»Der Rassismus in Großbritannien war nie weg«
In Ihrem Buch haben Sie einen Teil der britischen Einwanderungsgeschichte erwähnt, der vielen in Deutschland vielleicht weniger geläufig ist – den der Iren.
Die Iren werden oft übersehen, wenn es um die Geschichte der Einwanderung hierzulande geht. Eine Zeitlang waren sie die größte ethnische Minderheit in Birmingham und in Städten wie Liverpool und London. Das liegt an der britischen Kolonialgeschichte – Irland war bis in die 1920er Jahre Teil des britischen Empire. Schon seit der Großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhundert sind viele von dort ausgewandert.
In einer Stadt wie Birmingham ist es völlig normal, irische Vorfahren zu haben – meine kamen in den zwanziger Jahren aus dem County Cork. Es gab auch Diskriminierung. Die St Patrick’s Day Parade in Birmingham ist heute eine der größten der Welt, dabei hat sie gut 20 Jahre lang überhaupt nicht stattgefunden. Das war zur Zeit der »Troubles« in Nordirland. In den Siebzigern zündete die IRA in Großbritannien Bomben. In Birmingham jagte sie zwei Pubs in die Luft und tötete Dutzende Menschen. Die Feindseligkeit gegen Iren war in der Zeit danach sehr groß. Viele Iren wollten sich nicht mehr so deutlich zu erkennen geben.
Also haben auch viele weiße Briten eine Einwanderungsgeschichte in ihrer Familie?
Der berühmte Rechtsextreme Tommy Robinson zum Beispiel. Seine Mutter kam in den Siebzigern aus Irland. In meinem Buch versuche ich, so zu argumentieren: Wenn Leute das Wort »Diversität« hören, denken sie meistens an weiße Briten auf der einen Seite und Schwarze und Asiaten auf der anderen, und wenn die einen mehr werden, werden die anderen weniger, als sei das ein Nullsummenspiel; Britisch zu sein, war aber schon immer facettenreich. Es gab viel Einwanderung, die heute oft vergessen wird, aus Osteuropa zum Beispiel. Ich selbst habe auch noch deutsche Vorfahren.
»1948 wurde dann der British Nationality Act verabschiedet. Dadurch erhielten Menschen aus den Kolonien das Recht, nach Großbritannien zu kommen und dort zu arbeiten.«
Sie sind im Süden Birminghams in Balsall Heath aufgewachsen. Was ist das für ein Viertel?
Es war nach dem Krieg eine Arbeitergegend, die Häuser waren eher heruntergekommenen. 1948 wurde dann der British Nationality Act verabschiedet. Dadurch erhielten Menschen aus den Kolonien das Recht, nach Großbritannien zu kommen und dort zu arbeiten. Viele von ihnen kamen in Balsall Heath unter – die Industriejobs waren in der Nähe, die Miete war billig, und woanders fanden sie wegen der Diskriminierung keine Wohnung.
Warum wurde dieses Gesetz 1948 erlassen?
Damit sollten Arbeitskräfte geholt werden, aus der Karibik und vom indischen Subkontinent, um das vom Krieg zerstörte Land wiederaufzubauen. Man dachte damals, sie würden nach ein paar Jahren zurückkehren. Die Migranten selbst glaubten das in der Regel auch. Sie hatten oft eine sehr idealisierte Vorstellung von Großbritannien. Sie hofften, innerhalb von ein paar Jahren viel Geld verdienen zu können, um sich in der Heimat ein Haus bauen zu können.
Die Realität sah anders aus. Die Löhne waren viel niedriger als erhofft, die Einwanderer erhielten nur die einfachen Jobs. 1965 verbot Großbritannien zwar als erstes Land in Europa rassistische Diskriminierung, aber bis dahin war sie völlig legal gewesen. Mit der Zeit verstanden immer mehr Migranten, dass sie fürs Erste nicht zurückkehren würden. Sie begannen, sich hier ein eigenes Leben aufzubauen, es entstanden all die Läden, Restaurants, Cafés und Moscheen, die für sie Rückzugsorte in einer ziemlich feindseligen Umgebung waren.
Wie hat der Niedergang der Industrie Orte wie Balsall Heath verändert?
