04.09.2025
Soledad Deza, Rechtsanwältin, im Gespräch über den Anstieg von Gewalt gegen Frauen in Argentinien

»Der Rückzug des Staats betrifft besonders Frauen«

Eineinhalb Jahre nach Amtsantritt des argentinischen Präsidenten Javier Milei zeigen sich die Folgen seiner antifeministischen Politik. Mit der Frauenrechtlerin Soledad Deza sprach die »Jungle World« über den Anstieg von Gewalt gegen Frauen in Argentinien.

Am ersten Tag seiner Präsidentschaft schaffte Javier Milei das Ministerium für Frauen ab, alsbald löste er das Unterstaatssekretariat für den Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt auf. War das lediglich eine weitere Maßnahme seiner rabiaten Austeritätspolitik?
Nein, Milei hat den Frauen und LGBTs vom ersten Tag an den Kampf angesagt. Auch wenn er allgemein eine Politik der Staatsabwicklung verfolgt, ist die politische Entscheidung, die Gleichstellungsförderungen und Gewaltpräventionsprogramme zu kassieren, nicht völlig wahllos. Das ist ideologisch begründet. Die Regierung leugnet, dass es das Problem der geschlechtsspezifischen Gewalt überhaupt gibt.

Dem Argentinien vor Milei kam international eine Vorbildfunktion in Sachen Frauenrechte zu. Wie sahen die Institutionen zu deren Schutz aus, die heute angegriffen werden?
Das Ministerium für Frauen, Geschlechter und Vielfalt beziehungsweise dessen Vorläufer wurde 2017 gegründet. Bereits 2009 hatte sich der Kongress verpflichtet, einen speziellen Bereich zum umfassenden Schutz vor Gewalt gegen Frauen einzurichten. In der Folge gründete man ein Referat für sexuelle und reproduktive Gesundheit beim Gesundheitsministerium und legte ein entsprechendes Förderprogramm innerhalb des Justizministeriums auf. Das Ministerium für Frauen, Geschlechterfragen und Vielfalt finanzierte wichtige Programme, zum Beispiel eines zur Verringerung ungewollter Schwangerschaften bei Jugendlichen, das nun eingestellt wurde, oder Programme zur Unterstützung von Opfern patriarchaler Gewalt.

»Es gab eine gute Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Staat, die wird nun blockiert.«

Es gab eine gute Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Staat, die wird nun blockiert. Durch den Entzug der staatlichen Unterstützung und die Auflösung der Institutionen verlieren die Provinzen an Handlungsmöglichkeiten. Die öffentliche Daseinsvorsorge wird auf nationaler Ebene delegitimiert und finanziell ausgehöhlt.

Sie arbeiten in der nördlichen Provinz Tucumán. Wie wirkt sich die Regierungspolitik dort auf lokaler Ebene aus?
Der Norden Argentiniens ist konservativer als das Zentrum und der Süden. Die Strukturen sind sehr religiös geprägt, so auch die Geschlechterbilder. In einer konservativeren Umgebung verschärft sich jede Ungleichheit. Die Provinzen im Norden sind auch ärmer und mit der Armut wächst auch die Gewalt im Allgemeinen und die geschlechtsspezifische Gewalt im Speziellen.
Der Rückzug des Staats aus dem gesellschaftlichen Leben betrifft hier besonders Frauen negativ. Zum Beispiel, wenn sie Gewalt ausgesetzt sind, wenn sie in abgelegenen Gebieten leben, wenn sie sich ausschließlich um die Kinder kümmern. Armut und finanzielle Kürzungen wirken sich auf die Mobilität aus. Es kann schwieriger sein, in die städtischen Zentren zu gelangen und eine Busfahrt zu bezahlen, um Anzeige zu erstatten. Oft sind die Opfer von patriarchaler Gewalt auf kostenlose Rechtshilfe angewiesen, die hatte das Ministerium für Frauen finanziert.
Auch die Programme für sexuelle Gesundheit und verantwortungsvolle Fortpflanzung werden nicht mehr staatlich gefördert, die kostenlose Vergabe der Pille danach hat die Regierung ebenfalls eingestellt. Das gesetzlich garantierte Recht auf Abtreibung besteht noch, aber nicht alle Frauen können sich die Medikamente leisten.

Das argentinische Recht kennt den Straftatbestand Femizid. Nun droht die Regierung damit, ihn streichen zu lassen – ebenfalls mit der Begründung, es gebe keine geschlechtsspezifische Gewalt. Welche Auswirkung hätte das auf ihre Arbeit?
Totschlag ist seit jeher ein Tatbestand im Strafgesetzbuch. Im Jahr 2012 wurde der erschwerende Umstand des Femizids für Tötungen von Frauen eingeführt, die in einem Kontext geschlechtsspezifischer Gewalt und von einem Mann verursacht wurden. Justizminister Mariano Cúneo Libarona hat nun vorgeschlagen, den erschwerenden Umstand des Femizids abzuschaffen – mit dem Argument, es mache keinen Unterschied, ob man einen Mann oder eine Frau tötet. Vielmehr solle man die Strafen für Falschbeschuldigung im Falle von geschlechtsspezifischer Gewalt verschärfen.

