalten. Auch Politiker haben das durchaus verstanden und anerkannt. Wir sind keine große Institution, aber unsere Erfahrung ist, dass die Menschen vor allem in schwierigen Situationen merken, dass korrekte Informationen Ihnen weiterhelfen, also wenn es aufgeheizte Debatten gibt, Zusammenstöße oder politische Sackgassen wie etwa beim Referendum über die kurdische Unabhängigkeit. Solche Informationen finden sie eben im Zweifel nicht in Medien, die von Politikern bezahlt werden.

Worum geht es im Irak? Im Zentrum steht die Frage der Identität. Genauer unser Identitätsdilemma; sind wir kurdisch oder arabisch, sind wir schiitisch oder sunnitisch, muslimisch oder irgendwie gemischt?

Insofern, ja: Wir merken, dass unsere Idee ankommt. Wir reden im Lauf eines Tages mit allen Seiten eines Konfliktes. Unser Anspruch ist, jedem Beteiligten denselben Raum zu geben, ob er nun Turkmene ist oder Kurde und alle Meinungen zu spiegeln; beispielsweise wenn es um die Besetzung von Gouverneursposten geht, in Kirkuk oder in der Ninive-Provinz, dann ist es hilfreich, wenn man bei solchen Fragen zum Schluss nicht 20 oder 25 verschiedene Richtungsmedien im Blick behalten muss, die immer nur einen Teil der Vorgänge  abbilden. Mein Eindruck ist, dass die Menschen zunehmend verstehen, dass unser Konzept ein sehr sinnvolles Medienmodell sein könnte.

OP: Inwiefern sind die umstrittenen Gebiete ein Beispiel für die grundlegenden strukturellen Probleme des Irak?

SO: Worum geht es im Irak? Im Zentrum steht die Frage der Identität. Genauer unser Identitätsdilemma; sind wir kurdisch oder arabisch, sind wir schiitisch oder sunnitisch, muslimisch oder irgendwie gemischt? Immer wenn eine Gruppe dominiert, fürchten die anderen um ihre Identität. Das betrifft sowohl die Situation in Bagdad, wie in den disputed territories. Die Situation dort hat auch immer damit zu tun, wer in Bagdad regiert. Und ob man sich auf der Ebene der Zentralregierung eher voneinander abgrenzt, oder ob man zusammenarbeitet; wenn es in Bagdad Probleme gibt, werden die disputed territories als Waffe benutzt. Man kann dort seine Macht demonstrieren, indem man Probleme verursacht. Ja, wenn man die Situation dort versteht, dann wird man auch ein Großteil der Probleme verstehen, die den Gesamtirak bestimmen.

OP: Ist der Irak ein Failed state? Hat er eine Zukunft?

SO: Die meisten irakischen Araber beziehen sich positiv auf den Irak – einen Irak gab es immer, es war immer ein mächtiger Staat, so in etwa. Für viele Kurden sieht das schon anders aus. Es gab von Anfang an, seit der Staatsgründung, kein gegenseitiges Verständnis und Übereinkommen über viele Angelegenheiten. Es gab keine Verständigung darüber, was genau es bedeuten könnte, unter dieser Flagge zu leben, was es heißen sollte, ein Iraker zu sein. Trotzdem, ich glaube nach wie vor, dass es sehr viele Iraker gibt, die sich als Iraker verstehen.

ISIS hat von den Spaltungen der irakischen Gesellschaft profitiert.

Und ich bin pragmatisch; wenn der Irak auseinanderfallen sollte, werden wir alle schwächer sein. Und schwach zu sein in so einer instabilen Weltgegend ist nicht angenehm. Kleiner zu sein, heißt weniger Ressourcen zur Verfügung zu haben, es ist einfach nicht pragmatisch. Es sollte aus meiner Sicht um die Idee einer Konföderation gehen; ein starker konföderaler Irak wäre für alle besser, als etwa drei einzelne schwache Staaten für Sunniten, Schiiten und Kurden.

 

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(Bild: Kampagne gegen Sklaverei)

 

OP: Besteht für ein solches Szenario eine reale Chance, oder entwickelt sich momentan alles eher negativ?

