Donnerstag, 07.01.2021 / 13:31 Uhr

Digitaler Faschismus und politische Polarisierung in den USA

Von
Holger Marcks
Trump
Bild:
Rod Long on Unsplash

In den Vereinigten Staaten weht ein Wind der Gegenaufklärung. Er hat im Sog der rechten Bedrohungsmythen an Fahrt aufgenommen, die im digitalen Kontext boomen und das Verschwörungsdenken kultiviert haben. Dabei geht es nicht nur um die Delegitimierung von politischen Gegnern, sondern um eine Revolte gegen Prinzipien der Aufklärung. Sie folgt einer tribalen Logik, die in der Abgrenzung von verhassten Gruppen eine gemeinschaftsbildende Praxis findet. Irrationalismus wird dabei zum identitätsstiftenden Mittel.


Wie kann das bloß sein? Das ist die Frage, die sich zurzeit viele Menschen im Nachgang der US-Wahlen stellen. Zwar scheint ein Putsch aus dem Herzen der US-Demokratie, dem Weißen Haus, heraus irgendwie unwirklich, doch darf man nach der Erstürmung des Kapitols und anderer repräsentativer Einrichtungen weiter Zweifel daran haben, ob die amerikanische Demokratie kurz- oder mittelfristig tatsächlich mit einem blauen Auge davonkommt. Denn die Wogen des Trumpismus dürften weiterschäumen. Immerhin hat sich Donald Trump unübersehbar eine loyale Anhängerschaft aufgebaut; er hat in einer polarisierenden Wahl die zweitmeisten Stimmen gewonnen, die je ein Präsidentschaftskandidat geholt hat; und er hat zuletzt auch noch in Wählergruppen zugelegt, die Demokraten und insbesondere Linke als ihr Revier betrachten. Nicht wenige hat er von seiner Version der Realität überzeugt, die es ihm gestatten soll, sich über die Demokratie zu erheben. Und das nicht trotz, sondern wegen seiner vielen Tabubrüche, Betrügereien und Unwahrheiten, die hier keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Die Berichterstattung ist voll davon, was – wir ahnen es bereits – wohl auch Teil des Problems ist, das demokratische Akteure nicht nur in den USA umtreibt: Wie können Kräfte, die so offensichtlich lügen, um das Land zu spalten, und die Axt an die Wurzeln der Demokratie legen, so viel Applaus und Unterstützung erhalten?

Es sind surreale Szenen, die sich in vier Jahren Trump abspielten, vor allem zuletzt, als sich geäußerte Manipulationsabsichten mit Vorwürfen der Manipulation in einem Atemzug abwechselten. Sie wirken wie eine Bestätigung dessen, was der Filmemacher Adam Curtis bereits 2016 unter dem Begriff der „Hypernormalisierung“ ausmalte: eine politische Kultur, in der die Masse nicht mehr zu wissen scheint, wo vorne und hinten ist; wo die Lüge so normalisiert ist, dass ihr Gebrauch vielen als Ausweis einer bloß realistischen Haltung gilt. Indessen treibt diese Kultur Blüten, die Curtis nicht hätte erahnen können. Mit dem QAnon-Kult etwa nahm eine Verschwörungsideologie fast schon Bewegungscharakter an, die auf geradezu fantastischen Erzählungen gründet – und damit bis ins Spitzenpersonal der Republikaner hineinwirkt. Gleichwohl aber zeigen sich auch hierzulande Tendenzen der Polarisierung, die sich entlang von Verschwörungserzählungen vollziehen. Von der AfD bis zu „Querdenken“ tun sich Parallelwelten auf, die zwar nur von einer Minderheit fantasiert werden, aber zunehmend in die politische Realität eindringen. Man fragt sich daher, ob die USA womöglich einen Ausblick darauf bieten, was andere Demokratien erwarten könnte.

