Anti-Maga in Kanada
Als im vergangenen November Donald Trump die Präsidentschaftswahl in den USA gewann, sah es auch in Kanada nach einem baldigen Machtwechsel aus. Die Zustimmungswerte der liberalen Regierung lagen bei knapp 25 Prozent, die persönlichen des abgewirtschafteten Premierministers Justin Trudeau sogar noch darunter. Die Liberal Party of Canada (LPC) nahm zeitweise in Umfragen hinter der Conservative Party (CPC) und der sozialdemokratischen New Democratic Party (NDP) nur noch Platz drei ein.
Schon bei der Unterhauswahl 2021 hatten die Liberalen zwar aufgrund des Mehrheitswahlrechts die meisten Mandate geholt, aber weniger Stimmen als die Konservativen gewonnen. Nun sah alles so aus, als würden diese, die unter ihrem 2022 ins Amt gewählten Vorsitzenden Pierre Poilievre merklich nach rechts gerückt waren, zehn Jahre nach der verlorenen Unterhauswahl 2015 die Macht zurückerobern.
In einer klaren Rede bezeichnete Trudeau die Zölle als »sehr dumme Sache«, kündigte eine weitreichende Unterstützung der kanadischen Wirtschaft an und wendete sich direkt an die Menschen in den USA.
Dass es bei der Wahl am 28. April nicht dazu kam, lag nicht zuletzt daran, dass Trudeau im März als Premierminister und Parteivorsitzender beiseite getreten war. Seinem Nachfolger Mark Carney, ehemals erster nichtbritischer Leiter der Bank of England (2013–2020), gelang es vor allem mit dem Versprechen, die Verbraucher steuerlich zu entlasten – etwa durch Abschaffung der carbon tax auf Kraftstoffe –, weite Teile der Bevölkerung anzusprechen. Kaum hatte er Trudeau am 14. März als Premierminister abgelöst, stiegen die Zustimmungswerte für die liberale Minderheitsregierung von rund 20 auf über 40 Prozent. Zum ersten Mal seit Januar 2022 waren damit mehr Kanadier:innen mit der Arbeit ihrer Regierung zufrieden als unzufrieden. Auch Carney selbst überholte in Umfragen seinen Herausforderer Poilievre, der seit August 2023 in jeder Befragung vorn gelegen hatte.
Am Ende gewannen die Liberalen 169 der 343 Unterhaussitze, womit sie die absolute Mehrheit nur knapp verfehlten. Mindestens ebenso wichtig wie Carneys Popularität waren für diesen Wahlsieg jedoch die wiederholten Angriffe Trumps auf das nördliche Nachbarland der USA. Der US-Präsident war kaum im Amt, als er über soziale Medien verkündete, Kanada würde es weit besser gehen, wenn es der 51. Bundesstaat der USA wäre, und – als wäre das schon der Fall – den damaligen Premierminister seines Nachbarlands als »Governor Trudeau« bezeichnete.
Die Empörung in Kanada war erwartbar groß und der Patriotismus boomte. Die Hersteller kanadischer Flaggen verkündeten Rekordumsätze. Trudeau verglich bei einer Pressekonferenz die Wahrscheinlichkeit, dass es jemals zu einem Beitritt zu den USA kommen würde, mit den sprichwörtlichen Überlebenschancen eines »Schneeballs in der Hölle«.
Ausgewachsener Handelskrieg
Doch damit nicht genug. Trump hatte dem Nachbarland bereits im Wahlkampf mit Strafzöllen gedroht. Am 1. Februar nun begann er, seine Drohungen wahrzumachen, und kündigte Zölle in Höhe von 25 Prozent auf die meisten kanadischen Waren an. Zwar suspendierte Trump die neuen Zollsätze zeitweise, seit Anfang April jedoch sind sie weitgehend in Kraft. Energieimporte aus Kanada werden seither mit zehn Prozent verzollt.
Trump hat damit nicht weniger als einen ausgewachsenen Handelskrieg mit einem der wichtigsten Handelspartner seines Landes vom Zaun gebrochen. In Geldwert gemessen kamen 2024 knapp 13 Prozent der in die USA importierten Waren aus Kanada, das damit hinter Mexiko und China an dritter Stelle liegt. Gleichzeitig gehen 17 Prozent der US-Exporte in das Nachbarland, das der wichtigste Abnehmer US-amerikanischer Waren ist.
Kurz gesagt: Der Handel zwischen Kanada und den USA ist für beide Seiten von enormer Bedeutung. Dank des 1994 in Kraft getretenen Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta) zwischen den USA, Mexiko und Kanada, das 2019 in Trumps erster Amtszeit neu verhandelt wurde und seither den Namen USMCA trägt, haben sich im Lauf der Jahre grenzüberschreitende Lieferketten etabliert, die nicht von heute auf morgen neu strukturiert werden können. Das gilt nicht zuletzt für die Automobilindustrie, in der US-Hersteller oft auf Teile von Zulieferern in Kanada angewiesen sind. Das scheint inzwischen auch Donald Trump begriffen zu haben. Am 1. Mai setzte er die Zölle für Komponenten der Kraftfahrzeugproduktion aus.
