So kann es nicht weitergehen
Ein wenig scheint es wie im Januar 2011, als man in Europa erstaunt feststellte, dass in wenigen Wochen große Teile Nordafrikas und des Nahen Ostens von Massendemonstrationen erschüttert wurden und in kurzer Abfolge die Regierungen in Tunesien, Ägypten und später Libyen stürzten. Denn auch die jüngsten Proteste in Ländern wie Indonesien, Nepal, Madagaskar und Peru kamen für Europäer offenbar völlig überraschend.
Der einzige Unterschied: Während die Ereignisse 2011 danach wochenlang die Schlagzeilen beherrschten, muss man heute nach Meldungen und Berichten über diese Jugendproteste förmlich suchen. Im sogenannten Globalen Süden hingegen verfolgen dieser Tage Millionen vor allem junger Menschen Nachrichten aus Ländern, von denen auch sie zuvor vermutlich nicht sehr viel wussten. Nun aber tauscht man sich aus, nutzt dieselben Symbole und Memes und hat in wenigen Wochen eine global digital vernetzte Bewegung geschaffen, die in ganz unterschiedlichen Ecken der Welt mit beeindruckender Militanz ihre Forderungen vorbringt.
Der Irak gehört mit einem Durchschnittsalter von 21 Jahren zu den Ländern, in denen große Teile der Bevölkerung unter 30 sind und kaum Perspektiven auf eine bessere oder auch nur einigermaßen erträgliche Zukunft haben.
Wie unterschiedlich Wahrnehmungen sein können, ließ sich im Nordirak vor ein paar Wochen erleben, als die Proteste in Nepal ihren Höhepunkt erreichten. Jüngere Kolleginnen und Kollegen verfolgten Tag und Nacht auf Tiktok und Instagram, was dort geschah, und hielten einander mit leuchtenden Augen auf dem Laufenden. Für sie waren die Nachrichten aus Nepal in diesen Tagen die wichtigsten internationalen Meldungen.
Derweil berichteten deutsche Medien darüber irgendwo unter »Vermischtes«. Staunen stellte sich erst und auch nur in Maßen ein, als nach wenigen Tagen die Regierung zurücktreten musste und Kathmandu kurzzeitig wie ein Kriegsgebiet aussah.
Der Irak gehört mit einem Durchschnittsalter von 21 Jahren zu den Ländern, in denen große Teile der Bevölkerung unter 30 sind und kaum Perspektiven auf eine bessere oder auch nur einigermaßen erträgliche Zukunft haben. In solchen Ländern ist es Alltagswissen, dass es so, wie es ist, es nicht weitergehen kann. Verkrustete Strukturen, omnipräsente Korruption und Misswirtschaft, extreme Einkommensungleichheit sind täglich erfahrbar und es gibt keinerlei oder kaum Hoffnung, dass die jeweils Herrschenden daran irgendetwas ändern werden. So entsteht eine enorme Frustration, die regelmäßig irgendwo hervorbricht.
Mehr Freiheit, Demokratisierung, Partizipation und bessere ökonomische Chancen
Das war 2011 und in den Folgejahren so, das ist nun wieder der Fall. Und wie damals auch rufen diese Bewegungen nicht nach einem starken Führer, heben sich sogar deutlich ab von dem allgemeinen Abdriften in Populismus, das in fast allen Industrienationen zu beobachten ist. Stattdessen fordern sie mehr Freiheit, Demokratisierung, Partizipation und eben bessere ökonomische Chancen. Ob sie mit ihrer dezentralen Organisation, die ganz bewusst hierarchische Strukturen und politische Anführer ablehnt, auch längerfristig Erfolg haben, wird sich zeigen.
Klar jedenfalls ist: Viele Länder, die dem deutschen Außenministerium bislang als stabil galten, wurden in wenigen Tagen in den Grundfesten erschüttert, und es zeigte sich einmal mehr, dass es mit dieser Stabilität nicht besonders weit her ist.
Aber um nichts anderes dreht sich im Grunde hiesige Außenpolitik, die sich längst von schönrednerischen Konzepten verabschiedet hat, in denen es um Menschen- und andere Rechte ging, und heute außer wirtschaftlichen Interessen eigentlich nur noch eines kennt: dass möglichst keine Flüchtlinge mehr kommen und am besten noch die, die bereits gekommen sind, zurückgenommen werden.
Viele Länder, die dem deutschen Außenministerium bislang als stabil galten, wurden in wenigen Tagen in den Grundfesten erschüttert, und es zeigte sich einmal mehr, dass es mit dieser Stabilität nicht besonders weit her ist.
Zugleich fehlt in der völlig überalternden Republik – das hiesige Durchschnittsalter beträgt inzwischen 45 Jahre und wäre ohne Migration noch höher – offenbar jedes Verständnis dafür, dass in Ländern mit einem extrem hohen Anteil junger Menschen politische Umstürze seit jeher wesentlich wahrscheinlicher sind.
Subir Sinha, der Direktor des South Asian Institute, sieht einen der Gründe für die jüngste Protestwelle denn auch darin, dass es für diese Generation, anders als früher, kaum noch Perspektiven gibt, das eigene Land gen Europa oder USA zu verlassen und damit die Einsicht einhergeht, dass man für eine bessere beziehungsweise irgendeine menschenwürdige zu nennende Zukunft deshalb eben die Lage vor Ort ändern müsse.