03.07.2025
Faisal Saeed al-Mutar, US-amerikanisch-irakischer Menschenrechtler, im Gespräch über den Einfluss proiranischer Milizen im Irak

»Die irakischen Milizen sind eine Art letztes Mittel des Iran«

Die »Jungle World« sprach mit dem US-amerikanisch-irakischen Menschenrechtler Faisal Saeed al-Mutar über den iranischen Einfluss im Irak, die Gründe für die Zurückhaltung der proiranischen Milizen während des Zwölftagekriegs zwischen Israel sowie den USA und dem Iran und darüber, wie die iranische Opposition unterstützt werden kann.

Welchen Einfluss besitzt der Iran zurzeit in der irakischen Regierung und der Gesellschaft?
Die Regierung der Islamischen Repu­blik Iran hat einen enormen Einfluss sowohl auf der politischen als auch auf der sozialen Ebene. Die irakische Regierung wird von einer Koalition aus vielen Parteien gebildet und einige davon erkennen die Herrschaft des höchsten schiitischen Rechtsexperten an, also des religiösen Führers des Iran, Ali Khamenei. In den vergangenen Tagen feierten viele Iraker den angeblichen Sieg der Islamischen Republik Iran über Israel.

Andererseits haben die Kräfte der Volksmobilisierung – ein Zusammenschluss von 40 proiranischen, fast ausschließlich schiitischen Milizen im Irak – in dem Zwölftagekrieg nichts gegen Israel unternommen.
Meine Annahme ist, dass sie zurückgehalten wurden. Iran möchte nicht, dass der Irak auf die Sanktionsliste der USA kommt. Denn der Iran braucht den Irak, um Geld zu waschen, und für alle Arten von finanziellen Transaktionen. In der Auseinandersetzung mit den USA sind die irakischen Milizen eine Art letztes Mittel des Iran.

»Durch den Kampf gegen den IS hat das proiranische Lager an Legitimität gewonnen. Nun wollen die Anhänger dieses Lagers Dinge wie die Kinderehe.«

Zudem sind die irakischen Milizen wie auch die Kräfte der Volksmobilisierung an der Regierung beteiligt. (Das Bündnis Fatah, eine der vier großen Koalitionsparteien, besteht hauptsächlich aus verschiedenen Gruppen der Volksmobilisierungskräfte; Anm. d. Red.). Sie haben bereits viel Einfluss, beziehen üppige Gehälter und haben einen vollen Bauch. Deshalb sind sie zufrieden und meinen, sie bräuchten nicht gleich in einen Krieg ziehen. Sie sehen das nicht als dringlich an. Sie werden nur in extremen Situationen eingreifen, wenn sie etwa glauben, es gehe um die Existenz der Islamischen Republik Iran. Aber so wie es aussieht, war das iranische Regime in der Lage, die Angriffe der vergangenen Wochen zu überstehen.

Anfang des Jahres wurde im Irak ein Gesetz verabschiedet, das unter anderem das Heiratsalter von 18 auf 15 Jahre herabsetzt. In einer ersten Fassung, die vor allem von konservativen schiitischen Abgeordneten befürwortet wurde, sollte die Altersgrenze sogar bei neun Jahren liegen. Dagegen hatten irakische Frauenrechtlerinnen offenbar erfolgreich protestiert. Das Gesetz ist noch nicht in Kraft, denn das Verfassungsgericht muss darüber befinden. Aber was geht da vor?
Der Einfluss des Iran im Irak ist sehr stark, insbesondere seit dem Sturz von Saddam Hussein 2003. Es gibt zwei Lager schiitischer Muslime im Irak. Die einen würde ich proirakische Schiiten nennen. Das sind diejenigen, die an den Irak als Nationalstaat mit seinen eigenen Interessen glauben. Und dann gibt es die Schiiten, die für die Herrschaft der religiösen Rechtsexperten sind. Das sind Leute, die nicht notwendigerweise an den irakischen Nationalstaat glauben, sondern ihn als Teil der Ausweitung der Islamischen Revolution sehen.
Dieses zweite Lager ist insbesondere im Zuge des Erstarkens des »Islamischen Staats« (IS) beträchtlich angewachsen. Durch den Kampf gegen den IS hat es an Legitimität gewonnen. Es hat sich stärker institutionalisiert und mehr Milizen ausgebildet. Nun wollen die Anhänger dieses Lagers Dinge wie die Kinderehe. Es ist ihnen gelungen, dass alle Versuche einer Normalisierung mit Israel kriminalisiert sind. Wenn jemand auch nur Kontakt zu einem israelischen Staatsvertreter oder Geschäftsmann hat oder für eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel wirbt, landet er im Gefängnis. (Bei Verstoß gegen das Gesetz drohen bis zu lebenslängliche Haft oder gar die Todesstrafe; Anm. d. Red.). Außerdem sind auf ihr Betreiben viele Beschränkungen der Redefreiheit eingeführt worden. Sie haben signifikanten Einfluss auf das Land gewonnen.

Der damalige US-Präsident George H. W. Bush forderte 1991 die Iraker auf, Saddam Hussein zu stürzen. Aber als sie es versuchten, half er ihnen nicht, sondern eher Saddam Hussein, dem er den Einsatz seiner Kampfhubschrauber gegen den Aufstand erlaubte. Angesichts dessen: Wie bewerten Sie die mehr oder weniger offen ausgesprochene Aufforderung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu an die Iraner:innen, das Regime zu stürzen?
Netanyahu hat es versucht, und auch sein Vorgänger Naftali Bennett hat die Iraner:innen zum Aufstand aufgerufen, aber die Iraner:innen haben nicht danach gehandelt. Es gab überhaupt keine erheblichen Proteste im Iran, und auch keine der Oppositionsgruppen im Exil war in der Lage, Leute im Iran zu mobilisieren. Es gibt eine Menge Gründe dafür. Ich denke, dass viele der Oppositionsgruppen im Ausland keine signifikante Unterstützung im Lande selbst haben, sondern in westlichen Ländern und bei Iraner:innen in der Diaspora.

