21.08.2025
Caspar Schliephack, Islamwissenschaftler, im Gespräch über neue Strategien islamistischer Influencer

»Der Osten vereint eine Reihe von Risikofaktoren«

Islamistische Agitatoren nutzen vermehrt die Alltagskultur, soziale Medien und unverdächtige Medienformate, um neue Zielgruppen zu erreichen. Der Islamwissenschaftler Caspar Schliephack spricht mit der »Jungle World« über veränderte Strategien islamistischer Influencer, Radikalisierungsrisiken in Ostdeutschland und die besondere Rolle der nordkaukasischen Diaspora.

Was macht die islamistische Influencer-Szene in Deutschland aus?
Salafistische Prediger wie Pierre Vogel haben jahrelang offensiv PR betrieben und große mediale Aufmerksamkeit erzielt. Lange Zeit bekannten sich Personen aus diesem Predigermilieu offen zur Strömung des Salafismus. Damit haben sie das Bild vom Islamismus stark geprägt. Im Vergleich zu den zehner Jahren haben sich Auftreten und Herangehensweise in diesem Bereich aber deutlich verändert und diversifiziert.

Inwiefern?
In der öffentlichen Wahrnehmung ist mittlerweile stark verankert, dass der Salafismus etwas Problematisches darstellt. Das haben die Führungsfiguren der Szene begriffen. Daher geben sich die Prediger nun vor allem alltagsnah; sie versuchen, als Teil eines muslimischen Mainstreams aufzutreten. Doch ihre Sicht auf die Religion ist immer noch fundamentalistisch, viele vertreten weiterhin extremistische Positionen. Bloß das Wissen darüber, was strafrechtlich relevant ist, ist gewachsen – und die Bereitschaft, sich öffentlich zu einer bestimmten Strömung oder Gruppierung zu bekennen, ist gesunken.

Der Verfassungsschutz schrieb in seinem jüngsten Bericht, man müsse kein Salafist mehr werden, um Jihadist zu sein. Was ist damit gemeint?
Genaugenommen musste man das eigentlich noch nie. Es gibt islamistische Gruppierungen – etwa die Hizbollah –, die ideologisch nichts mit dem Salafismus und seinen gewalttätigen Formen zu tun haben, die ihren Kampf gegen ihre Gegner aber trotzdem explizit als Jihad deklarieren. Was die Behörde damit vermutlich sagen will, ist, dass islamistische Akteure – darunter auch Terrororganisationen – mittlerweile gezielt in neuen Milieus fischen.

»Der ländliche Raum spielt in der Islamismusforschung generell eine untergeordnete Rolle und Ostdeutschland – inklusive der Situation in ostdeutschen Groß­städten – kommt fast gar nicht vor.«

Auch wenn es für den »klassischen« Predigerstil eines Pierre Vogel nach wie vor eine Zielgruppe gibt, sind mittlerweile Themen wie Kampfsport, HipHop und Popkultur wichtige Anknüpfungspunkte. Und bei jüngeren Radikalisierungsfällen hat sich der Abstand zwischen ideologischem Erstkontakt und Bereitschaft zur Ausübung eines Terroranschlags stark verkürzt. In einigen Fällen von Online-Rekrutierung wurde der Kontakt zur analogen salafistischen Szene dabei gleich ganz übersprungen.

Welche Strategien wenden sie dabei an?
Eine zentrale Strategie ist der Einsatz sogenannter Brückennarrative – etwa antisemitische Verschwörungserzählungen. Auch der israelisch-palästinensische Konflikt wird instrumentalisiert: Islamistische Influencer inszenieren sich als authentische Experten, um sich bei jungen Menschen als glaubwürdige Stimme zu etablieren.

Sie beschäftigen sich intensiv mit Islamismus in Ostdeutschland. Wie kam es dazu, dass Sie sich mit diesem Nischenphänomen, wie man meinen möchte, zu befassen?
Wir haben beobachtet, dass in Ostdeutschland neue muslimische Gemeinden entstehen, und zwar unter schwierigen Bedingungen. Diese jungen Gemeinden stehen vor großen Herausforderungen: Sie sind strukturschwach, haben kaum Erfahrungen in Selbstorganisation, kein stabiles Finanzmodell und sind häufig von Anfeindungen und Übergriffen betroffen. Islamisten nutzen genau diese Schwachstellen, um sich als religiöse Autorität anzubieten und Einfluss zu gewinnen.

