20.03.2025
Luigi Achilli, Migrationsforscher, im Gespräch über die Asylpolitik der EU und das Schleusergeschäft

»Schleuser sind meist benachteiligte und ausgegrenzte Menschen«

Sogenannte Schleuserkriminalität zu bekämpfen, ist ein vorrangiges migrationspolitisches Ziel der Europäischen Union. Eine geplante Richtlinie sieht die wirksamere Verfolgung von Schleusernetzwerken vor. Das soll angeblich auch dem Schutz der Flüchtlinge dienen. Die »Jungle World« sprach mit dem Migrationsforscher Luigi Achilli über den Zusammenhang von Menschenschmuggel und organisierter Kriminalität.

Nach Angaben der europäischen und internationalen Polizeibehörden Europol und Interpol nehmen 90 Prozent aller sogenannten irregulären Migrant:innen die Dienste bezahlter Schleuser in Anspruch. Erscheint Ihnen als Migrationsforscher diese Zahl realistisch?
Normalerweise bin ich eher skeptisch gegenüber Schätzungen zum Thema Menschenschmuggel, vor allem wenn sie von Strafverfolgungsbehörden stammen, die ihre eigene Agenda verfolgen. In diesem Fall ist die Schätzung, glaube ich, ziemlich genau – sofern es um »irreguläre« Reisen (Grenzübertritte ohne gültige Ausweisdokumente oder Aufenthaltstitel; Anm. d. Red.) geht. Mit anderen Worten: Wenn Sie ein irregulärer Migrant sind, werden Sie höchstwahrscheinlich einen Schleuser brauchen, um Ihr Ziel zu erreichen, zumindest für einen Teil der Strecke.

Handelt es sich bei den Schleusern tatsächlich meist um Angehörige straff organisierter krimineller Banden?
Das Problem mit dem Begriff der organisierten Kriminalität ist, dass es keine klare Definition gibt. Laut der von der Uno verwendeten Definition ist organisierte Kriminalität jedes Verbrechen, das von drei oder mehr Personen gemeinsam begangen wird. Verwenden wir diese sehr weit gefasste, vage Definition, handelt es sich bei den Schleuserdiensten in der Tat häufig um »organisiertes Verbrechen«. Aber diese drei Leute sind meist nicht das, woran wir bei diesem Begriff denken. Wir denken an die Mafia oder eine terroristische Organisation, also sehr hierarchische, starr strukturierte Organisationen. Das ist beim Schleusen von Mi­granten nur selten der Fall. Meist handelt es sich um kleine Gruppen, die für kurze Zeit miteinander eine Partnerschaft eingehen, um die gesamte Reise beziehungsweise Flucht von jemandem durchzuführen.

»Organisierte Banden kümmern sich meist nicht direkt um den Menschenschmuggel, weil das ein logistisches Chaos ist.«

Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Wenn Sie zum Beispiel ein Syrer sind, der vor dem Krieg flieht, dann werden Sie zunächst für das Überqueren der Grenze zwischen ihrem Heimatland und der Türkei Schmuggler engagieren. Von der Türkei aus beauftragen Sie andere Schmuggler aus Griechenland. Das sind jeweils kleine Gruppen von ein paar Leuten. Um diese Gruppen herum bewegt sich dann aber eine große Anzahl von Leuten, die wie Freiberufler arbeiten.

Schmuggeln als eine Art Gelegenheitsjob?
Genau. So können etwa Taxifahrer ihr Gehalt aufbessern, indem sie Migranten hin- und herfahren, zum Beispiel von einem Hotel, in dem Migranten untergebracht sind, zum Einschiffungsort oder zum Grenzübergang. Vor einiger Zeit hatte ich in der Türkei einen Schleuser interviewt. Wir waren in einem Schnellimbiss essen. Der Besitzer des Restaurants sprach mich an, weil er dachte, ich sei selbst ein Schmuggler. Er fragte mich, ob ich daran interessiert sei, das Boot seines Cousins oder dessen Dienste zu mieten, um Leute zu schmuggeln. Er selbst war kein Schmuggler, er wollte nur etwas Geld nebenbei verdienen.

Ist den mafiaähnlichen Banden das Geschäft nicht rentabel genug?
Sie kümmern sich nicht direkt um den Menschenschmuggel, weil das ein logistisches Chaos ist. Aber sie profitieren manchmal davon, weil sie die unmittelbaren Schmuggler beispielsweise »besteuern«. Das passiert überall. An der Grenze zwischen den USA und Mexiko verlangen die Kartelle Geld von den Schmugglern, den sogenannten Kojoten, damit diese über die Grenze hinweg operieren dürfen. In Italien kassierte die italienische Mafia während der Krise nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Albanien in den neunziger Jahren Geld von den italienischen Schmugglern, die für kurze Zeit auch Menschen über die Grenze brachten. In Syrien und im Irak hat der »Islamische Staat« auf dem Höhepunkt seiner Macht von den Schmugglern eine Steuer für ihre Tätigkeit verlangt. Das Gleiche gilt für Libyen. Die dortigen Milizen sind überwiegend nicht direkt am Menschenschmuggel beteiligt. Einige von ihnen schon, aber die meisten von ihnen delegieren dies an andere und kassieren ab.

Sind die eigentlichen Schmuggler eher Netzwerke von Menschen, die sich kennen und aufgrund einer Gelegenheit, die sich ihnen in einer bestimmten Situation bietet, zusammenschließen?
Ganz genau. Meistens handelt es sich um benachteiligte und ausgegrenzte Menschen. Es ist keine Überraschung, dass viele der von mir befragten Schmuggler selbst Migranten waren. Sie gehen Partnerschaften mit Einheimischen ein und fangen an, Menschen zu schmuggeln, weil sie die Route kennen und Wissen aus erster Hand haben. Sie finden also Kunden, die aus demselben Land wie sie selbst stammen, stellen Kontakte her und beginnen zu schmuggeln. Nachdem sie eine Weile geschleust haben, kehren viele von ihnen in den Status des bloßen Asylbewerbers zurück.

Wird das Vorgehen der EU gegen Menschenschmuggel dieser Realität gerecht?
Das Problem dieses Ansatzes ist, dass er sehr stark sicherheitszentriert ist. Die Illegalisierung von Migranten sorgt erst dafür, dass diese möglicherweise in Menschenschmuggel verwickelt werden. Gerade weil die Migranten in einem Zustand andauernder Kriminalisierung leben, tun sie schließlich das Einzige, was sie tun können, um zu überleben, und das ist, sich als Schmuggler zu verdingen. Zugleich erscheint es der Logik dieses sicherheitszentrierten Ansatzes folgend als konsequent, nun auch diese Migranten zu kriminalisieren.

Was wäre dann der richtige Weg, um das Problem anzugehen?
Die EU spricht viel über einen ganzheitlichen Ansatz, der nicht nur sicherheitspolitische Maßnahmen fördert, sondern auch humanere Maßnahmen zum Schutz von Migranten. Diese Maßnahmen sollen dazu führen, dass legale Wege der Einreise ermöglicht werden. Das wird aber nicht in die Tat umgesetzt. Stattdessen wird weiterhin fast ausnahmslos ein sicherheitspolitischer Ansatz verfolgt. Das heißt: Kriminalisierung der Mi­granten und Verschärfung der Grenzkontrollen. Das neue Mantra besteht in der Externalisierung der Grenzkon­trollen und in Abkommen mit Drittländern wie Tunesien, Libyen und der Türkei. Es sollte eine ganzheitliche Politik verfolgt werden, die diesen sicherheitspolitischen Ansatz mit einer eher humanitären Praxis abzuwägen versucht.

In dem von Ihnen mitherausgegebenen Sammelband »Global Human Smuggling« argumentieren Ihre Kollegen David Kyle und John Dale, die Kriminalisierung kleiner, relativ unorganisierter Schleusernetzwerke an der mexikanischen Grenze durch die US-Behörden habe absichtlich darauf gezielt, dass die großen Kartelle an deren Stelle treten. Diese seien aufgrund ihrer starren Struktur angreifbarer, ließen sich leichter infiltrieren und kon­trollieren. Ist das plausibel?
Die Wissenschaft ist darüber geteilter Meinung. Es gibt Leute, die sagen, der sicherheitspolitische Ansatz zur Migration, deren Kriminalisierung, werde letztlich die Perfektionierung von kriminellen Gruppen begünstigen. Das ist ein gängiges Narrativ, aber wir haben keine eindeutigen Hinweise darauf, dass dies tatsächlich geschieht. Diese Politik führt allgemein zu mehr Kriminalität, das steht fest. Aber wir wissen nicht, ob diese Kriminalität tatsächlich besser organisiert ist oder ob sie nicht eher noch mehr zersplittert wird. Das hängt sehr stark von dem spezifischen Kontext ab, in dem dieser Kriminalisierungsprozess stattfindet. In vielen Studien haben ich und andere gezeigt, wie diese Kriminalisierung tatsächlich zu einem umgekehrten Prozess führt: nicht zu einer zunehmenden Dominanz einzelner Gruppen, sondern zu einer Zersplitterung der Anbieter.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Eine Studie von Sheldon Zang und Gabriella Sánchez aus dem Jahr 2018 zeigt, dass die kriminellen Kartelle an der Grenze zwischen den USA und Mexiko von der Kriminalisierung der irregulären Migration profitiert haben, aber nicht in dem Sinne, dass sie das Schleusergeschäft übernommen haben. Vielmehr steht ihnen eine Masse von Personen zur Verfügung, nämlich die Migranten, die Drogen fast umsonst in die USA schmuggeln. Für sie ist das der einfachste Weg, die Grenze zu überqueren. So wurden kriminelle Organisationen noch mächtiger.

Es ist also eher so, dass die mafiaähnlichen Banden, die ohnehin in einer bestimmten Region präsent sind, sich anschauen, inwiefern sich auch mit den Migranten Geld verdienen lässt?
Ja, genau. Das funktioniert bis hinein in den Bereich der »legalen Wirtschaft« so. Was passiert, wenn eine so große Anzahl von Migranten in Transitländern oder im Zielland gestrandet ist? Die Landwirte, der Agrarsektor profitieren von dieser Masse an entrechteten Menschen. Sie können sie zu sehr niedrigen Löhnen einstellen, weil sie keine Verhandlungsmacht haben, da sie extrem arm sind.

»Die Migrationsabkommen mit Drittstaaten sind eine Maßnahme, die nur kurzfristig funktioniert.«

Es wurde in den vergangenen Jahren viel über die Instrumentalisierung von Migrant:innen für eine hybride Kriegführung von Staaten wie Russland und Belarus gegen die EU diskutiert. Menschen werden beispielsweise aus dem Irak eingeflogen und dann an die Grenze zu Polen oder Litauen gekarrt. Mitten im Winter finden sie sich ohne ausreichend Kleidung und Nahrung in einem Niemandsland als Spielball eines Kräftemessens wieder. Inwieweit macht es die europäische Mi­grationspolitik erst möglich, Mi­grant:in­nen als »Waffe« gegen die EU einzusetzen?
Diese Entwicklung ist vielleicht nicht ausschließlich, aber auch eine Folge davon, dass die EU von den Themen Menschenschmuggel und »irreguläre« Migration regelrecht besessen ist. Insbesondere, seit man die Verantwortung für die Asylsuchenden und die Migrationskontrolle an Länder außerhalb des Schengen-Raums übertragen hat. Diese Länder versuchen nun, von der Situation zu profitieren. Was wir unmittelbar nach dem Inkrafttreten einer entsprechenden Vereinbarung mit einem Drittland jeweils festgestellt haben, ist eine rückläufige Zahl derer, die sich von dort auf den Weg machen. Das liegt daran, dass die dortigen Behörden ihre Arbeit dann konsequenter machen. Im Umkehrschluss sagt das aber auch aus, dass zuvor der Schmuggel gar nicht hätte stattfinden können, ohne eine entsprechende Entscheidung der Behörden, ihm grünes Licht zu geben.

Jede Form des Menschenschmuggels ist also letztlich staatlich sanktioniert?
Es ist wichtig zu verstehen, dass das internationale Recht Menschenschmuggel als Verbrechen gegen den Staat definiert. Menschenschmuggel ist aber in gewissem Sinne auch eine Straftat zugunsten des Staats. Die Perspektive darauf hängt sehr stark davon ab, wo der Schmuggel angesiedelt ist. Vom Einreiseland aus betrachtet, ist Schmuggel ein Verbrechen gegen den Staat, weil die Schmuggler es den Migranten ermöglichen, unentdeckt in sein Staatsgebiet einzudringen. Von der Seite des Ausreiselands aus betrachtet, handelt es sich beim Schmuggel aber sozusagen um ein Verbrechen im Interesse dieses Staats.

Können Sie das erläutern?
Als ich in Griechenland nahe der italienischen Grenze forschte, wurde deutlich, dass es eine stillschweigende Vereinbarung zwischen den griechischen Grenzschützern und den dort operierenden Schmugglern gab – eine informelle Vereinbarung natürlich. Jeder kannte den Platz, von dem aus die Schmuggler operierten, aber die Polizei gestattete ihnen das. Sie wusste sehr genau, wer die Schmuggler waren. Warum hat man sie machen lassen? Weil es für die griechischen Behörden ein Weg war, die Regeln des Dubliner Übereinkommens zu umgehen. Gemäß dem Gesetz hätten die lokalen Behörden von diesen Asylbewerbern Asylanträge annehmen und viele von ihnen letztlich aufnehmen müssen. Das wollten sie nicht, weil sie angesichts der hohen Zahl an Migranten vor Ort bereits überfordert waren. Also stellten die Schmuggler eine Möglichkeit dar, Migranten auszuschiffen, ohne gegen bestehende politische Abkommen zu verstoßen.

Wie haben die italienischen Behörden darauf reagiert?
Die Behörden in Süditalien haben sich über das griechische Vorgehen beschwert, weil sie auf der »Empfängerseite« waren. Die italienischen Behörden im Norden hingegen werden von den österreichischen Behörden beschuldigt, genau dasselbe zu tun, nämlich Schmugglern die Arbeit zu ermöglichen. Die Abkommen zur Externalisierung der Grenzkontrollen mit den Drittländern bestehen im Grunde darin, Drittländer zu »überreden«, dem Schmuggel Einhalt zu gebieten. Natürlich versuchen die betreffenden Länder, so viel wie möglich von diesen Abkommen zu profitieren. Darin besteht die Instrumentalisierung der Migration als Waffe. Muammar al-Gaddafi (libyscher Diktator von 1969 bis 2011; Anm. d. Red.) hat früher genau das Gleiche gemacht.

Solche Abkommen nähren demnach letztlich ein bandenähnliches System, das der Logik der Schutzgelderpressung folgt?
Ja, genau. Obendrein drängen wir andere dazu, humanitäre Gesetze und Grundsätze zu verletzen. Wir selbst können Migration nicht auf eine Weise eindämmen und bekämpfen, die offen gegen diese Grundsätze verstößt. Also lassen wir andere die Drecksarbeit für uns machen und bezahlen sie dafür.

Vermutlich sagen sich nicht wenige Politiker in Europa inzwischen: »Immerhin funktioniert’s.«
Die Externalisierung von Grenzkontrollmaßnahmen hat nur kurzfristig funktioniert. Direkt im Anschluss an die entsprechenden Vereinbarungen mit Drittländern außerhalb des Schengen-Raums haben wir oft einen Rückgang der Zahl der Ankünfte im Mittelmeerraum erlebt, etwa beim EU-Türkei-Abkommen 2016 oder nach dem »Memorandum of Understanding« zwischen Italien und Libyen 2017. Das wird als Maßstab für den Erfolg genommen. Aber das ist ein ziemlicher Irrtum, denn langfristig gesehen ist die Zahl der Menschen, die in die EU-Staaten kommen, wieder angestiegen. Die Migrationsströme werden von mehreren Faktoren beeinflusst. Das Abkommen mit Tunesien bildet da keine Ausnahme: Trotz eines anfänglichen Rückgangs stiegen die Ankünfte innerhalb weniger Monate wieder an. Langfristige Daten zeigen, dass diese Abkommen in der Regel scheitern, aber sie liefern die Illusion von Kontrolle. Es ist also eine Maßnahme, die nur kurzfristig funktioniert, aber schwerwiegende humanitäre Folgen hat. Doch wie wir wissen, sind in der politischen Debatte die kurzfristigen Erfolge tatsächlich diejenigen, die am wichtigsten sind, weil die Politiker so nachweisen können, dass ihre Maßnahmen einen eindeutigen, direkten Einfluss hatten.

Was letztlich zu der Frage führt, war­um die Menschen ihre Herkunftsländer verlassen. In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass neben Kriegen in den meisten Fällen nicht extreme Armut, sondern das Fehlen von Perspektiven ursächlich ist. Warum?
Wenn man extrem arm ist, kann man sich die Dienste eines Schmugglers gar nicht leisten. Die meisten Menschen, die ihr Land verlassen, kommen aus Gebieten, die durch Kriege verheert wurden. Sie geben zumeist an, dass sie der Gewalt entkommen wollen, aber auch, dass sie aufgrund von Armut keine Perspektiven haben. Wenn sie sich auf den Weg machen, setzen sie im Grunde ihr gesamtes Vermögen dafür ein. Viele geraten in einen Schuldenkreislauf. Was auch die Verwischung der Grenze zwischen Menschenschmuggel und Menschenhandel begünstigt.

Welche Funktion hat zusammengefasst die Bekämpfung der Schleuserkriminalität in der EU?
Ihre Funktion ist rein rhetorisch, um die eigene Schuld für das Versagen bei der Steuerung der Migration auf die Schultern der Schmuggler abzuladen.

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Luigi Achilli

Luigi Achilli

Bild:
privat

Luigi Achilli ist leitender Forscher am European University Institute in Florenz und am Christian-Michelsen-Institut in Bergen. Seine Forschungsschwerpunkte sind »irreguläre« Migration, transnationale Kriminalität, Flüchtlingsstudien und palästinensischer Nationalismus. 2023 erschienen die dritte Auflage des von ihm und David Kyle herausgegebenen Bands »Global Human Smuggling – Buying Freedom in a Retreating World« (Globaler Menschenschmuggel – Freiheit kaufen in einer Welt im Rückzug). Im Jahr 2024 erhielt er ein Forschungsstipendium des Europäischen Forschungsrats für sein Projekt »Undergov – Die Schattenseiten der Migrationspolitik: Erforschung der Überschneidung von transnationaler Kriminalität und Migrationspolitik«.