Es zeigt sich eine politische Kultur, in der die Masse nicht mehr zu wissen scheint, wo vorne und hinten ist; wo die Lüge so normalisiert ist, dass ihr Gebrauch vielen als Ausweis einer bloß realistischen Haltung gilt.

Immerhin basieren auch Trumps politische Erfolge auf einer Dynamik, die wir an anderer Stelle als „digitalen Faschismus“ beschrieben haben: die virtuelle Verbreitung von Bedrohungsmythen, mit denen illiberale Maßnahmen gerechtfertigt oder zumindest vorbereitet werden.* Sie brachte im letzten Jahrzehnt einen Polarisierungsschub in vielen Gesellschaften, wo sich rechte Propaganda in den sozialen Medien breit machte. Deren Funktionsweise ist für dramatische Erzählungen – z.B. über grassierende Ausländergewalt oder eine „Islamisierung des Abendlands“ – besonders gut geeignet. Sie fungieren aber auch als maßgebliches Einfallstor für postfaktische Inhalte, die im öffentlichen Diskurs heute so rege zirkulieren: von rechtsextremen Falschinformationen bis zu den absurdesten Verschwörungstheorien. Da nun in den USA, der Heimat der im westlichen Raum dominanten sozialen Medien, die Nutzung dieser Plattformen als Informations- und Kommunikationstool weit fortgeschritten ist, könnte man annehmen, dass sich das polarisierende Potential des digitalen Faschismus, das woanders noch seiner Entfesselung harrt, hier deutlicher zeigt. Auffallend ist jedenfalls, dass sich im Sog der rechtsextremen Bedrohungsmythen auch Erzählungen der Verschwörung ausgebreitet haben, der es bedarf, um die Konstruktion einer nationalen Bedrohung zu stützen. Die massive Erosion gemeinsam geteilter Wahrheiten, die mit dem Voranschreiten einer Art Gegenaufklärung einhergeht, könnte man insofern auch als Begleiterscheinung des digitalen Faschismus betrachten.

 

Die amerikanische Dramamaschine

Gewiss trifft der digitale Faschismus in den USA auf spezifische Polarisierungsbedingungen, die nichts mit der Digitalisierung selbst zu tun haben. Das beginnt schon beim majoritären politischen System, das praktisch auf eine Zweiparteienkonkurrenz hinausläuft. Ob solche bipolaren Systeme generell anfälliger auch für eine kulturelle Entfremdung zwischen den politischen Lagern sind, sei dahingestellt, ebenso welche Rolle sozioökonomische Differenzen zwischen urbanen und ruralen Räumen dabei spielen. Tatsache ist zumindest, dass Trump von diesem System insofern profitieren konnte, als ihm die Eroberung der Grand Old Party auch gleich den Zugriff auf potentiell eine Hälfte der amerikanischen Wählerschaft gab. Das Kapern einer bipolaren Kraft kann, wie auch das britische Beispiel zeigt, sehr folgenreich sein, wenn neue Akteure am Ruder die tradierten Normen des politischen Kompromisses nicht achten; zumal bei der Machtfülle eines Präsidentenamtes, das auf dem Vertrauen gründet, der Amtsinhaber möge immer auch Versöhner der gesamten Wählerschaft sein. Vor allem aber finden wir in den USA eine spezielle Geschichte kultureller und ethnischer Konflikte vor. Das Polarisierungspotential des digitalen Faschismus findet darin eine Grundlage für die Konstruktion vielfältiger Feindbilder. Entsprechend zeigt sich im US-Kontext ein besonderer Resonanzboden für rechtsextreme Bedrohungserzählungen, die den Hass auf innere und äußere Feinde anleiten.

