Samstag, 20.10.2018 / 18:48 Uhr

Die Nacht, in der meine Kindheit gestohlen wurde

Von
Amed Sherwan


„Unglaublich, du bist doch der, der als Kind im Irak im Gefängnis war? Ich habe immer überlegt, was aus dir geworden ist. Ich bin froh, dass du lebst!“

 

Ich stehe auf der Buchmesse in Frankfurt, als mich plötzlich jemand auf Kurdisch anspricht. Er ist ein Kurde aus dem Iran, hat zum Zeitpunkt meiner Inhaftierung im Nordirak gelebt, dort meinen Fall miterlebt und sich für mich eingesetzt.

Inzwischen lebt er in Deutschland und engagiert sich beim Zentralrat der Ex-Muslime und ist eigentlich vor Ort, um Mina Ahadi zu hören. Während Mina und ich auf dem Podium sind, ergreift er noch mal das Wort und erzählt, wie er es damals in den Medien miterlebt hat.

Manchmal vergesse ich fast, wie große Kreise es zu der Zeit gezogen hat. Und dann gibt es diese Situationen, wo mir bewusst wird, wie sehr es nicht nur um mich ging, sondern auch darum, dass so viele junge Menschen sich mit mir identifizieren konnten. Ganz deutlich ist es mir vor zwei Jahren bei einem Besuch einer Kurdin aus Großbritannien geworden. Sie hat dauernd Musik von dem kurdischen Sänger Navid Zardi gehört. Und plötzlich höre ich zufällig, wie er im Stück „Zhn Kuzhm“ meinen Fall erwähnt.

Die ersten Jahre in Deutschland habe ich kaum über die Ursachen meiner Flucht gesprochen. Mein Deutsch war gar nicht gut genug, um es im Detail zu erklären, und es hat mich auch kaum jemand gefragt. Ich war einfach einer von vielen und alle dachten, ich sei vor einem Krieg geflüchtet.

Es ist mein Glück und mein Fluch gewesen, dass mein Fall exemplarisch für alles stand, was in Kurdistan falsch lief. Es war mein Glück, weil ich dadurch viel Aufmerksamkeit bekommen und große Unterstützung erfahren habe, und es war mein Fluch, weil ich danach zu einer öffentlichen Person geworden bin und nicht mehr sicher leben konnte. Ob ich anders gehandelt hätte, wenn ich die Konsequenzen erahnt hätte? Ich weiß es nicht.

Die ersten Jahre in Deutschland habe ich kaum über die Ursachen meiner Flucht gesprochen. Mein Deutsch war gar nicht gut genug, um es im Detail zu erklären, und es hat mich auch kaum jemand gefragt. Ich war einfach einer von vielen und alle dachten, ich sei vor einem Krieg geflüchtet. Erst als ich als Volljähriger zu meinem Asylinterview eingeladen wurde, habe ich die ganze Geschichte wieder in Worte fassen müssen. Und seither habe ich sie oft geschildert. Es fühlt sich  manchmal so an, als ob ich die Geschichte eines anderen erzähle. Wie ein abgelegtes Dokument im meinem Kopf, dass ich ohne große Gefühlsregungen abspulen kann.

Ich hatte damals schon etwa ein Jahr islamkritische Texte im Internet gelesen und irgendwann angefangen, auch unter meinem Klarnamen Islamkritik zu äußeren und mich auch über den Glauben lustig zu machen. Ich hatte mich meinem Vater gegenüber geoutet, dafür ordentlich Prügel bezogen und geglaubt, dass wir eine Art Waffenstillstand erreicht hätten. Aber als die Freunde meines Vaters ihm ins Gewissen redeten, zeigte er mich an, um mich wieder auf den rechten Pfad zu bringen.

 

Der schlimmste Verbrecher vona allen

Ich saß am Abend des 23. Oktobers 2013 im Wohnzimmer am Computer und surfte wie so oft durch das Netz, als meine Eltern plötzlich mit einigen Polizisten im Raum erschienen. Einer der Polizisten gab mir eine Ohrfeige und riss mich hoch. Sie packten mich, traten mich und zerrten mich in das Auto und fuhren zur Wache. Mein Vater fuhr hinterher, wurde aber vor Ort von der Polizei weggeschickt: „Wir kümmern uns um ihn!“

In der Wache fesselten die Polizisten mich. Sie zogen mir die Schuhe aus, banden meine Beine an den Fußgelenken quer auf eine Kalaschnikow, zogen mich daran hoch und schlugen mit Schläuchen auf meine nackten Fußsohlen. Sie spuckten und brüllten mich dabei an: „Glaubst du an Darwin? Sind wir Affen?“ Sie setzten auch Elektroschocks ein und schlugen mich auch am Rest des Körpers. Zuletzt musste ich Kniebeugen machen und wie ein Affe tanzen, während sie auf mich einschlugen und mich anbrüllten. Es dauerte bis nachts durchgehend an. 

Danach wurde ich ein Jugendgefängnis überführt. Hier wurde ich zunächst in den Schlafraum der Sicherheitskräfte gebracht, wo ich von drei Sicherheitskräften erneut verprügelt wurde. Der eine ist dabei so wütend geworden, dass er eine Waffe an meinen Kopf gehalten hat: „Ich erschieße dich und garantiere mir damit einen Platz im Paradies.“  Ich war schon in einem Zustand, wo ich mir fast gewünscht hätte, er möge abdrücken, damit der Schmerz endlich aufhört. Die anderen haben ihn aber zurückgehalten.

Zuletzt haben sie mich nach draußen geschleift und weiter geschlagen. Sie hatten großen Spaß daran, mich zu treten und zu beschimpfen. Ich habe meinen Körper irgendwann gar nicht mehr gespürt und nicht mehr geschrien oder geweint und komplett aufgegeben. Und am frühen Morgen hatten sie tatsächlich keine Lust mehr und haben mich in eine Isolationszelle gesperrt.

Am nächsten Tag wurde ich dem Gericht mit blauem Auge, wundem Rücken und Füssen, auf den ich knapp stehen konnte, vorgeführt, jedoch nicht wegen Gotteslästerung sondern Beamtenbeleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt.

Ich wurde daraufhin in einen Großraum mit 18 anderen Jugendlichen untergebracht. Es waren Mörder und Gewaltverbrecher darunter, aber ich war in ihren Augen als Kafir der schlimmste Verbrecher. Sie attackierten mich immer wieder psychisch und körperlich. Ich wurde gezwungen, gemeinsam mit ihnen zu beten, fühlte mich gebrochen und der ganzen Situation völlig hilflos ausgeliefert.

Ich wurde daraufhin in einen Großraum mit 18 anderen Jugendlichen untergebracht. Es waren Mörder und Gewaltverbrecher darunter, aber ich war in ihren Augen als Kafir der schlimmste Verbrecher. Sie attackierten mich immer wieder psychisch und körperlich. Ich wurde gezwungen, gemeinsam mit ihnen zu beten, fühlte mich gebrochen und der ganzen Situation völlig hilflos ausgeliefert.

Meine Verhandlung wurde für den 1. Juni 2014 angesetzt. Ich konnte jedoch schon am 4. November 2013 frühzeitig auf Kaution entlassen werden.  Mein Onkel zahlte die Kaution. Denn meine Familie hatte zwar gehofft, man könne mich im Gefängnis von meinem gotteslästerlichen Verhalten heilen. Sie hatten aber nicht damit gerechnet, dass ich der Folter ausgesetzt werden würde. Ihre Unterstützung hat mir etwas Mut gemacht.

Ich befreite mich aus meiner Ohnmacht und nutzte meine Kontakte auf Facebook, um auf meine Situation aufmerksam zu machen. Ein Facebookfreund schickte mir die Kontaktdaten des Anwalts Younis Al-Rawi in Erbil. Weil mein Vater ihn nicht als Anwalt akzeptierte, konnte er mich nur inoffiziell vertreten, aber trotzdem viel für mich erreichen und unter anderen viele Beweise zu meinen geschilderten Erlebnissen ermitteln. In dem Raum, wo mich die Sicherheitskräfte gefoltert hatten,  befand sich eine Kamera. Es gelang uns zwar nie, an die Aufzeichnungen zu kommen, der Vorfall wurde aber sowohl meinem Anwalt als auch der Sozialarbeiterin Sayran Salah gegenüber telefonisch bestätigt.

Als ich Ende April 2014 meine Gerichtsvorladung auf Facebook veröffentlichte, wurde sie mehrfach geteilt. So wurde die unabhängige Zeitung Awena auf mich aufmerksam und machte ein Interview mit mir. Das Interview löste in Kurdistan und sogar international eine sehr große Welle aus. Mein Anwalt und ich wurden von unglaublich vielen Journalisten angerufen und interviewt. 

 

Fall abgeschlossen, die Angs bleibt

Ich erfuhr viel Unterstützung in kurdischen Netzwerken, es wurde eine Facebook-Seite unter der Überschrift „We are all Ahmed“ gegründet und zu einer Demo vor dem Gerichtsgebäude am 1. Juni 2014 aufgerufen, dass der 1. Juni der internationale Children‘s Day gab meinem Fall einen großen Symbolcharakter. Kurz vor der angekündigten Verhandlung wurden mein Vater und ich dann aber überraschend zu einem Termin eingeladen und der Fall mit einer kleinen Geldstrafe abgeschlossen.

Danach wurde meine Lebenssituation in Erbil aber immer bedrohlicher. Da ich mich in den Interviews sehr islamkritisch und auch regierungskritisch geäußert hatte, konnte mich nicht mehr frei in der Stadt bewegen und zur Schule gehen. Ich bin überall wie ein Verbrecher behandelt und von vielen Seiten bedroht worden. Sogar mein Anwalt wurde von der regierenden Partei angerufen und dazu aufgefordert, sich vom Fall zu distanzieren. 

Auch ,eine Familie wurde aus dem Umfeld angefeindet und dazu gedrängt, gegen mich vorzugehen. Der öffentliche Druck war sehr stark und meine Angst extrem. Ich wurde von „Kurdistan Save the Children“ betreut und traf mich mit dem Menschenrechtler Sito Ziany. Und alle rieten mir einstimmig, das Land zu verlassen, um mein Leben zu retten. Und so kam es dann auch.

Seit einiger Zeit berichte ich auch hier in Deutschland über meine Erlebnisse. Genau wie damals steht meine Geschichte heute für mehr als meine eigenen Erfahrungen. Es ist ein Glück, dass ich für viele sprechen kann, die genau wie ich sowohl gegen die starren Strukturen im Islam als auch gegen rassistische Vorurteile gegenüber alle Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis rebellieren. Aber es ist ein Fluch, wenn ich dabei an meine persönlichen Grenzen komme. 

Wenn jemand mir eine Hassnachricht schickt und schreibt, dass ich mir das bestimmt nur alles ausgedacht habe, um in Deutschland Asyl zu bekommen, kann es mir als politischem Aktivisten egal sein. Ich kriege so viele Hassnachrichten, ich grinse in der Öffentlichkeit darüber. Aber als ganz privater Mensch verletzt es mich sehr. Dann kommt das Ohnmachtsgefühl wieder hoch und lähmt mich. Und dann fühle ich mich wieder sehr klein und hilflos.

Es mag ganz lässig klingen, durch die Gegend zu reisen und über heftige Erfahrungen zu sprechen. Aber eine solche Biographie ist im Privatleben leider alles andere als cool. Durch die Folter und die Flucht ist bei mir viel kaputt gegangen.

Ich habe immer wieder Alpträume und leide täglich an den Folgebelastungen und Störungen im zwischenmenschlichen Kontakt. Ich habe meine Freiheit hart erkämpft und es treibt mich weiter an, dass es nicht umsonst geschehen ist und ich mit meiner Geschichte etwas erreichen kann. Aber gelegentlich braucht der kleine Junge in mir auch seinen Raum einfach darüber zu trauern, dass ihm über Nacht seine Kindheit gestohlen wurde.