Wie können die oppositionellen Iraner:innen unterstützt werden?
Das Beste wäre, den Iran­er:in­nen freien Zugang zum Internet zu ermöglichen. Das ist mit Technologie möglich, die in Europa oder im Westen entwickelt wurde*. Es ist schwer zu beurteilen, wie die Menschen in Iran tatsächlich denken. Die Iraner:in­nen müssen mit dem Rest der Welt verbunden werden. Jedes Mal, wenn das Regime das Internet ausschaltet, sind die Menschen nicht in der Lage, zu größeren Aktionen aufzurufen oder mit der Opposition im Exil in Verbindung zu bleiben.

»Schauen Sie nach Saudi-Arabien oder in die Vereinigten Arabischen Emirate. Diese Länder sind keine liberalen Demokratien, sie sind überhaupt keine Demokratien, aber es gibt mittlerweile mehr soziale Freiheiten.«

Als ich unter dem Regime Saddam Husseins in den Neunzigern im Irak aufgewachsen bin, war es wichtig, dass Frankreich mit Radio Monte Carlo Moyen-Orient in den Irak gesendet hat. Es gibt auch für den Iran Auslandssender, die dafür sorgen, dass die Stimme der Mäßigung und der Freiheit ­gehört wird. So etwas muss unterstützt werden.

Im Nahen und Mittleren Osten gibt es viele Diktaturen, die seit Jahrzehnten überdauern. Aber auch ihr Sturz bring oft nicht die erhofften Verbesserungen. Haben Sie dennoch Hoffnung auf eine andere politische und soziale Kultur in der Region?
Ich würde sagen, ich habe ja keine andere Wahl, als Hoffnung zu hegen. Ich bin in der Region aufgewachsen und mit vielen Menschen dort verbunden, von denen wiederum viele diese fundamentalistischen Ansichten und den Extremismus ablehnen. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass die junge Generation, die über Internet mit der freien Welt verbunden ist, es besser machen wird. Es gibt auch positive Beispiele in der Region. Schauen Sie nach Saudi-Arabien oder in die Vereinigten Arabischen Emirate. Diese Länder sind keine liberalen Demokratien, sie sind überhaupt keine Demokratien, aber es gibt mittlerweile mehr soziale Freiheiten. Es gibt Konzerte und Frauen dürfen Auto fahren, dürfen Kinofilme sehen und Unternehmen gründen. Es gibt viele Entwicklungen in der Golfregion, die Hoffnung machen, auch bei der Jugend. Ich denke, die Region kann sich liberalisieren. Andererseits gibt es Länder wie den Jemen, die diesbezüglich zurückbleiben.
Was Syrien betrifft, bin ich ebenfalls vorsichtig optimistisch, denn die Führung scheint doch weniger extrem zu sein, als ich es erwartet hatte. Sie arbeiten viel mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten zusammen, also mit Staaten, die selbst eine Liberalisierung durchlaufen.

Aber wie können Sie von Saudi-Arabien so optimistisch sprechen? Erst vor wenigen Tagen wurde dort ein Journalist hingerichtet, wegen angeblichen Terrorismus und Hochverrats. Er hatte einen Blog betrieben, auf dem er sich regierungskritisch geäußert hat.
Ich sage ja nicht, dass diese Staaten perfekt sind. Es gibt mehr soziale Freiheiten, aber wenn es um politische Freiheit geht, was auch Pressefreiheit und den Schutz von Journalist:innen betrifft, dann ist die Liberalisierung in diesen Ländern noch kaum vorangekommen und mag noch 100 Jahre dauern.

Gibt es etwas, was Sie noch sagen möchten, wonach ich aber nicht ­gefragt habe?
Ich glaube, das Wichtigste ist, dass die Menschen im Westen an der Seite ­derer im Nahen und Mittleren Osten stehen, die die gleichen Werte teilen. Sie können ihnen eine Stimme geben, indem sie ihnen mit technischen Werkzeugen helfen und ihnen zum Beispiel Zugang zum Internet ver­schaffen. Ich glaube, das ist das Beste, was sie derzeit tun können.

*Software-Pakete wie Snowflake können einfach als Add-on in verschiedenen Internetbrowsern installiert werden und ermöglichen Menschen in Ländern, in denen Internetzensur herrscht, diese zu umgehen.

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Faisal Saeed al-Mutar

Faisal Saeed al-Mutar

Bild:
privat

Faisal Saeed al-Mutar wurde im Jahr 1991 in Hilla im Irak geboren. Aufgrund seiner säkularen Einstellung und Lebensweise hatten es militante Islamisten auf ihn abgesehen. Dreimal versuchte man, ihn zu entführen. Sein Bruder und ein Cousin wurden ermordet. Die Taten werden dem Umfeld von al-Qaida zugerechnet. 2013 flüchtete Mutar in die USA und nahm später die US-Staatsbürgerschaft an. Er gründete die Organisation Ideas Beyond Borders, die das Ziel verfolgt, Wikipedia-Artikel über Wissenschaft, Literatur und Philosophie auf Arabisch zugänglich zu machen. Al-Mutar startete auch eine Kampagne, um die vom IS zerstörte Bibliothek von Mossul wiederaufzubauen.