Zwar findet die hierzulande von rechts beklagte Invasion durch muslimische Flüchtlinge ihre Entsprechung in den Migrationsströmen über die mexikanische Grenze, die Trump mit einer Mauer verteidigen wollte, doch die ethnische Diversifizierung, die – neben der Gewalt und Kriminalität, die Flüchtlinge bringen würden – als maßgeblicher Treiber eines „Bevölkerungsaustauschs“ oder gar „Volkstods“ ausgemacht wird, ist in den USA eine andere. Tatsächlich vollzieht sich dort ohnehin schon aus dem Inneren heraus ein demographischer Wandel, der die weiße Vormachtstellung nachhaltig bedroht und nur durch einen institutionalisierten Rassismus im Rechts- und Wahlsystem noch politisch eingehegt wird. Dass dieses weiße Amerika in Raten stirbt, ist allgemeine Gewissheit – und damit eine sprudelnde Quelle für die Erzählung vom „white genocide“: der amerikanischen Variante des „Volkstods“. Sie fällt zusammen mit der Erzählung vom allgemeinen Niedergang einer großen Nation (daher auch: Make America Great Again), den das als linksliberal betrachtete Establishment verursacht hätte. Diese Erzählung verschränkt sich gerne mit rassistischen Untergangserzählungen. Immerhin sind es ja jene inneren Feinde – insbesondere die Linke –, die den ethno-kulturellen Wandel zuließen oder gar aktiv förderten.

Dort vollzieht sich ein demographischer Wandel, der die weiße Vormachtstellung nachhaltig bedroht. Dass dieses weiße Amerika in Raten stirbt, ist allgemeine Gewissheit – und damit sprudelnde Quelle für die Erzählung vom „white genocide“.

Diese Konstellation entwickelte sich zudem in einer Medienlandschaft, die bereits vor der Digitalisierung eine Dramamaschine war. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der die hiesige Öffentlichkeit nachhaltig mit seiner prosaischen Art prägt(e), hat es in den USA in größerem Maße nie gegeben – und dass obwohl er eine Schenkung der Alliierten war, die einst am Beispiel Deutschlands feststellen mussten, wie sich durch neue Möglichkeiten der Massenkommunikation antidemokratische Bewegungen aufpeitschen lassen. Eine Antwort auf dieses Problem war – neben einer Stärkung des Presserechts, journalistischer Standards und wissenschaftlicher Ethiken – die Etablierung starker Medienanstalten mit öffentlichem Auftrag. Von demokratischen Gremien kontrolliert, sollten sie frei vom Marktdruck handeln, damit Nachrichten im Sinne einer sachlichen Verständigung aufbereitet werden; wo danach ausgewählt wird, was relevant ist – und nicht danach, was sich verkauft. Ansonsten führt die private, aber auch die politische Konkurrenz um Aufmerksamkeit zu dem, wofür das amerikanische Fernsehen berüchtigt ist: Nachrichtensender, die die Wohnzimmer mit einem Dauerfeuer aus emotionalisierenden Geschichten beschallen – der Währung nicht nur von absatzorientieren Medienakteuren, sondern auch von Demagogen.


Die neue postredaktionelle Welt

In dieser für Sensationalismus anfälligen Arena machten sich ab den 1980ern Jahren private, aber auch religiöse Gruppen mit Fernseh- und Radioshows breit, die den Einfluss der großen Zeitungen und Sender schmälerten. Sie waren stärker auf Konsumpräferenzen oder Weltbilder zugeschnitten, sodass die USA bereits am Vorabend der Digitalisierung stärker in Teilöffentlichkeiten zerfielen. Mit ihnen wurde nicht nur die Medienwelt greller, lauter und hysterischer, sie sprachen auch die eher politikferne Masse besser an, indem sie anderen Debattierweisen in den öffentlichen Diskurs Einzug boten. Mit den Formaten, in denen öffentlich relevante Themen mit Erregung oder gar Demagogie aufgeladen wurden, veränderte sich aber auch der politische Diskurs: emotionale Affekte der Masse zu adressieren, nahm immer größeren Raum ein – zum Schaden der argumentativen Deliberation und des sachlichen Arguments. Dass 1987 auch noch die sogenannte Fairness Doctrine aufgehoben wurde, die US-Nachrichtensendungen bisher dazu verpflichtet hatte, in Streitfragen ausgewogen über beide Seiten zu berichten, gab den Medien schließlich noch die Freiheit zur einseitigen Berichterstattung. Mit dem rechtskonservativen Nachrichtensender Fox News betrat Mitte der 1990er dann auch ein großer Medienakteur die Bühne, der diese fragwürdige Freiheit besonders zu nutzen wusste. Nein, die herkömmlichen Medien waren alles andere als perfekt. Dass das Internet Alternativen zu ihrem häufig tendenziösen Schund bieten könnte, war vor allem in den USA eine nachvollziehbare Hoffnung.