SO: Der Islamische Staat (ISIS) hat viel zerstört, und das gegenseitige Misstrauen geht sehr, sehr tief. Es geht auch nicht nur um die Kurden, die Sunniten fühlen sich ebenfalls marginalisiert. Und das ist eine Steilvorlage für den Erfolg der politischen Extremisten. ISIS hat von den Spaltungen der irakischen Gesellschaft profitiert. Die Sunniten müssen in den politischen Prozess integriert werden. Ich bin mir sicher, dreiviertel des Irakproblems wäre so gelöst, aber die Leute, die in Bagdad das Sagen haben, verstehen das nicht. So ist ihre Mentalität, sie haben keinerlei Empathie für die Lage der Sunniten. Die Sunniten haben einmal die Herrschaftselite im Irak gestellt, und jetzt fühlen sie sich stimm- und machtlos. Ihre Gebiete sind zerstört worden. Sie fühlen sich besiegt, sie sind zu Opfern gemacht worden. Das ist tatsächlich ein Problem, und damit muss man sich auseinandersetzen.

OP: Welche wichtigen Akteure bestimmen die Entwicklung in den umstrittenen Gebieten?

SO: Da ist einmal die irakische Zentralregierung mit all ihren verschiedenen Fraktionen: den Sicherheitskräften, den schiitischen Milizen, den verschiedenen Ministerien; dann die kurdische Autonomieregierung (KRG) mit ihrer internen Spaltung; die Interessen der Sicherheitsbehörden spielen eine große Rolle aber auch die Ölwirtschaft. Die Turkmenen haben vor allem im Bezug auf ihre Siedlungsgebiete um Kirkuk und Tel Afar ein eigenes Verständnis der Situation. Sie streben in Kirkuk eine unabhängige Provinz mit starker Verbindung nach Bagdad an. Sie wollen nicht zum kurdischen Gebiet gehören, das ist hier die sensitive Frage. Und es geht natürlich auch immer ums Öl, allerdings nicht mehr nur im Bezug auf Kirkuk, denn die gesamten disputed territories sind voller Ölquellen, wie wir nun wissen.

Die Turkmenen werden von den Türken unterstützt, Katar und Saudi-Arabien stehen wiederum hinter den sunnitischen Araber. Die Iraner verfolgen ihre eigenen Interessen.

Was die Akteure von Außen angeht: Die Turkmenen werden von den Türken unterstützt, Katar und Saudi-Arabien stehen wiederum hinter den sunnitischen Araber. Die Iraner verfolgen ihre eigenen Interessen. Die Vereinten Nationen haben nur eine schwache Position inne, sind aber durchaus präsent. Die USA spielen eine Rolle. Und ISIS ist immer noch ein zentraler Akteur in diesen Gebieten; sie können nach wie vor alles verderben. Sie haben ihre Rückzugsgebiete und sie können sich von dort aus weiterhin in der Region bewegen.

OP: Was sind die Interessen der USA, des Iran und der Türkei in den umstrittenen Gebieten?

SO: Wissen Sie, der türkische Botschafter soll gerade bei einem Besuch in Kirkuk in einer Moschee vor Turkmenen gesagt haben, dies sei das Land „unserer“ Vorfahren. Kirkuk Now konnte das nicht eindeutig verifizieren, aber so eine Äußerung gäbe jedenfalls die Meinung der türkischen Regierung wieder, die immer wieder betont, dass das ganze Gebiet hier ja vor allen einmal Teil des Osmanischen Reichs gewesen ist. Die ehemalige osmanische Provinz Mosul hat ja die Gegend bis Kirkuk und Sulaimaniyya umfasst. Die Türkei unterstützt die Forderung der Turkmenen, und die Kirkukfrage ist für die türkische Regierung eine rote Linie.

Was die USA unter Trump eigentlich wollen ist nicht ganz klar. Einerseits brauchen sie die vergleichsweise säkularen Kurden, um die Balance zwischen Schiiten und Sunniten zu halten, andererseits wollen sie den Kurden die disputed territories auch nicht überlassen.