Antipoden zum erratischen Gernegroß im Weißen Haus
Kanada reagierte auf die Zollpolitik der neuen US-Regierung auf eine Art und Weise, mit der Trump offenbar nicht gerechnet hatte. Statt klein beizugeben, erhob es Gegenzölle in reziproker Höhe. Trudeaus Pressekonferenz Anfang März, in der er die harte Reaktion Kanadas ankündigte, sehen viele als ein letztes Glanzlicht seiner Amtszeit. In einer beeindruckend klaren Rede bezeichnete er die Zölle als »sehr dumme Sache«, kündigte eine weitreichende Unterstützung der kanadischen Wirtschaft an und wendete sich schließlich direkt an die Menschen in den USA, denen er mitteilte, dass die steigenden Preise und die Verluste an Arbeitsplätzen, mit denen sie nun rechnen müssten, voll und ganz auf das Konto ihrer eigenen Regierung gingen.
Trudeau und nach ihm Carney ist es gelungen, sich und ihre Partei als Antipoden zu dem erratischen Gernegroß im Weißen Haus zu inszenieren und gleichzeitig Poilievre und die Konservativen geschickt in die Nähe Trumps zu rücken.
Zwar fehlen den Liberalen im Unterhaus drei Stimmen zur absoluten Mehrheit und sie müssen eine Minderheitsregierung bilden. Sie verfügen jedoch über immerhin 17 Sitze mehr als bislang, und auch beim Anteil an den Wählerstimmen, der popular vote, lag die LPC diesmal mit 43,8 Prozent an erster Stelle. Außerdem wurden sie in allen Regionen mit Ausnahme des chronisch konservativen Saskatchewan stärkste Partei.
Stärkster Zuwachs für die Konservativen
Doch auch die Konservativen haben eigentlich ein sehr gutes Wahlergebnis eingefahren. Mit 143 Sitzen statt zuvor 120 haben sie den stärksten Zuwachs aller Parteien zu verzeichnen. Auch beim Gesamtstimmenanteil haben sie deutlich zugelegt. Da es jedoch nicht für einen Regierungswechsel gereicht hat, ändern auch all die schönen Zahlen nichts an der Niederlage – zumal noch vor wenigen Monaten der Sieg so gut wie sicher schien.
Bitter war der Wahlabend für Poilievre selbst, der sein Mandat im Wahlkreis Carleton nahe der Hauptstadt Ottawa deutlich an den liberalen Newcomer Bruce Fanjoy verloren hat. Kurz nach der Wahl kündigte der konservative Abgeordnete Damien Kurek an, seinen Sitz aufzugeben, damit sein Parteivorsitzender bei einer Nachwahl in seinem als sicher geltenden Wahlkreis in Alberta doch noch ins Parlament einziehen kann. Bis dahin muss die Opposition von einem anderen Abgeordneten geführt werden.
Wenn es jemanden gibt, für den der Wahlabend noch härter war als für Poilievre, dann ist es Jagmeet Singh. Der Vorsitzende der NDP, die in den vergangenen vier Jahren die liberale Minderheitsregierung unterstützt hatte, hat nicht nur sein Mandat verloren, er ist in seinem Wahlkreis sogar nur abgeschlagener Dritter geworden, während seine Partei landesweit auf 6,3 Prozent der Stimmen und nur noch sieben Mandate abstürzte (zuvor waren es 24 Sitze) – beides die schlechtesten Werte seit der Parteigründung 1961. Konsequenterweise trat Singh umgehend zurück.
USA als abschreckendes Beispiel
Schaut man sich das Wahlergebnis als Ganzes an, dann wird schnell klar, dass sich die Wähler den zwei großen Parteien zugewandt haben. 2021 haben nur rund zwei Drittel eine der beiden größten Parteien gewählt; in diesem Jahr waren es 85 Prozent. Leidtragende sind neben der NDP auch der Bloc Québécois und die Grünen. Alle zusammen kommen nur noch auf 31 Mandate statt zuvor 59.
Der Wahlsieg der Liberalen zeigt auch, dass Regierungsparteien noch Wahlen gewinnen und rechte Parteien sie verlieren können. Das lag nicht zuletzt daran, dass im Wahlkampf vor allem über Wirtschaft und Außenpolitik gesprochen wurde. Die USA dienten als abschreckendes Beispiel. Poilievres inhaltliche Nähe zu Trump, auf den er immer wieder mit Slogans wie »Canada First« und »Make Canada Great Again« Bezug genommen hatte, wurde so zu einem Makel, den er nicht wieder loswerden konnte.
Auf Carney wartet nun die schwierige Aufgabe, die in ihn als personifizierten Anti-Trump gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. Ein erstes Treffen mit Trump gab es bereits am Dienstag. »Ich werde für den besten Deal für Kanada kämpfen und werde nur den besten Deal akzeptieren«, so Carney zuvor in ironischer Adaption von Trumps Duktus.