Frei nach 737 Tagen
Jerusalem. Der 7. Oktober fiel in diesem Jahr auf den ersten Tag von Sukkot – gemäß der Tora eigentlich ausdrücklich eine Zeit der Freude. Doch mit dem Beginn der einwöchigen Feierlichkeiten jährte sich auch der Jahrestag des von der Hamas und ihren Verbündeten verübten Massakers zum zweiten Mal, und so fielen die Feiern in vielen Familien in Israel eher gedämpft aus.
Umso größer war die Freude, als tags darauf verkündet wurde, dass es bei den Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der Hamas im ägyptischen Sharm al-Sheikh zu einer Einigung gekommen war. In mehreren Städten, doch vor allem auf dem seit fast zwei Jahren als Platz der Geiseln bekannten Vorplatz des Kunstmuseums in Tel Aviv, kam es zu spontanen Freudenfeiern. Auch in Gaza feierten die Menschen auf offener Straße. Plötzlich schien der von so vielen schon so lange erwartete Frieden in greifbarer Nähe.
Aus dem Gaza-Streifen wird von einer Verhaftungswelle gegen Oppositionelle und »Hinrichtungen im Mafia-Stil« gegen vermeintliche Kollaborateure berichtet.
Noch größer war der Jubel, aber auch die Erleichterung, als am Montagmorgen wie vereinbart die verbliebenen 20 lebenden Geiseln der Hamas freikamen. Allein in Tel Aviv versammelten sich Zehntausende, um auf Großbildschirmen live zu verfolgen, wie die Geiseln erst dem Roten Kreuz und dann dem israelischen Militär übergeben wurden. Hingegen übergab die Hamas bislang nur die sterblichen Überreste von vier der 28 verbleibenden toten Geiseln.
Im Gegenzug ließ Israel 1.968 Palästinenser:innen aus seinen Gefängnissen frei, die in Ost-Jerusalem, Gaza und der Westbank von feiernden Menschenmengen empfangen wurden. Unter den Freigelassenen sind Hunderte, die wegen Terrorismus zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden; mindestens 154 von ihnen wurden im Rahmen des Abkommens aus der Westbank nach Ägypten deportiert.
Zur selben Zeit landete US-Präsident Donald Trump am Flughafen Ben Gurion, um in der Knesset zu sprechen und anschließend weiter nach Sharm al-Sheikh zu reisen. In seiner einstündigen Rede geizte Trump nicht mit großen Worten. So sprach er von einem »Ende einer Zeit von Terror und Tod« und einem »unglaublichen Triumph für Israel und die Welt«. Es sei ein »historischen Aufbruch für einen neuen Nahen Osten« und für die Palästinenser:innen sei es »jetzt an der Zeit, sich auf den Aufbau ihres Volkes zu konzentrieren, anstatt zu versuchen, Israel zu zerstören«.
Hamas darf »für Ordnung« sorgen
Am Rande seines Besuchs sagte Trump zu Journalist:innen, man habe der Hamas vorübergehend erlaubt, in Gaza mit Waffengewalt für Ordnung zu sorgen. Bereits seit mehreren Wochen gibt es dort Gefechte zwischen der Terrormiliz und verschiedenen Clans. Medienberichten zufolge sollen nach dem Waffenstillstand vor allem Kämpfe zwischen der Hamas und dem einflussreichen Doghmush-Clan in Gaza-Stadt ausgebrochen sein, bei denen mindestens 30 Menschen getötet wurden. Über die genauen Hintergründe ist nicht viel bekannt. Die BBC berichtete, dass die Hamas die Familie aus einem Gebäude in der Stadt vertreiben wollte, um dort eine Operationsbasis einzurichten.
Zugleich gibt es Meldungen, dass Kämpfer der Hamas in Gaza zunehmend in Zivil oder in den blauen Uniformen der örtlichen Polizei auftreten. Auch von Verhaftungswellen gegen Oppositionelle und »Hinrichtungen im Mafia-Stil« gegen vermeintliche Kollaborateure wird berichtet. Es sieht so aus, als wolle die Hamas alte Rechnungen begleichen, solange es noch geht, und zeigen, dass auch in Zukunft mit ihr zu rechnen sein wird.
