»Beide Seiten wollen einen Fetisch-Juden«
Wie kam der Dokumentarfilm, den Sie zusammen mit Ihrer Kollegin Thais Fridman über die Folgen des 7. Oktobers in Israel gedreht haben, in Brasilien an?
Die Filmpremiere fand in meiner Synagoge in São Paulo statt, der Rabbiner hielt eine Ansprache. Wir hielten es aus Sicherheitsgründen für notwendig, die Premiere dort zu veranstalten. Danach fanden alle Vorführungen außerhalb Brasiliens statt: in Argentinien und Uruguay, aber hier in Brasilien gab es keine weiteren Vorführungen.
Warum?
Keiner hatte Interesse daran. Wenn ich zu den Veranstaltungsorten hinging und sagte: »Es gibt einen Dokumentarfilm, ich war in Israel«, dachten die Leute zuerst, es ginge um die palästinensische Sache, und zeigten sich interessiert. Krieg verkauft sich gut – von den Waffen bis zu den Bildern –, das ist leider eine Industrie. Als ich sagte: »Nein, aus israelischer Sicht. Ich bin Jude und wollte einen anderen Blickwinkel einbringen und über Koexistenz sprechen«, ließen mich die Leute nicht mal mehr ausreden. Sie unterbrachen mich mit Aussagen wie: »Nein, im Moment läuft das nicht. Wir sind für Palästina.«
Warum war das in Uruguay oder Argentinien anders?
Der Film wurde bei jüdischen Veranstaltungen gezeigt, und ich denke, dass im Falle Argentiniens eine Rolle gespielt hat, dass das Land eine viel größere jüdische Bevölkerung hat als Brasilien.
Wie erleben Sie den Antisemitismus in der brasilianischen Linken?
Es gibt ihn schon lange. Zusätzlich befeuert wurde er zum Beispiel dadurch, dass bei rechtsextremen Demonstrationen von Anhängern des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro öfters israelische Flaggen geschwenkt wurden. Am 7. Oktober brach sich der Antisemitismus dann aber nicht langsam, sondern äußerst brutal Bahn. Auf einmal wurden die Israelis als Mörder dargestellt, der Zionismus wurde mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt.
»Bei dem jährlichen Marcha para Jesus (Marsch für Jesus) in São Paulo sieht man tausendfach die israelische Flagge. Die jüdische Gemeinschaft respektiert das zwar, aber sie hat absolut nichts damit zu tun.«
Gibt es spezifische Gründe, die den Antisemitismus der brasilianischen oder allgemein der südamerikanischen Linken erklären können?
Die südamerikanische Linke neigt dazu, antiimperialistisch zu sein. Jede Nation, die mit den USA verbündet ist, wird ihr zum Feind – und umgekehrt. Das geht vor allem auf die Konfliktgeschichte der fünfziger und sechziger Jahre zurück. Gegen die Interventionen der USA – wie zum Beispiel in Bezug auf den Militärputsch 1964 in Brasilien, der ja mit Hilfe der CIA erfolgte – etablierten sich Guerillakulturen, die im Namen des sogenannten Volkes gegen die USA kämpften. Che Guevara und Fidel Castro wurden zu Symbolen des Volksaufstands und die USA zum Symbol für alles Übel der kapitalistischen Welt.
Das Problem ist also ein antiimperialistisches Weltbild, das an den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern herangetragen wird?
Den Leuten war es scheißegal, dass am 7. Oktober Tausende Zivilisten ermordet wurden. In dem Moment hieß es nur, die Hamas sei eine Antwort der unterdrückten Menschen auf Israel, welches als ein Kolonialstaat gilt. Die ganze Sache wird zu einer von gut gegen böse, Gott gegen Teufel, und im Kampf gegen Letzteren sind alle Mittel recht. Nach dem Motto: »Scheiß drauf, wer gestorben ist, wichtig ist, dass dieser Aufstand stattgefunden hat.«
Sie haben bereits erwähnt, dass es in Brasilien eine sich proisraelisch gebende extreme Rechte gibt. Was sehen deren Anhänger in Israel?
In Brasilien gibt es viele Evangelikale. Sie haben eine Vorstellung vom Juden, die wir als »imaginären Juden« bezeichnen. Sie sehen Israel als ein durch und durch religiöses Land. Die israelische Bevölkerung ist aber viel pluralistischer und fortschrittlicher. Es ist das Land, in dem eine der größten LGBT-Paraden Asiens stattfindet. Das wissen diese Menschen nicht.
»Wer täglich dafür gemobbt wird, dass er arm ist, für den ist eine religiöse Institution, die ihn aufnimmt und ihm sagt, dass er Erfolg haben wird, eine große Hilfe.«
Die extreme Rechte in Brasilien hat sich verschiedene israelische und jüdische Symbole angeeignet, beispielsweise hat sie die Flagge Israels auf Demonstrationen vollständig vereinnahmt. Die Menschen haben keine Ahnung, aber für sie ist das etwas, das sich ganz auf die Bibel bezieht. Dabei hatte die Gründung des Staats Israel in Wirklichkeit überhaupt nichts mit dem biblischen Text zu tun. Als Jair Bolsonaro 2019 an die Macht kam, gewannen solche Demonstrationen an Stärke. Es gibt in São Paulo jährlich diese evangelikale Veranstaltung namens Marcha para Jesus (Marsch für Jesus). Dort sieht man tausendfach die israelische Flagge. Die jüdische Gemeinschaft respektiert das zwar, aber sie hat absolut nichts damit zu tun.