Viel Literatur zu dem Thema findet man bisher nicht …
Der ländliche Raum spielt in der Islamismusforschung generell eine untergeordnete Rolle, und Ostdeutschland – inklusive der Situation in ostdeutschen Großstädten – kommt fast gar nicht vor. Es fehlt an Aufmerksamkeit, dabei wäre genau jetzt der richtige Zeitpunkt, genauer hinzuschauen: Derzeit ist Islamismus im Vergleich zu Rechtsextremismus definitiv das kleinere Phänomen. Aber wir gehen davon aus, dass in den nächsten zehn bis 20 Jahren Radikalisierungsprozesse in Ostdeutschland deutlich zunehmen werden.

Was sind die Risikofaktoren für islamistische Radikalisierung in Ostdeutschland?
Der Osten vereint mit Blick auf einige hier relevanten Zielgruppen eine Reihe von Risikofaktoren: autoritäre Erziehungsstile, Diskriminierungserfahrungen, ausgeprägte soziale und ethnische Segregation – besonders in ostdeutschen Großstädten. Gleichzeitig fehlen in diesen Zielgruppen oft Schutzfaktoren wie schulischer oder beruflicher Erfolg. Und: Die muslimischen Gemeinden, die es gibt, sind schwach aufgestellt. Demgegenüber gehen die islamistischen Akteure und Influencer sehr zielgruppenorientiert vor.

Welche Rolle spielen Orte wie die al-Rahman-Moschee in Leipzig, die der salafistische Prediger Hassan Dabbagh führt?
Die islamistische Szene in Ostdeutschland ist insgesamt stark informell organisiert, Sachsen bildet eine Ausnahme. Die al-Rahman-Moschee in Leipzig ist eines der wenigen salafistischen Zentren, die über viele Jahre hinweg gewachsen sind. Lange Zeit war das Angebot in der Region fast alternativlos – auch viele gläubige Muslime, die sich ausdrücklich nicht dem Salafismus zuordnen, beten dort.

»Wenn einzelne Akteure mit den richtigen Stichwörtern wie ›Bildung‹ oder ›Integration‹ auftreten, werden sie von vielen erst einmal dankbar angenommen.«

Was hat diese Moschee so einflussreich werden lassen?
Neben der klassischen Freitagspredigt bietet sie niedrigschwellige Angebote – Jugendarbeit, Seelsorge, Eheberatung, Familienhilfe. Außerdem verfügt sie über große Räumlichkeiten und will sogar noch weiter expandieren – das verschafft dieser Einrichtung einen großen strukturellen Vorteil gegenüber anderen Gemeinden. Das knappe religiöse Angebot spielt den Moscheebetreibern in die Karten.

Kommt es vor, dass islamistische Vereine von Kommunen fälschlicherweise für sinnvolle Ansprechpartner gehalten werden?
Wenn einzelne Akteure mit den richtigen Stichwörtern wie »Bildung« oder »Integration« auftreten, werden sie von vielen erst einmal dankbar angenommen. Ein Beispiel ist die 2019 aufgelöste Sächsische Begegnungsstätte. Der Name klang genau nach dem, was sich Bürgermeister oder Behördenvertreter wünschen. Doch der Verein wurde später der Muslimbruderschaft zugeordnet.

Welchen Rat würden Sie kommunalpolitisch Verantwortlichen mitgeben, die sich im Alltag mit solchen Herausforderungen konfrontiert sehen?
Niemand kann Experte für alles sein. Und das ist auch nicht nötig. Wichtig ist: Es gibt fachkundige zivilgesellschaftliche Beratungsstellen, an die man sich wenden kann. Kommunen sollten diese Ressourcen nutzen.

Sie sagen, dass Radikalisierungsfaktoren in der nordkaukasischen, insbesondere tschetschenischen Diaspora besonders stark ausgeprägt sind. Warum?
Zunächst: Wir sprechen in Deutschland von etwa 50.000 Nordkaukasiern, davon sind rund 40.000 Tschetschenen – die genaue Zahl ist schwer zu bestimmen. Wichtig ist mir, eines klarzustellen: Die große Mehrheit der Tsche­tschenen lebt völlig unauffällig, gesetzestreu und friedlich in Deutschland. Das wird oft vergessen, auch weil viele stereotype Bilder aus Russland hier übernommen wurden.