Wie genau diese Zukunft aussehen soll, darüber wird derzeit in Sharm al-Sheikh in der zweiten Phase der Verhandlungen gesprochen. Bislang haben die israelischen Streitkräfte sich nur aus einem Teil des Gaza-Streifens zurückgezogen. Der Plan Trumps sieht jedoch einen vollständigen Rückzug und eine Entwaffnung der Hamas vor.
Versprechungen für einen Wiederaufbau Gazas
Ob diese dazu bereit sein wird, dazu gibt es aus internen Quellen widersprüchliche Angaben. Vom Politbüro der Hamas wurde die Bereitschaft zur Entwaffnung erst vergangenen Sonntag wieder dementiert. Klar ist jedoch, dass Israel eine weitere bewaffnete Präsenz der Hamas weder in Gaza noch anderswo dulden wird. Weigert die Hamas sich, ihre Waffen abzugeben, kann es mit dem Waffenstillstand sehr schnell wieder vorbei sein.
Am Montag kamen in Sharm al-Sheikh auf Einladung Trumps und des ägyptischen Präsidenten Abd al-Fattah al-Sisi mehr als 20 Staats- und Regierungschefs zusammen, um bei einem Gipfeltreffen Einigkeit und Entschlossenheit zu demonstrieren. Etliche Staaten machten dabei großzügige Versprechungen für einen Wiederaufbau Gazas.
Auch der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz sagte einen zweistelligen Millionenbetrag zu. Was die Entsendung von Streitkräften für eine Sicherheitstruppe in Gaza selbst betrifft, gab es hingegen deutlich größere Zurückhaltung. Nur Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate haben bislang vorsichtig ihre Bereitschaft dazu erklärt – unter bestimmten Voraussetzungen.
In Umfragen führt die israelische Opposition
Sollte sich der Waffenstillstand als dauerhaft erweisen, werden in Israel innenpolitische Themen wieder an Bedeutung gewinnen. Die Lebenshaltungskosten steigen, Fachkräfte wandern aus und die de facto fortbestehende Befreiung haredischer Männer vom Militärdienst sorgt weiterhin für Unmut. Auch die von der Regierung geplante und hochumstrittene Justizreform ist noch nicht vom Tisch.
Spätestens in einem Jahr soll gewählt werden. Derzeit führt in Umfragen das Oppositionslager, aber Netanyahu dürfte vom jüngst getroffenen Abkommen höchstwahrscheinlich profitieren – auch wenn im Land alle wissen, dass nicht er, sondern Trump den Waffenstillstand herbeigeführt hat.
Sollte sich der Waffenstillstand als dauerhaft erweisen, werden in Israel innenpolitische Themen wieder an Bedeutung gewinnen. Die Lebenshaltungskosten steigen, Fachkräfte wandern aus und die de facto fortbestehende Befreiung haredischer Männer vom Militärdienst sorgt weiterhin für Unmut.
Hingegen hat die Protestbewegung gegen die Regierung mit der Freilassung der Geiseln ihr am stärksten verbindendes Thema verloren. Wie sich das auswirken wird und ob und inwiefern sie bereit sein wird, über das nächste Streitthema im Umgang mit den Palästinensergebieten zu sprechen, nämlich den Siedlungsbau in der Westbank, zu sprechen, bleibt abzuwarten.
Das Land ist in dieser Frage stark polarisiert. In einer Umfrage der Universität Tel Aviv sprach sich im März ein Viertel für eine Annexion der Westbank aus. 57 Prozent waren für eine komplette Trennung Israels von den Palästinensergebieten, ein Teil von ihnen würde eine Zweistaatenlösung favorisieren. Möglicherweise würde auch da ein Impuls von außen helfen, einen Ausweg zu finden.
Auf einer Kundgebung in Jerusalem am Samstagabend dankte Jon Polin, der Vater des von der Hamas auf dem Supernova-Festival entführten und später in der Geiselhaft verstorbenen Hersh Goldberg-Polin, unter großem Beifall Trump dafür, dass er eine Einigung erzwungen habe, und bat ihn gleichzeitig, nun nicht nachzulassen, sondern weiter Druck aufzubauen.