Was an den herkömmlichen Medien besonders problematisch ist, wird etwa in den sozialen Medien um ein Vielfaches gesteigert. Sie stehen für den Übergang zu einer „postredaktionellen Gesellschaft“.

Jedoch brachte die Digitalisierung eben keinen Bruch mit diesen Tendenzen, sondern deren Intensivierung. Was an den herkömmlichen Medien besonders problematisch ist – nämlich ihr Anteil an pseudo-journalistischen Praktiken, die auf Affekte abzielen –, wird etwa in den sozialen Medien um ein Vielfaches gesteigert. Sie stehen für den Übergang zu einer „postredaktionellen Gesellschaft“, wie es die Journalismusforscherin Margreth Lünenborg nennt. In dieser können Inhalte einfach an die Öffentlichkeit kommuniziert werden, ohne eine selektive, prüfende oder korrektive Instanz zu durchlaufen. Das revolutionäre Moment dieser technologischen Innovation ist daher zugleich ein reaktionäres. Denn mit der „massenhaften Amateurisierung des Publizierens“, die der Medientheoretiker Clay Shirky konstatiert, gehen auch neue Dynamiken einher, mit der wichtige Schutzmechanismen der Demokratie ausgehebelt werden können. Gerade die Zwischenkriegszeit hatte ja gezeigt, was Technologien der Massenkommunikation anrichten können, wenn sie Demagogen nutzen, um die stets manipulierbare Öffentlichkeit direkt zu beschallen. Einzuhegen war das immerhin insofern, als der ökonomisch und technisch aufwendige Veröffentlichungsprozess Medienhäuser und Redaktionen verlangte. Bei ihnen konzentrierten sich die notwendigen Produktionsmittel, so dass sich dort praktikabel die rechtliche und auch moralische Verantwortung zentrieren ließ. Durch die Digitalisierung können diese einst natürlichen Engführungen in der Massenkommunikation nun leicht umgangen werden.

Die journalistischen und presserechtlichen Regeln, mit denen diese Regulierung der herkömmlichen Medien realisiert wurde, mögen den Tendenz- und Krawalljournalismus nicht ausmerzen, kerben dem medialen Diskurs aber ein Mindestmaß an aufklärerischen Prinzipien ein. So können Medien – zumindest im Idealzustand – als vermittelnde Instanz zwischen Politik und Öffentlichkeit fungieren, wobei sie möglichst sachlich informieren, damit die Bürger rationale Entscheidungen treffen können. Diese „Gatekeeper“-Funktion, die für einen aufgeräumten Diskurs sorgt, ist nicht sonderlich partizipativ, wirkt epistemisch aber integrativ, da der Blick durch eine ähnliche Brille gemeinsame Wahrheiten fördert. Dass Massenkommunikation ein stückweit exklusiv ist und professionell gehandhabt wird, hat also seine Bewandtnis auch jenseits der Digitalisierung. Es geht damit große Verantwortung einher, die nun jedoch, wo der technologische Fortschritt die Massenkommunikation auf die Masse selbst ausweitete, kaum mehr fassbar ist. Objektiv zentriert sie sich zwar bei wenigen Tech-Unternehmen, die eigentlich die Öffentlichkeit herstellen. Dies geschieht nun aber so beschleunigt und massenhaft, dass es den alten normativen Rahmen sprengt: Ob der Informationsflut versuchte man gar nicht erst, die bewährten Regeln der Massenkommunikation auf die sozialen Medien anzuwenden. Man gab sie gleich preis.


Fliehkräfte der Veröffentlichungsfreiheit

Die Preisgabe aufklärerischer Prinzipien findet ihren rechtlichen Ausdruck in der Section 230, die schon seit 1996 den Status der ‚Intermediäre‘ in den USA regelt. Als Heimatland der Big Five schufen die Vereinigten Staaten mit diesem Teil der Telefongesetze „das wichtigste Internetgesetz der Welt“, wie es der Jurist Matthias Kettemann einstuft. Das wurde es nicht nur, weil die ganze Welt, die soziale Medien nutzt, von der US-Jurisdiktion abhängig ist, unter die die großen Tech-Unternehmen wie Google, Facebook oder Twitter fallen. Es führte auch in die normative Pfadabhängigkeit, die Regulierungsversuche heute so heikel macht. Indem man nämlich die Plattformbetreiber von der Haftung für die von ihnen veröffentlichten Inhalte befreite – sie sollen gar explizit nicht als „publisher“ behandelt werden –, wurden de jure die Autoren zum veröffentlichenden Subjekt. Dies stellt eine so radikale (Um-)Verteilung der Verantwortung auf den Einzelnen dar, dass es einer organisierten Unverantwortlichkeit gleichkommt. Faktisch wurde damit eine Veröffentlichungsfreiheit geschaffen, die schnell zur Norm gerann und mittlerweile als unveräußerlicher Teil der Meinungsfreiheit begriffen wird. Die Kehrseite davon ist aber, dass damit eine offene Flanke in die demokratischen Schutzmauern gerissen wurde, die zuvor durch eine Barriere technologischer Schranken gestützt wurde. Wenn nun postfaktische und andere toxische Inhalte massenhaft in der Öffentlichkeit zirkulieren, deren Rezeptionskanäle zuvor viel beschränkter waren, entstehen Fliehkräfte, die nicht unwesentlich an der demokratischen Substanz zerren.

Tech-Nerds und Influencer meinen, sie hätten begriffen, wie das Internet funktioniert. Tatsächlich haben sie kaum eine Vorstellung davon, wie die veränderten Informationsbeziehungen, die mit der interaktiven, individualisierten Massenkommunikation quasi einen Quantensprung in der Vernetzungsdichte vollziehen, sich auf das demokratische Gefüge auswirken. Erst allmählich scheint einigen die Tragweite des Problems klar zu werden, sodass die Tech-Unternehmen plötzlich stärker bemüht sind, zumindest die schlimmsten Inhalte zu beseitigen – auch angetrieben von politischen Bemühungen der Regulierung, denen man keinen weiteren Vorschub leisten möchte. Insbesondere rund um die US-Wahlen hatte man den Eindruck, die Tech-Unternehmen stünden unter einer Bewährungsprobe, als müssten sie zeigen, kein Risiko für die Demokratie zu sein. Dabei sind die verstärkten Lösch- und Kommentierpraktiken, die bereits mit der Corona-Pandemie und der zeitgleichen „Infodemie“ anhoben, genau das: ein insgeheimes Eingeständnis, dass die sozialen Medien eine Innovation sind, deren destruktiven Potentiale nur durch korrektiven Aufwand abzumildern sind – und die in vergangenen Jahren bereits viel Schaden angerichtet haben dürfte. Tatsächlich sind die politischen Nebenfolgen der neuen Kommunikationstechnologien derart bedeutend, dass sie zu einem wichtigen Gegenstand der Demokratietheorie geworden sind, die zunehmend erahnt, was für ein game changer die Digitalisierung darstellt.

