25.09.2025
Maryam ­Namazie, Menschenrechtlerin, im Gespräch über Sharia-Schiedsgerichte

»Das Urteil wird von Männern gefällt«

In Großbritannien sind religiöse Schiedsgerichte, vor allem die sogenannten Sharia Councils, seit Jahrzehnten verbreitet. Kritiker sprechen von einer religiösen Paralleljustiz, die insbesondere Frauen und Kinder systematisch diskriminiere, und fordern deren Abschaffung. Die »Jungle World« sprach mit Maryam Namazie, die sich seit vielen Jahren gegen religiösen Fundamentalismus engagiert.

Sie sind Sprecherin der Kampagne »One Law for All«. Worum geht es dabei?
Die Kampagne wurde 2008 ins Leben gerufen und organisiert zivilgesellschaftliche Kräfte und vor allem migrantische Frauenrechtsorganisationen und -gruppen, um gegen religiöse Gerichte in Großbritannien vorzugehen. Das betrifft nicht nur Sharia-Gerichte, wir wenden uns auch gegen die jüdisch-orthodoxen Gerichte (batei din) und das vor kurzem in London eröffnete Sikh-Gericht – übrigens das weltweit erste dieser Art. Das sagt viel über die Lage in Großbritannien aus, das es zulässt, dass solche Gerichte wie Pilze aus dem Boden schießen, um insbesondere Frauen und Minderheiten zu kon­trollieren.

Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?
Wir veranstalten Kampagnen zu diesem Thema. 2016 haben wir zum Beispiel etliche Aussagen von Frauen über Diskriminierung vor den Sharia-Gerichten öffentlich gemacht. 2014 haben wir erfolgreich Druck auf die britische Regulierungsbehörde für Universitäten ausgeübt, die auf Antrag eines islamischen Redners eine Richtlinie herausgegeben hatte, die eine geschlechtergetrennte Sitzordnung an Universitäten bei externen Rednern ermöglichen sollte. Wir haben aufgezeigt, dass diese Regelung gegen die Gleichstellung der Geschlechter verstößt, und konnten die Behörde dazu bringen, sie zu verwerfen. Vergangenes Jahr haben wir uns an einem offenen Brief gegen die Eröffnung des Sikh-Gerichts beteiligt.

Vor den Sharia-Gerichten werden vor allem Scheidungsanliegen verhandelt, die von Frauen eingebracht werden. Männer können im islamischem Recht einseitig und ohne Konsultation eines Gerichts die Ehe auflösen. Neben den zahlreichen Berichten von Diskriminierung gibt es dokumentierte Aussagen von Sharia-Richtern, in denen sie sich für die Kinderehe ausgesprochen und häusliche Gewalt verharmlost haben. Warum konsultieren die Frauen für eine Scheidung nicht ein britisches Zivilgericht?
Ein Grund ist definitiv, dass viele Frauen nicht alle ihre Rechte kennen, insbesondere wenn sie isoliert leben, wenn sie die englische Sprache nicht beherrschen, wenn sie keinen Zugang zu Gruppen, Freunden und Personen außerhalb ihres Milieus haben. Deswegen haben wir damit begonnen, verschiedene Städte aufzusuchen, um mit den Frauen zu sprechen. Aber das ist sehr schwierig, weil sich viele von ihnen nicht zu unseren Veranstaltung trauen. Wir haben an verschiedene Gemeinden die Gerichte betreffendes Informationsmaterial in mehreren Sprachen geschickt oder in Lokalzeitungen und -blättern dazu veröffentlicht.

»Es gibt keinen politischen Willen, sich mit den religiösen Gerichten zu befassen.«

Es ist ein langsamer Prozess der Aufklärung, aber ich glaube, das Hauptproblem ist der religiöse Druck, den die Frauen verspüren und der sich sozial niederschlägt, wenn man Gefahr läuft, durch die Missachtung islamischer Regeln von allem und jedem, den man kennt, gemieden zu werden. Das ist eine Form von sozialer Todesstrafe. Um dieser zu entgehen, nehmen Frauen alle möglichen Ungerechtigkeiten in Kauf. Bei einer khula, im islamischen Recht eine Scheidung, die von der Ehefrau initiiert wird, verliert die Frau häufig das Sorgerecht und muss ihre mahr zurückzahlen, eine Mitgift, die sie zur Hochzeit von ihrem Ehemann bekommen hat.

2013 gab es gravierende Kürzungen im Bereich der Rechtshilfe, unter anderem bei der Prozesskostenhilfe für Scheidungsfälle. Hat die britische Austeritätspolitik noch mehr Frauen in die Arme der Sharia-Gerichte getrieben?
Ich denke ja. Die meisten Frauen, die zu den Sharia-Gerichten gehen, sind schutzbedürftig und verfügen nur über ein sehr geringes Einkommen. Wenn es keine Rechtshilfe mehr gibt, die es den Frauen finanziell ermöglicht, vor ein Zivilgericht zu gehen, haben sie keine andere Wahl, als zum Sharia-Gericht zu gehen. Aber es ist nicht so, dass dort kein Geld verlangt würde, und wie bereits erwähnt, werden die Frauen dort gezwungen, Vermögen an den Ehemann abzutreten, um die Scheidung vollziehen zu können.

Das Sharia-Gericht in Birmingham war 2005 das erste, das eine Frau in seinen Richterrat aufgenommen hat. Glauben Sie, das verändert etwas an der Situation?
Wir haben Frauen im iranischen Parlament, die Frauen zum Tod durch Steinigung verurteilen. Die Sharia ist ein Gesetz, das Frauen systematisch diskriminiert, das ändert sich auch nicht dadurch, dass es von Frauen angewandt wird. Und außerdem bin ich mir zu 100 Prozent sicher, dass die Richterinnen in den Sharia-Gerichten nicht die gleichen Rechte haben, über einen Fall zu entscheiden, wie ihre männlichen Kollegen. Denn nach islamischem Recht kann eine Frau kein Richter sein. Darum wurden alle Richterinnen im Iran entlassen, als das islamische Regime an die Macht kam. Frauen können in den Sharia-Gerichten eine Art juristische Beratungsfunktion erfüllen und möglicherweise einige Informationen sammeln, aber das Urteil fällen Männer. Da können Sie sicher sein. Es handelt sich um eine PR-Maßnahme.

Wie fallen die politischen Reaktionen aus?
Es gibt kaum Reaktionen. Ich denke, die Regierung interessiert sich einfach nicht dafür. Es gab zwar ein paar staatliche Untersuchungen, aber die endeten alle ohne richtige Empfehlungen. Es gibt also wirklich keinen politischen Willen, sich mit den Gerichten zu befassen.

Einer dieser Untersuchungsberichte plädiert statt für eine Abschaffung der Sharia-Gerichte für Reformen, da ein Verbot sie in den Untergrund drängen und Frauen für Scheidungen in islamische Länder zwingen könnte, wo sie zusätzlichen Risiken ausgesetzt wären. Wie stehen Sie zu einem Reformansatz?
Nun, es gibt Menschen, die ihre Töchter ins Ausland bringen, um sie genital verstümmeln zu lassen. Sollten wir daraus den Schluss ziehen, dass es besser wäre, wir hätten Kliniken, die das zumindest auf eine für die Mädchen sichere Weise tun? Ich denke, dass man nicht etwas reformieren kann, das grundsätzlich menschenverachtend und frauenfeindlich ist. Das Argument für eine Reform ist in Wirklichkeit ein Argument dafür, nichts zu tun und keine Maßnahmen zu ergreifen.

»Das religiöse Recht ist grundsätzlich nicht vereinbar mit den Bürgerrechten und den Rechten von Frauen. Gemäß der Sharia ist zum Beispiel die Aussage einer Frau halb so viel wert wie die ­eines Mannes.«

Das religiöse Recht ist grundsätzlich nicht vereinbar mit den Bürgerrechten und den Rechten von Frauen. Gemäß der Sharia ist zum Beispiel die Aussage einer Frau halb so viel wert wie die ­eines Mannes. Man kann die Gerichte nicht reformieren, ohne das Recht zu reformieren. Aber das religiöse Recht kann man nicht reformieren, weil es als gottgegeben gilt und niemals geändert werden darf. Und davon abgesehen, warum sollte man sich um Reformen religiöser Gerichte bemühen, wenn es in diesem Land und in vielen anderen Ländern ein Zivilrecht gibt, für das gekämpft wurde und das natürlich nicht perfekt ist, aber sicher um ­einiges besser als das religiöse Recht?

Die ersten Sharia-Gerichte in Großbritannien haben sich in den achtziger Jahren etabliert, ein Bericht im Auftrag des Innenministeriums schätzte die Zahl 2018 auf 30 bis 85, Tendenz steigend.
Die Entstehung dieser Gerichte fällt mit dem Aufstieg der zeitgenössischen islamistischen Bewegung zusammen. Das islamische Regime im Iran kam 1979 an die Macht und das erste Sharia-Gericht wurde 1982 eingerichtet. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg islamischer Staaten und islamischer Gesetze in Ländern, in denen es diese zuvor nicht gab, eine Art Islamisierung des Staats und des Rechts.
Eines unserer Argumente lautet daher, dass es hier nicht darum geht, das Recht der Muslime auf Religion zu verteidigen. Es geht darum, dass man, wenn man die Sharia-Gerichte verteidigt, die islamistische Bewegung verteidigt, die den Muslimen in diesem Land, insbesondere den Frauen, ihr Projekt aufzwingen will. In einem Bericht, den wir für den Sonderausschuss des Innenministeriums erstellt haben, haben wir gezeigt, wie es bei jedem der untersuchten Gerichte Verbindungen zu den Regierungen islamischer Staaten oder zu islamistischen Bewegungen im Ausland gibt. Aber ehrlich gesagt glaube ich, dass das leider niemanden interessiert.

Sie kritisieren in Ihren Texten Linke scharf dafür, dass sie sich unter dem Banner der »Islamophobie« in das Projekt der Islamisten hat einspannen lassen. Was sind Ihre Er­fahrungen mit Linken in Großbri­tannien?
Sie erwischen mich zu einem schlechten Zeitpunkt, ich bin wirklich niedergeschlagen wegen der Weltlage. Normalerweise versuche ich, optimistisch zu sein, aber momentan fällt mir das schwer. Die Rechte brennt gerade diese Welt nieder und die Linke ist so ineffektiv, hat keine klare Politik oder arbeitet mit den Islamisten zusammen. Zusammenarbeit mit linken Bewegungen ist selten möglich. Wenn man zum Beispiel propalästinensisch ist und auf eine Demonstration will, sind dort Anhänger des islamischen Regimes des Iran und der Hamas vertreten. Wenn man etwas gegen sie sagt, wird man von der Demonstration ausgeschlossen.

»Die Rechte brennt gerade diese Welt nieder und die Linke ist so ineffektiv, hat keine klare Politik oder arbeitet mit den Islamisten zusammen.«

Was wären die praktische Schritte, um die religiösen Gerichte abzuschaffen? 
Wir brauchen politischen Druck. Die »Frau, Leben, Freiheit«-Revolte im Iran und die Ereignisse in Rojava haben einen Vorgeschmack darauf gegeben, was möglich ist. Eine Schwächung der politischen islamischen Bewegung weltweit würde auch die Sharia-Gerichte in Großbritannien und überall sonst schwächen. Daher ist die Unterstützung dieser emanzipativen Bewegungen entscheidend, um die Sharia-Gerichte hier herauszufordern.
Das Schiedsgerichtsgesetz ist nicht das eigentliche Problem. Es ist ohnehin nicht für Familienangelegenheiten gedacht. Trotzdem werden vor den Sharia-Gerichten Sorgerechtsstreite verhandelt oder Dinge wie häusliche Gewalt, obwohl das in diesem Land eine Straftat ist. Man kann also nur versuchen, weiterhin Druck auf die Sharia-Gerichte auszuüben, sie weiterhin zu entlarven und Menschen klarzumachen, dass es sich um ein politisches Projekt handelt und nicht um das Recht der Menschen auf Religion.

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Religiöse Schiedsgerichte genießen in Großbritannien Legalität aufgrund des Arbitration Act 1996, der es britischen Bürgern erlaubt, ­zivilrechtlichen Angelegenheiten wie etwa Familien-, Vertrags- und  Handelsstreitigkeiten vor privaten Schiedsgerichten zu verhandeln – einschließlich solchen, die nach religiösem Recht verfahren, solange die Urteile nicht mit britischem Recht konfligieren. Voraussetzung für die Gültigkeit der Urteile ist, dass beide Parteien das Gericht anerkennen. Strafrechtliche Angelegenheiten sind ausgeschlossen.

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Maryam Namazie

Maryam Namazie

Bild:
privat

Maryam Namazie ist eine im Iran geborene Menschenrechtlerin und Autorin, die mehrfach ausgezeichnet wurde und in Großbritannien lebt. Derzeit ist sie Sprecherin der Kampagne »One Law for All« und des Rats der Ex-Muslime Großbritanniens.