Für den Iran wiederum geht es um etwas ganz anderes, hier träumt man vom Zugangsweg nach Syrien. Diesem Traum sind die Iraner mittlerweile recht nah gekommen. Historisch gesehen sind das alles Gebiete, die hauptsächlich von Sunniten besiedelt sind, aber im Zuge der Kämpfe der letzten Jahre und nicht zuletzt durch den Einsatz der schiitischen Milizen und die Einflußnahme auf die schiitische Regierung in Bagdad haben die Iraner ihren Einfluss massiv ausgeweitet. Auch die Ereignisse rund um das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Oktober 2017 sind maßgeblich von iranischer Seite gesteuert worden. Der Iran ist jetzt sehr aktiv hier. Die demographischen Verhältnisse zwischen Sunniten und Schiiten in wichtigen Orten nördlich von Bagdad sind schon geändert worden. Und die Iraner haben es geschafft, die turkmenischen Gemeinschaft zu spalten, indem sie speziell die schiitischen Turkmenen unterstützt haben. Es ist die klassische Strategie von Divide et impera.

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(Bild: Irakkarte mit "disputed territories")

 

Was die USA unter Trump eigentlich wollen ist nicht ganz klar. Einerseits brauchen sie die vergleichsweise säkularen Kurden, um die Balance zwischen Schiiten und Sunniten zu halten, andererseits wollen sie den Kurden die disputed territories auch nicht überlassen, zumal die KRG der Türkei sehr nahe steht. Die offizielle amerikanische Position verweist auf die irakische Verfassung, der man folgen sollte, um die Probleme zu lösen.

OP: Wie könnte denn eine Lösung für die Disputed territories aussehen?

SO: Alle haben ihre eigene Sicht der Dinge, ob Kurden, Turkmenen, oder Araber. Man hört sich untereinander nicht zu. Erst einmal müssen alle wieder miteinander reden. Und schließlich sollten wir tatsächlich auf die Verfassung zurückgreifen, dort ist ein bestimmtes Vorgehen festgelegt. Solche Aussagen jedenfalls wie etwa, dass Kirkuk immer zum Irak gehört habe, sind für normale Leute mittlerweile völlig sinnlos geworden. Was bedeutet das denn? Für die Bürger dieses Staates geht es um Fragen wie die Versorgung mit Grundbedürfnissen, es geht um Sicherheit, die Menschen haben mittlerweile andere Prioritäten als solche ideologischen Auseinandersetzungen.

Seit 2014, seit dem Auftauchen von ISIS, waren diese Gebiete unter kurdischer Kontrolle. Aber das hat auch nur gezeigt, dass von kurdischer Seite keine Idee, keine Vision gegeben hat, wie man mit einem solchen multiethnischen Gebiet wirklich umgehen sollte. Und jetzt ist die irakische Zentralregierung zurück in diesen Gegenden, und es ist wieder dasselbe Problem, auch von dieser Seite hat man keine Idee, wie man an die Probleme hier herangehen könnte. Das einzige was sie nun sagen: Diese Gebiete waren immer Teil des Irak. Aber was bedeutet das? Und vorher hieß es, diese Gebiete waren immer Teil Kurdistans. Ja und?

Wenn wir also über den Irak sprechen, über welchen Teil des Iraks sprechen wir dann jeweils?

Ich halte den Weg für gut, wie er in der Verfassung per Artikel 140 vorgegeben ist. Die Verfassung sieht drei Schritte vor, die aufeinander folgen sollen: Zuerst muss die Situation befriedet und normalisiert werden, dann geht es um Entschädigungen und die Registrierung der Bevölkerung, schließlich um eine Abstimmung, ob die Bevölkerung zu Kurdistan oder Bagdad gehören möchte. Normalisierung im Sinne der Verfassung bedeutet, dass etwa die Bevölkerungsteile, die von der Baaath-Partei unter Saddam Hussein rund um Kirkuk angesiedelt worden sind, zurückgehen sollen. Gleichzeitig soll die Vertreibung von Turkmenen und Kurden rückgängig gemacht werden. Es sind auch viele Menschen zurückgegangen, aber viele bleiben auch. Das ist eins der vertrackten Probleme, den Menschen zu sagen, ihr seid seit vielleicht 40 Jahren hier und nun geht bitte zurück. Die gesellschaftliche Zusammensetzung der siebziger Jahre wird man in Kirkuk nicht mehr wiederherstellen können. Dasselbe gilt auch, wenn wir über die Ninive-Provinz nach dem Sieg über ISIS reden und die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Gewebes dort.