Viele der ärmsten Menschen Brasiliens zieht es zur evangelikalen Kirche. Warum?
Die Linke in Brasilien ist sehr akademisch geprägt. Es ist wie in der Sprache, sie ist überladen und anspruchsvoll. Wir haben eine Linke, die sich schwer verständlich ausdrückt, die manchmal sogar arrogant und hochmütig ist. Auf der anderen Seite haben wir eine einfachere Bevölkerung. Menschen aus ärmeren Schichten brauchen teilweise zwei Stunden, um zur Arbeit zu gelangen. Eine solche Person wird am Ende des Tages nichts über Karl Marx oder Revolutionstheorie wissen wollen. Sie geht in die Kirche, wo ihr religiöser Führer Psalm 23 zitiert und ihr sagt, dass sie im Leben Erfolg haben wird. Warum sollte diese Menschen an die Gemeinschaft denken, wenn sie selbst zu ihren Opfern zählen?
Die meisten Evangelikalen sind Schwarze, etwa 70 Prozent der Gläubigen in den Vororten sind evangelikal. Wer täglich dafür gemobbt wird, dass er arm ist, für den ist eine religiöse Institution, die ihn aufnimmt und ihm sagt, dass er Erfolg haben wird, eine große Hilfe. Und außerdem: Könnte er sich stattdessen mit der Kraft einer gewerkschaftlichen Rede identifizieren? Nein, denn die gibt es einfach nicht.
Die evangelikalen Kirchen machen sich also die kapitalistische Leistungsideologie zunutze, dass man durch harte Arbeit ein besseres Leben erreichen könne?
In Brasilien bedeutet soziale Ungleichheit oft unmittelbare Gewalt. Dieser kann man durch den Kauf eines Autos oder den Auszug aus einer Favela entkommen. In südamerikanischen Ländern ist das Wohlstandsevangelium (Wohlstand und Erfolg als sichtbare Zeichen für die Gunst Gottes; Anm. d. Red.) daher extrem stark ausgeprägt. Ich kann diesen Wunsch der Menschen nach mehr Wohlstand nicht verteufeln, denn so, wie sie jetzt leben, leben sie nicht, sondern überleben nur. Aber die gefährliche Seite daran ist, dass derselbe Pastor, der ihnen den Wohlstand verspricht, sagen wird, dass Homosexuelle nicht in den Himmel kommen.
»Antisemitismus hat immer eine Rolle gespielt. Extrem stark zu spüren bekommen habe ich ihn, als man mich nach dem 7. Oktober als Kolonisator bezeichnete, als jemanden, der Blut an den Händen hat. Ich habe Freundschaften verloren.«
Sie sind selbst in einer Favela aufgewachsen. Wie haben Sie Kindheit und Jugend erlebt?
Es war krass, dort aufzuwachsen, im guten wie im schlechten Sinne. Das führte dazu, dass sich meine Sicht auf die Gesellschaft, meine Wut und meine Empörung mit meiner Sensibilität verbanden und ich das äußern musste. Ich hatte Freunde in der Schule, die kriminell wurden; ich selbst habe mich für die Kunst entschieden. Ich habe miterlebt, wie diese evangelikalen Kirchen in den Vororten gewachsen sind, wie sie Teil des Alltags geworden sind. Aber als Jude haben mich die Evangelikalen respektiert, weil ich in ihren Augen zum Volk Israel gehörte.
Antisemitismus hat trotzdem immer eine Rolle gespielt. Extrem stark zu spüren bekommen habe ich ihn, als man mich nach dem 7. Oktober als Kolonisator bezeichnete, als jemanden, der Blut an den Händen hat. Ich habe Freundschaften verloren. Nicht nur ich, sondern viele jüdische Freunde und Freundinnen haben diesen Stich gespürt. Denn wir sind allein, wir stimmen nicht mit dem Diskurs der Rechten, geschweige denn der extremen Rechten, überein und werden von der Linken links liegen gelassen. Ich denke, dass beide Seiten einen Fetisch-Juden wollen.
Welche Einflüsse haben Ihre Arbeit als Künstler geprägt?
In der Kunst versuche ich, das, was wir hier im Land haben, wertzuschätzen. Brasilien ist ein riesiges Land mit vielen verschiedenen Lebensverhältnissen und Kontrasten. Um ein Beispiel zu nennen: Ich habe meinen kürzlich mit KI-Hilfe erstellten Kurzfilm »Roots of the End« auf mehreren Filmfestivals in Europa gezeigt. Darin habe ich meine Erinnerungen aus einer Dokumentationsreise ins Amazonasgebiet im Jahr 2023 verarbeitet. Es geht hier um die Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes und um die dort lebenden indigenen Menschen, die bedroht sind. Das hat mit brasilianischer Geschichte und viel mit der derzeitigen Politik zu tun. Aber letztlich betrifft die Zerstörung des Amazonas den ganzen Planeten, und darauf will ich aufmerksam machen.
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Guigo Gerber ist Künstler, Filmemacher und Journalist und lebt in São Paulo. Im Dezember 2023 reiste er nach Israel und drehte dort zusammen mit Thais Fridman den dokumentarischen Kurzfilm »The Next Minute«, in dem Szenen des Hamas-Massakers vom 7. Oktober gezeigt, Interviews mit Israelis geführt und die Demonstrationen für die Rückholung der Geiseln begleitet wurden.