Rechtsruck in Runcorn
Für die 2019 als Brexit Party gegründete rechtspopulistische Partei Reform UK und ihren Vorsitzenden Nigel Farage waren die Kommunal- und Bürgermeisterwahlen sowie eine Parlamentsnachwahl am Donnerstag vergangener Woche in Großbritannien ein enormer Erfolg. Die Partei konnte den beiden großen Traditionsparteien, den Tories und Labour, ordentlich Stimmen abgraben: Für die Regierungspartei Labour sind die Ergebnisse eine herbe Niederlage, für die oppositionellen Konservativen sind sie eine existentielle Bedrohung. Das seit 100 Jahren von diesen beiden de facto gebildete Zweiparteiensystem könnte erstmals ernsthaft in Frage stehen.
Besondere Aufmerksamkeit erregte die Parlamentsnachwahl für den nordenglischen Wahlkreis Runcorn und Helsby. Der Sitz für den Wahlkreis im Umland von Liverpool war 52 Jahre lang fest in Labour-Hand. Deren Abgeordneter Mike Amesbury musste im März von seinem Amt zurücktreten, da er wegen Körperverletzung verurteilt worden war. Er hatte in betrunkenem Zustand einen Mann in seinem Wahlkreis zu Boden geschlagen.
Noch bei der Unterhauswahl im Juli vergangenen Jahres konnte Labour mit beinahe 15.000 Stimmen Vorsprung auf Reform UK den Sitz für den Wahlkreis erneut gewinnen. Doch bei der Nachwahl hat nun die Reform-Kandidatin Sarah Pochin mit hauchdünner Mehrheit der Labour-Partei den Sitz abgenommen. Zur Sicherheit wurden die Stimmen zweimal ausgezählt, der Vorsprung betrug lediglich sechs Stimmen.
Die kommunalpolitischen Pläne von Reform UK gleichen typischen Maga-Aufregern: Diversitätsbeauftragte sollen sofort entlassen und alle Klimaschutzmaßnahmen beendet werden.
Farage, der nach der Bekanntgabe der Ergebnisse nach Runcorn gereist war, sah man die Schadenfreude deutlich an. Er inszeniert sich und die Partei schon lange als die wahre Stimme der britischen Arbeiterklasse. Bei der Unterhauswahl im vergangenen Jahr ging diese Strategie noch nicht auf. Labour gewann viele Wahlkreise zurück, die der Partei traditionell zufallen und die sie zu Zeiten Boris Johnsons an die Konservativen verloren hatte. Jetzt, knapp ein Jahr später, verliert Labour den sicher geglaubten Sitz an die Rechtspopulisten.
Auch bei den gleichzeitig stattfindenden Wahlen in 23 Kommunen sowie bei den sechs Bürgermeisterwahlen konnte Reform UK große Gewinne erzielen. In zehn der Kommunen erhielt die Partei die Mehrheit; in der Grafschaft County Durham erzielte sie mit 66 Prozent der Stimmen ihr bestes Ergebnis. In den Bezirken Greater Lincolnshire sowie Kingston upon Hull und East Yorkshire an der englischen Nordseeküste gewann sie zudem zwei Bürgermeisterwahlen. In keiner Kommune gewannen die Tories oder Labour eine absolute Mehrheit, was im britischen Wahlsystem sehr unüblich ist.
Noch konservativer im Kulturkampf
Dies trifft besonders die Tories schwer, die in den konservativ geprägten Regionen Mittelenglands über die Hälfte ihrer Sitze verloren haben. Nach der Niederlage gegen Labour bei der Unterhauswahl vergangenes Jahr hatten sich die Tories deutlich weiter rechts aufgestellt als bisher. Unter dem Vorsitz von Kemi Badenoch, die dem rechten Flügel der Partei zugeordnet wird, wurden sie in Sachen Migration noch restriktiver, noch konservativer im Kulturkampf und noch weniger interessiert an Klimaschutz als je zuvor. Badenoch gelang es so, den lautstarken rechten Flügel ihrer Partei einigermaßen zu besänftigen. In ihrer Rolle als Oppositionsführerin hingegen blieb die erste schwarze Parteivorsitzende Großbritanniens oft unscheinbar und profillos.
Mit der absehbaren Schlappe bei den Kommunalwahlen wurde die Kritik an ihr lauter, inklusive Rücktrittsforderungen aus den eigenen Reihen. Zudem gibt es immer mehr Konservative, die eine Allianz der Rechten fordern. Tatsächlich sind die Unterschiede zwischen Konservativen und Reform UK geschrumpft. Der konservative Abgeordnete und ehemalige Minister Jacob Rees-Mogg sagte am Freitag nach der Wahl: »In Bezug auf die Politik gibt es kaum einen Unterschied zwischen der konservativen Partei und der Reformpartei. Im Grunde ist es eine Frage der Persönlichkeit.«
In der Außenpolitik ist Reform UK jedoch deutlich putinfreundlicher als die Tories und Reform UK hat zahlreiche Versprechen für zusätzliche Staatsausgaben gemacht, mit welchen die Tories alles andere als einverstanden sind. Dennoch, Rees-Mogg sprach explizit von einer Wiedervereinigung der Rechten: »Wenn wir die Rechte nicht vereinen, lassen wir der Labour-Partei die Tür offen, um weiterzumachen.«
Chronische Finanznot vieler Kommunen kein Thema
Solche Pläne schmeicheln Farage, der sich selbst als den großen Umstürzler der britischen Politik sieht. In den Distrikten und Rathäusern, die Reform UK nun gewonnen hat, übernimmt die Partei erstmals wirkliche Regierungsverantwortung. Was die neu gewählten kommunalen Mandatsträger in der lokalen Schulpolitik, bei Stadtbüchereien und der Instandsetzung von Straßen zu unternehmen gedenken, ist noch völlig unklar. Die einzig konkreten Pläne von Reform UK, die am Freitag immer wieder wiederholt wurden, gleichen typischen Maga-Aufregern: Diversitätsbeauftragte sollen sofort entlassen und alle Klimaschutzmaßnahmen der Gemeinden beendet werden.
Dass zum Beispiel der zuvor von den Tories regierte Verwaltungsbezirk Greater Lincolnshire überhaupt keine Diversitätsbeauftragten angestellt hat, spielt dabei keine Rolle. Auch die chronische Finanznot vieler britischer Kommunen war zunächst kein Thema. Andrea Jenkyns, eine konservative Überläuferin zu Reform UK und neu gewählte Bezirkspräsidentin von Greater Lincolnshire, sprach deswegen statt von Lokalpolitik lieber von den ganz großen Themen: Reform UK werde jetzt »Großbritannien zu seiner glorreichen Vergangenheit zurückführen«, sagte sie nach ihrem Wahlsieg am Freitag. Ihre erste Ankündigung: Flüchtlinge in ihrem Verwaltungsbezirk sollen nicht mehr in Hotels, sondern in Zelten untergebracht werden.