Und trotzdem sehen Sie ein erhöhtes islamistisches Radikalisierungspotential?
Ja, islamistische Akteure gewinnen in der Community Einfluss. Dafür gibt es mehrere Gründe. Die tschetschenische Gesellschaft wurde über Jahrhunderte hinweg durch Zarismus, Sowjetherrschaft und die Russische Föderation brutal unterdrückt. Das hat eine Art Überlebensstrategie hervorgebracht: misstrauisch zu sein gegenüber allem Äußeren, besonders gegenüber staatlichen Institutionen. Zudem tragen viele Familien biographische Traumata mit sich, darunter Erfahrungen mit Kampfhandlungen oder Folter. Diese Prägungen wirken bis heute nach und können Radikalisierungsprozesse begünstigen – und Präventionsangebote erschweren.

Und wie kommt die islamistische Radikalisierung konkret zustande?
Es gibt mehrere Kampfgebiete, in denen tschetschenische Islamisten präsent sind – Syrien, Zentralasien, Ukraine, mal auf russischer Seite, mal nicht. Online werden diese Kämpfer als Helden inszeniert – gerade auf junge Männer wirkt das als identitätsstiftendes Angebot. Außerdem gibt es eine erschreckend hohe Zahl an tschetschenischsprachigen islamistischen Online-Angeboten. Das reicht von salafistischen Influencern über transnationale Predigernetzwerke bis hin zu Kanälen von Terrororganisationen. Der unsichere Aufenthaltsstatus von Tschetschenen wirkt sich ebenfalls als Risikofaktor aus. Zudem existieren gezielte Propaganda- und Rekrutierungsnetzwerke des Kadyrow-Regimes.

»Dass hochrangige Vertreter des Kadyrow-Regimes hier jahrelang ein- und ausreisen und sich teilweise geschäftlich und kriminell betätigen konnten, ist ein Skandal.«

Die Herrschaft von Ramsan Kadyrow über die russische Teilrepublik Tschetschenien trägt also zur Radikalisierung in den Communitys hier bei?
Ja, das Kadyrow-Regime ist selbst islamistisch, das muss man ganz offen so sagen. Kadyrow spricht öffentlich davon, dass unter Putins Schutz in Tschetschenien ein islamischer Staat existiere. Das Regime bezeichnete den russischen Angriffskrieg in der Ukraine als Jihad. Es kursieren Videos von Kadyrows Truppen im Einsatz – etwa in Mariupol. Unterlegt sind diese Bilder mit Hymnen syrischer Jihadisten.

Sie haben sich für ein Einreiseverbot für Vertreter des Kadyrow-Regimes nach Deutschland ausgesprochen. Was würde das bringen?
Wir haben es hier mit einer sehr konkreten Gefahr für die innere Sicherheit zu tun: Spionage, organisierte Kriminalität, Druck auf Exil-Communitys. Viele dieser Kadyrow-Funktionäre sind in Deutschland unterwegs. Jeder Tschetschene in Europa kennt ihre Gesichter. Sie sammeln Informationen, kontrollieren die Diaspora und nutzen dafür auch Strukturen der organisierten Kriminalität. Demokratisch gesinnte Tschetschenen riskieren unter diesen Bedingungen buchstäblich ihr Leben. Dass hochrangige Vertreter des Kadyrow-Regimes hier jahrelang ein- und ausreisen und sich teilweise geschäftlich und kriminell betätigen konnten, ist ein Skandal.

Was braucht es konkret aus Ihrer Sicht?
Ein konsequentes Vorgehen gegen Strukturen des Kadyrow-Regimes in Deutschland sowie gegen hier aktive islamistische Netzwerke – auch durch Einreiseverbote. Zweitens: Prävention innerhalb der tschetschenischen Community stärken – dort, wo sich Menschen für demokratische Öffnung einsetzen. Und ein besseres Monitoring und eine Erforschung dieser Szene in Deutschland.