OP: Wie sieht es mit der Sicherheitslage in den umstrittenen Gebieten aus? Man hört immer wieder, nun sei der Kampf gegen ISIS ja gewonnen, dann könnten die Vertriebenen und Flüchtlinge also zurückkehren.

SO: Wenn man von außen, etwa von Europa aus, auf den Irak blickt, dann geht man normalerweise davon aus, dass der Irak eine Einheit darstellt, wie es etwa bei Deutschland oder Frankreich der Fall ist. Der Irak sei eben der Irak. Aber im Irak selbst sieht das total anders aus. Wir sind hier beispielsweise in Sulaymaniyya, aber keine 2 Stunden Autofahrt von hier entfernt würden wir Orte finden, an denen wir definitiv so nicht zusammensitzen könnten, wie wir es gerade tun. Wenn wir also über den Irak sprechen, über welchen Teil des Iraks sprechen wir dann jeweils? Wenn man sagt, der Irak sei sicher, dann trifft das schlichtweg nicht zu. Übrigens genausowenig, als wenn ich sagen würde, der Irak ist unsicher. Solche generalisierenden Beschreibungen treffen nicht die Realität dieses Landes.

 

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(Bild: Homepage von Kirkuk Now)

 

Man muss immer genau hinschauen: Von welchen Problemen, von welchem Gebiet reden wir gerade? Ich kann mich vielleicht in Bagdad frei bewegen, ich kann in den Basar dort gehen, und im Café sitzen. In Mosul, oder südlich von Kirkuk, oder in der Anbar-Provinz sieht die Sache schon ganz anders aus. Anbar und das kurdische Sulaymaniyya sind wie zwei verschiedene Welten. Und diese gravierenden Unterschiede in einem Land verstehen Menschen aus Europa in der Regel nicht.

OP: Was ist eigentlich mit den Minderheiten – haben sie hier überhaupt eine Zukunft?

SO: Ein guter Freund hat mir erst gestern gesagt: Jesiden gibt es nicht mehr. Sicher, es gibt einige Jesiden in ihrem Siedlungsgebiet in Shingal, aus dem sie von ISIS vertrieben wurden, es gibt einige in der Ninive-Ebene, es gibt Jesiden in Flüchtlingslagern, es gibt Jesiden in Europa, aber als lebendige Gemeinschaft existieren sie nicht mehr. Das ist vorbei. Für eine größere Gemeinschaft wie die Kurden hat es immerhin auch in der Vergangenheit immer die Möglichkeit gegeben sich zu verteidigen. Auch die Angriffe und Menschenrechtsverletzungen gegen sie sind dokumentiert worden. Man konnte in den disputed territories genau sagen, hier ist arabisiert worden, oder hier hat ein Genozid stattgefunden. Für die Jesiden oder andere kleine Minderheiten sehe ich nicht wirklich so eine Möglichkeit, sich zu behaupten.

Es geht um Versöhnung, und das ist möglicherweise eine der schwierigsten Aufgaben der Menschheit seit dem Zweiten Weltkrieg.

Ich glaube weltweit wird nicht wirklich verstanden, auch nicht von Politikern oder Akademikern, wie erfolgreich der Islamische Staat bei der Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts gewesen ist. Man sieht den Sieg über ISIS als Erfolg an, auf den man nun aufbauen kann. Aber so einfach ist das nicht. Das Problem sind nicht die zerstören Häuser. Man begreift einfach nicht die Dimension der Zerstörung, die ISIS im sozialen Gefüge angerichtet hat.