Wenn nun postfaktische und andere toxische Inhalte massenhaft in der Öffentlichkeit zirkulieren, deren Rezeptionskanäle zuvor viel beschränkter waren, entstehen Fliehkräfte, die nicht unwesentlich an der demokratischen Substanz zerren.

Es führt ja nicht nur die Regeln der Massenkommunikation ad absurdum, wenn CNN mit Alex Jones‘ Infowars oder QAnon-Sprachrohren ernsthaft im Nachrichtensegment konkurrieren muss – und dabei in vielen digitalen Milieus überflügelt wird. Es verändert auch grundsätzlich die epistemische Ordnung, wenn der öffentliche Diskurs in Teilöffentlichkeiten zerfällt, die unterschiedliche Bezugssysteme und identitäre Leitplanken für ihr Wahrheitsverständnis haben. Gerade wenn sich eine Gegenaufklärung breit macht, die aus politischen Gegnern geächtete Feinde macht, weil diese mit Bedrohungsmythen verknüpft werden, bedroht das jene Substanz, die der Sozialanthropologe Richard Reich als eine „extrakonstitutionelle Voraussetzung“ vitaler Demokratien bezeichnet. Diese besteht eben in einer aufgeklärten Metapolitik, die Konflikte nicht mit Gewalt, sondern mit Argumenten löst. Eine demokratische Kultur setzt also voraus, dass man dem Gegner zumindest theoretisch zugesteht, recht haben zu können, zumindest aber seine Perspektive als legitim begreift; und dass man gemeinsame Wahrheiten kennt, auf deren Basis verständigungsorientiert über Differenzen gestritten werden kann. Von so einem Zustand scheinen die USA, wo man sich gegenseitig nur noch der Lüge bezichtigt – fake news hier, post-truth da –, weit entfernt zu sein. Vielmehr zeigt sich immer stärker ein epistemischer Modus am Wirken, der den Wahrheitsgehalt von Aussagen davon abhängig macht, wer sie ausspricht. Oder genauer: Was der als Verschwörer oder Verräter wahrgenommene politische Gegner vertritt, kann per se nicht richtig, ja nicht mal legitim sein.


Die Rebellion gegen die Vernunft

Die Lüge taugt nicht mehr als Kriterium … für die Redlichkeit eines Sprechers“, sagt die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff. Für einige sei sie vielmehr sogar zum „Identitätsmarker“ geworden: Redlich ist dabei das, was den Narrativen des „Establishments“ widerspricht. Hat der faschistische Ideologe Steve Bannon also recht, wenn er sagt, „dass wir in keiner Ära der Persuasion mehr leben“, wenn er nahelegt, die Gesellschaft sei in politische Kulturen geteilt, die sich eh nicht mehr verstünden? Tatsächlich scheint es nach vier Jahren Trump, als hätten die USA einen Tipping-point überschritten; als wäre der Diskurs vollends vergiftet. Gerade im Corona-Kontext, in dem bizarrste Verschwörungstheorien blühen, zeigt sich deutlich jenes Misstrauen gegenüber politischen Gegnern, das zuvor in den sozialen Medien befeuert wurde. Dabei hat sich das Bedrohungsdenken offenbar soweit verselbstständigt, dass man Züge einer „hyperfaschistischen“ Dynamik beobachten kann. Diese folgt nicht mehr der faschistischen Logik, mit Mythen einer äußeren Bedrohung die palingenetische Fantasie anzuregen, wobei der Gegner als Teil des Problems gezeichnet und damit zum Hassobjekt wird. Der Gegner, ja das System, sind hier bereits so verhasst, dass sie selbst als Bedrohung gelten, der alles zuzutrauen sei, gegen die alles erlaubt sei. Die Lüge sowieso. Die Fantasie obendrein.

Infantil ist jene Rebellion, weil es um Trotz geht, um ein intuitives Aufbegehren gegen vermeintliche Ketten. Gefährlich ist das, weil diese Ketten eigentlich Prinzipien einer aufgeklärten Gesellschaft sind.

Obwohl die fantastischen Verschwörungsnarrative, die nun digital florieren, oft nicht typisch rechtsextrem sind, aktivieren sie doch ein Mobilisierungspotential für die extreme Rechte. Sie stehen für ein alternatives epistemisches Modell, das einer tribalen Logik folgt. Ähnlich den Anhängern eines Fußballteams wird affektiv das bejubelt, was den Gegner abwertet. Für die eigene Identität konstitutiv ist dabei die Abgrenzung von der politischen Kultur, der der „Ekel“ gilt, wie etwa der Moralphilosoph Philipp Hübl betont. Es ist eine kindliche Rebellion, die gerade wegen ihrer Einfältigkeit besonders gefährlich ist. Infantil ist sie, weil es um Trotz geht, um ein intuitives Aufbegehren gegen vermeintliche Ketten. Gefährlich ist es, weil diese Ketten eigentlich Prinzipien einer aufgeklärten Gesellschaft sind. Wenn nun auch Journalisten und Wissenschaftler als Feindbilder ausgemacht werden, dann stehen hier Verkörperungen epistemischer Autorität unter Beschuss, deren Wissen vermittelnd wirken soll, um Fakten im demokratischen Diskurs das größtmögliche Gewicht zu verleihen. Sie wirken dem menschlichen Impuls entgegen, Inhalte der Gegenseite intuitiv zu negieren. Wenn ihre Prinzipien keine Geltung haben, wenn nur die Identität des Sprechers und nicht das Argument zählt, haben wir es dem Sozialphilosophen Karl Popper zufolge mit einem Irrationalismus zu tun, der den Zusammenhalt offener Gesellschaften bedroht.

Für die metapolitische Kultur der Demokratie haben verschwörungsideologische Gruppen keinen Sinn. Wo aufklärerische Akteure Wahrheiten teilen, weil sie rationalen Standards folgen und so zu relativ ähnlichen Schlüssen gelangen, erkennen sie eine Gleichschaltung. Der Bruch mit deren Wissen gilt den Verschwörungsgläubigen daher als Befreiung von Bevormundung. Tatsächlich aber ist es eine Befreiung von der Vernunft. Diese stellt eben Anforderungen an das Denken: damit Realität sachlich verarbeitet wird. Es ist diese Autorität der Aufklärung, die von Anons und Trumpisten als paternalistisch empfunden wird. Das zeigt sich klar im erklärten culture war gegen berufliche und soziale Milieus, die sie in ihrer Kultur zu repräsentieren scheinen. Dazu zählt auch ihre politische Antithese, das linke Lager. Gerade diese Konfliktlinie ist in den USA, wo linke Identitätspolitik andere Ausmaße angenommen hat, besonders stark ausgeprägt. Dass dabei vieles als unsagbar und so manche Person als untragbar geächtet wird – oft belehrend, ja entpolitisierend mit (pseudo-)szientistischen Argumenten –, gehört zu den Treibern einer Radikalisierung, die stark auch auf Reaktanz basiert: Trotzreaktionen auf eine empfundene Beschneidung von Freiheit. Dieser relationale bzw. reziproke Aspekt wird in linken Debatten gerne vernachlässigt, gehört zum Gesamtbild der Polarisierung aber dazu. Denn in der postredaktionellen Unmittelbarkeit der sozialen Medien tun sich eben routinemäßig auch linke Empörungswellen auf, die Anstoß für Affekte der Gegenaufklärung sein können – nicht selten auch von postfaktischen Elementen durchdrungen. Und diese Schaukel dürfte vorerst weiter schwingen. Zumal die fortlaufende Pandemie soziale Interaktionen noch weiter in den digitalen Raum verlegt.


 

Der Text findet sich in einer leicht anderen Fassung auch auf dem Blog der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.


 

Anmerkung:

* Maik Fielitz & Holger Marcks, Digitaler Faschismus. Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus (Berlin: Dudenverlag, 2020).