In der Nachkriegszeit konnte man, selbst wenn man ein schwarzer Einwanderer aus Jamaika war, fast immer irgendeinen einfachen Job kriegen, in Birmingham zum Beispiel in der Autoindustrie. Bis in die Siebziger herrschte in Großbritannien Vollbeschäftigung, doch In den frühen Achtzigern gab es plötzlich drei Millionen Arbeitslose. Besonders betroffen waren davon Schwarze und Asiaten – und Gegenden wie Balsall Heath, wo zu der Zeit bereits die Mehrheit der Bewohner einer ethnischen Minderheit angehörte. In einem anderen Einwandererviertel in Birmingham, in Handsworth, gab es damals die heftigsten Ausschreitungen seit Generationen, 1981 und dann wieder 1985. Ähnliche riots gab es im Londoner Viertel Brixton, in St Pauls in Bristol und in Moss Side in Manchester.
In den Neunzigern gab es in Balsall Heath statt riots eine Kampagne der Bewohner, um für Ordnung zu sorgen, wenn man so will. Worum ging es dabei?
Damals ging ich dort zur Schule, ich kann mich gut daran erinnern. Das Ganze löste eine landesweite Kontroverse aus. Balsall Heath war nicht nur ein Einwandererviertel, sondern auch eines der bekanntesten Rotlichtviertel des Landes, und zwar schon seit den fünfziger Jahren. Dutzende, wenn nicht Hunderte Prostituierte arbeiteten dort. Man sah sie in den Fenstern der Wohnhäuser auf Kundschaft warten. Das alles hing mit der Einwanderung zusammen. Denn am Anfang kamen vor allem alleinstehende Männer, um zu arbeiten. Stell dir vor, du kommst in den Fünfzigern aus Pakistan nach Birmingham, du kannst kaum Englisch, bist allein – es gab eben Nachfrage.
»Die Kampagne der muslimischen Bewohner von Balsall Heath gegen Prostitution sahen Medien und Politiker als positives Beispiel dafür, dass eine Community selbst Verantwortung übernahm.«
Aber ein paar Jahrzehnte später, in den Neunzigern, hatten viele dieser Männer ihre Familien nachgeholt oder inzwischen geheiratet. Es gab mehrere Moscheen, Religion wurde wichtiger. Die Menschen wurden konservativer und familienorientierter. Insbesondere Muslime unterstützten deshalb die Kampagne gegen die Sexindustrie.
Wie sah das konkret aus?
Man könnte es als »direkte Aktion« beschreiben oder auch als Selbstjustiz. Gruppen von Männern kampierten Tag und Nacht auf den Straßen. Sie hatten Schilder, auf denen zum Beispiel stand: »Deine Frau wird es herausfinden.« Eine Taktik war, die Nummernschilder der Freier aufzuschreiben. Der Presse sagten sie, dass sie die Nummernschilder veröffentlichen oder an die Polizei übergeben würden. Das hatte sicher einen Effekt. Nachts aber waren vor allem junge Männer unterwegs. Sie traten aggressiver auf, schüchterten die Frauen ein und versuchten, sie zu vertreiben.
Hat das funktioniert?
Die Kampagne war unglaublich erfolgreich, die Prostitution verschwand aus dem Viertel. Sehr interessant waren die Reaktionen. Viele Medien und Politiker sahen das Ganze als positives Beispiel dafür, dass eine Community selbst Verantwortung übernimmt. 1997 hatte Labour die Wahlen gewonnen. Die Partei verstand sich als progressiv, wollte aber nicht zurück zum starken Staat der fünfziger und sechziger Jahre. Stattdessen sollte die Eigenverantwortlichkeit von Individuen und Communitys gefördert werden.
Ab den nuller Jahren lag der Fokus auf islamischem Extremismus, nach dem 11. September und dem großen Terroranschlag in London 2005. Merkwürdigerweise wurde die Kampagne in Balsall Heath auch dann noch oft von der Regierung und sogar eher rechten Medien genutzt, um anderen Gegenden mit vielen Muslimen vorzuwerfen, bei ihnen gebe es nicht denselben sozialen Zusammenhalt wie in Balsall Heath und daher rührten die Probleme mit dem islamischen Extremismus.
Aber hat in dieser Zeit »New Labour« die Einwanderung im Land nicht auch zum ersten Mal positiv gesehen?
In den späten Neunzigern gab es eine ganz kurze Periode, als die neue Labour-Regierung mit dieser Idee spielte. Der damalige Außenminister Robin Cook hielt eine berühmte Rede, in der er darüber sprach, dass Chicken Tikka Masala genauso britisch sei wie Fish and Chips. Das Gericht wurde hier erfunden, von den frühen indischen und pakistanischen Restaurants in den Sechzigern und Siebzigern. Sie brauchten ein Gericht, dass cremiger und weniger scharf ist – in anderen Worten: das Weißen besser schmecken würde.
Warum setzte sich diese optimistischere Haltung von New Labour nicht durch?
Aus verschiedenen Gründen. Der 11. September war ein Faktor. Auch gab es erneut riots in den frühen nuller Jahren. Und die rechte Regenbogenpresse begann, immer mehr die Ängste vor Asylsuchenden zu schüren. Damals erstarkte außerdem die rechtsextreme British National Party erneut. Heute ist sie kaum noch bedeutend, aber damals legte sie in Lokalwahlen zu, vor allem in Arbeitergegenden. Labour reagierte darauf, indem die Partei den Ton gegenüber Asylsuchenden und Migranten verschärfte.
Allerdings scheint ethnische Diversität in der britischen Gesellschaft immer normaler und akzeptierter zu werden. Ein gutes Beispiel sind die Tories nach dem EU-Austritt. Deren führende Politiker haben oft Eltern aus Pakistan, Nigeria oder Uganda. Gleichzeitig scheint die Feindseligkeit gegen Einwanderer immer weiter zuzunehmen. Ist das nicht paradox?
Die Geschichte des multikulturellen Großbritannien ist die Geschichte dieses Paradoxons. Insbesondere in den Städten ist Vielfalt einfach Alltag. Das gilt immer mehr auch für die Politik und das kulturelle Leben. Die größten kulturellen Exporte Großbritanniens sind Fußball und Musik. Beides wäre heute unvorstellbar ohne Einwanderung, ob heutige oder frühere. Und gleichzeitig steigt die Ablehnung von Einwanderung.
»Die größten kulturellen Exporte Großbritanniens sind Fußball und Musik. Beides wäre heute unvorstellbar ohne Einwanderung, ob heutige oder frühere. Und gleichzeitig steigt die Ablehnung von Einwanderung.«
Der Rassismus war in Großbritannien eben nie weg. In den Fünfzigern gab es die colour bar. Man konnte einfach sagen, Schwarze dürfen dieses Geschäft nicht betreten, und das war völlig legal. In den Siebzigern gab es eine Neonazi-Organisation, die National Front, die Jagd auf Ausländer machte – sie nannten es »Paki-Bashing«. In den Achtzigern und Neunzigern gab es eine Art institutionellen Rassismus, vor allem bei der Polizei in Einwanderergegenden wie Brixton oder Handsworth.
Aber warum findet das heutzutage Ausdruck in politischen Parteien wie Reform UK und Protesten gegen Einwanderung?
Ein entscheidender Unterschied ist wohl der Aufstieg der sozialen Medien. Das gibt den Menschen mit rechtsextremer oder rassistischer Einstellung mehr Möglichkeiten, einander zu finden und sich zu organisieren. Auch gibt es inzwischen kaum noch Einschränkungen von rassistischen und homophoben Inhalten, vor allem auf Elon Musks Plattform X. Das hat Rassismus normalisiert. In mancher Hinsicht sind wir deshalb heute den fünfziger Jahren näher als den Neunzigern.
Der englische Schauspieler John Cleese hat gesagt, London sei keine englische Stadt mehr. Oft wird dann darauf verwiesen, dass in London nur noch 37 Prozent der Bevölkerung »weiße Briten« seien. Was halten Sie von dieser Aussage?
Diese Denkweise ist auf ziemlich plumpe Art rassistisch, denke ich, weil sie Britischsein mit Weißsein gleichsetzt. Sie ist auch historisch ignorant. Viele Briten haben bis heute nicht den Verlust des Empire verwunden und den Statusverlust, der damit allerspätestens ab den Siebzigern einherging – aber man hat sich nicht richtig damit auseinandergesetzt. Wenn man Jahrhunderte damit verbringt, fast ein Drittel der Erde zu erobern, ist es eigentlich nicht erstaunlich, dass irgendwann Menschen von dort ins »Mutterland« einwandern und dort leben und arbeiten wollen. Die Vielfalt, die John Cleese stört, ist ein Ergebnis dieser Geschichte. Sie ist außerdem ein normaler Teil des modernen Großbritannien. Gut ein Drittel der Bevölkerung ist entweder im Ausland geboren oder hat Eltern oder Großeltern, die eingewandert sind. So sind Briten heute einfach.
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Kieran Connell ist Historiker und wuchs im Viertel Balsall Heath in Birmingham auf. Er beschäftigt sich vor allem mit der Sozial- und Kulturgeschichte des zeitgenössischen Großbritanniens. Vergangenes Jahr erschien sein Buch »Multicultural Britain: A People’s History«. Außerdem schreibt er für den »Guardian«, die »Irish Times« und den »Irish Independent«. Derzeit arbeitet er an einer Geschichte von Salman Rushdies Roman »Die Satanischen Verse«.