»Fernanda hatte dreimal Anzeige erstattet, das letzte Mal am Tag, bevor der Ex-Freund ihr ein Messer an die Kehle gesetzt hat.«

Dabei sind solche Fälle längst im bestehenden allgemeinen Straftatbestand für falsche Bezichtigungen geregelt. Offiziellen Zahlen zufolge richten sich 97 Prozent der Anzeigen wegen häuslicher Gewalt gegen Männer. Die Einführung des erschwerenden Umstands des Femizids war eine Möglichkeit, mit rechtlichen Mitteln auf geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam zu machen.
Für mich als Anwältin würde die Streichung des Femizids aus dem Strafgesetz lediglich dazu führen, eine andere Strafnorm anzuwenden und zu versuchen, durch andere erschwerende Umstände eine lebenslange Freiheitsstrafe zu erreichen. Das Problem ist nicht rechtlicher Natur, sondern liegt darin, was ein Staat der Gesellschaft politisch mitteilen will, wenn er diese Art von Verbrechen relativiert. Denn das Strafgesetzbuch sieht auch erschwerende Umstände vor, wenn die Opfer den Sicherheitskräften angehören. Aber die machen nicht die Hälfte der Bevölkerung aus, wie es bei Frauen der Fall ist. Der Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts würde zukünftig wieder weniger Bedeutung zugemessen werden, wenn es sich lediglich um einen weiteren Todesfall handelt.

Sie sagten der britischen Zeitung »Guardian«, dass die Zahl der von Familien- und Strafgerichten ausgesprochenen Schutzanordnungen rapide gesunken ist, sich 2024 gegenüber 2023 fast halbiert, im Fall der Strafgerichte sogar mehr als halbiert habe. Woran liegt das?
Zum einen daran, dass die Strafgerichtsbarkeit keine Angaben zu den Schutzanordnungen gemacht hat, sondern nur die Familiengerichtsbarkeit. Zum anderen muss sich aber auch die Frage stellen, ob Frauen ausreichend befähigt wurden, eine Strafanzeige zu stellen.

Anfang des Jahres wurden in der Provinz Tucumán die Zahl der Ermittlungsbüros der Staatsanwaltschaft, die sich mit geschlechtsspezifischer Gewalt befassen, von sieben auf vier verringert. Frauenrechtsorganisationen kritisieren, der Ermittlungseifer der Polizei lasse spürbar nach. Sie vertreten als Anwältin die Familie von Fernanda Soledad Yramain, die vergangenes Jahr von ihrem Ex-Partner umgebracht wurde. Würden Sie sagen, die Politik der Regierung Milei diese Tat begünstigt hat?
Fernanda hat dreimal Anzeige erstattet, das letzte Mal am Tag, bevor er ihr ein Messer an die Kehle gesetzt hat. Die Anzeigen wurden nicht aufgenommen, sie wurde getötet und hinterließ drei kleine Kinder als Waisen. Ich glaube, dass ihre Ermordung durchaus mit der derzeitigen Politik zu tun hat. Sie hat alles getan, was sie hätte tun können, die Behörden haben nichts von dem getan, was sie hätten tun müssen. Der Staat ist für diesen Tod verantwortlich.

Aus diesem Grund haben Sie ein Beschwerdeverfahren gegen die Ermittler angestrengt. Gibt es diesbezüglich Neuigkeiten?
Die Staatsanwaltschaft hat eine Untersuchung einleitet, um strafrechtlich zu klären, ob es sich um eine Pflichtverletzung von Beamten handelt. Das Problem ist, dass die Justiz in Argentinien langsam ist. Da spricht die Zeit manchmal von selbst ein Urteil. Damit Sie sich ein Bild machen können: Im Jahr 2012 habe ich María Magdalena vertreten, eine junge Frau, die geburtshilfliche Gewalt angezeigt hat, weil sie ohne Betäubung entbinden musste. Der Prozess zu diesem Fall wird kommende Woche eröffnet. Deshalb ist feministische Verteidigung auch so wichtig, denn welcher normale Anwalt würde einen Fall 13 Jahre lang verfolgen?

Wie blicken Sie in die Zukunft?
Ich sehe doppelt so viel Arbeit für feministische Organisationen, wenn sich der Staat weiter aus der sozialen Realität der Frauen zurückzieht. Gleichzeitig verschärfen sich die Umstände auf allen Ebenen, der Alltag ist von Gewalt geprägt. Es muss sich bald etwas ändern, bevor die Hoffnung ganz 
verschwindet.

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Porträt Soledad Deza

Soledad Deza

Bild:
privat

Soledad Deza arbeitet als Rechtsanwältin in Tucumán, einer Provinz im Norden Argentiniens. Sie ist außerdem Mitgründerin und Präsidentin der Frauenrechtsorganisation Mujeres por Mujeres (Frauen für Frauen, MxM). Derzeit vertritt sie die Familie von Fernanda Soledad Yramain, die im Oktober vergangenen Jahres von ihrem Ex-Freund erstochen wurde.