 

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(Bild: Kampagne zur Erinnerung an die Giftgasangriffe in Halabja)

 

OP: Was wäre zu tun?

SO: Es geht um Versöhnung, und das ist möglicherweise eine der schwierigsten Aufgaben der Menschheit seit dem Zweiten Weltkrieg, denn das wird die Zukunft der gesamten Region des Nahen Ostens bestimmen. Darum geht es. Man muss sich mit der Ungerechtigkeit auseinandersetzen. Die Regierung in Bagdad möchte einfach, daß die Leute zurückkehren. Aber wir stehen vor einem Berg von Problemen. Nur ein Beispiel: Denken Sie an von ISIS entführte jesidische Frauen und Mädchen, die möglicherweise Kinder von Kämpfern des Islamischen Staates bekommen haben. Wie definiert man den legalen Status dieser Kinder, sind das nun jesidische oder muslimische Kinder? Im irakischen Rechtssystem sind das ganz zentrale Fragen.

Auf einmal diskutieren die Leute wieder. Sie streiten sich, sie debattieren, es sind Iraker und sie sind nicht einer Meinung, aber immerhin gibt es jetzt solche Diskussionen

Es gibt überhaupt komplizierte rechtliche Fragen und Konsequenzen, die hier plötzlich eine Rolle spielen. Wie ist das etwa mit Waisenkindern? Sie gelten nach irakischem Recht automatisch als Muslime. Wogegen sich die Minderheiten sträuben. All diese Details betreffen die Zukunft. Sie werden mitentscheidend sein, ob Menschen hier bleiben wollen oder sich entscheiden werden, dieses Land besser zu verlassen. Man muss begreifen, wie umfassend die von ISIS angerichteten Zerstörungen sind. Es scheint so einfach auszusehen: ISIS ist nicht mehr da, dann können wir ja weitermachen. Aber wie können wir weiter machen? Das beschäftigt mich sehr.

OP: Manchmal sagen Iraker: „Wäre Saddam Hussein doch nur an der Macht geblieben, Demokratie funktioniert hier nicht.“ Die Vergangenheit der Diktatur wird vergoldet.

SO: Man kann den neuen Irak gar nicht mit Saddams Diktatur vergleichen. Trotz aller Probleme, die wir haben, das ist völlig unmöglich und steht außer Frage. Aber tatsächlich sagen so etwas auch Kurden, die selbst Opfer von Saddam Husseins Diktatur waren. Damals sei alles viel besser gewesen als heute. So etwas in der Art hört man immer wieder. Ich denke, das ist ein Ausdruck von tiefer Frustration. Es ist eine Möglichkeit, Wut und Hoffnungslosigkeit zu artikulieren.

Ich verurteile keinen Iraker, der so etwas sagt, aber es ist einfach nicht korrekt. Zumal es heute trotz allem Raum für Veränderung gibt; gerade ist ein jüngerer Sunnit aus Anbar zum Sprecher des Parlaments gewählt worden. Wir haben Chancen auf Veränderung, trotz all des Chaos. Ich weiß, das viel hinter den Kulissen geschieht, da sind ausländische Mächte, da ist der Iran, da sind die USA, da gibt es Absprachen, aber trotzdem, auf einmal diskutieren die Leute wieder. Sie streiten sich, sie debattieren, es sind Iraker und sie sind nicht einer Meinung, aber immerhin gibt es jetzt solche Diskussionen. So funktioniert Demokratie. Unter Saddam Hussein gab es so etwas nicht. Wir leben in keiner Diktatur mehr.

OP: Sind Sie persönlich optimistisch?

SO: Solange es nicht gewalttätig wird, ist alles andere in Ordnung. Wichtig ist, dass die Gruppen miteinander reden. Man kann verschiedener Meinung sein, man kann sich streiten, aber für mich ist ganz zentral, dass etwa die Sunniten in Bagdad mitarbeiten. Dass alle im Parlament vertreten sind und sich zwar streiten, aber das ist besser als Boykott und Bürgerkrieg.

(Photos: Thomas von der Osten-Sacken)

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch.