06.03.2025
Die Serie »Asura« über die Sexualmoral Japans in den siebziger Jahren

Risse in der Fassade

Vier Schwestern finden heraus, dass ihr Vater eine Affäre mit einer deutlich jüngeren Frau unterhält. Das bringt die Fabel über die Sexualmoral im Japan der siebziger Jahre ins Rollen, die der Regisseur Hirokazu Koreeda in seiner Serie »Asura« erzählt.

Netflix dürfte derzeit keinen Grund zur Klage haben. Wie der Streaming-Dienst kürzlich mitteilte, wurde nach einem Rekordwachstum im vergangenen Quartal die Zahl von 300 Millionen Nutzern überschritten. Alleine in den Monaten Oktober bis Dezember gewann der Konzern 19 Millionen Abonnements hinzu. Der Umsatz stieg in dem Quartal im Jahresvergleich um 16 Prozent auf 10,2 Milliarden US-Dollar, der Gewinn betrug 1,87 Milliarden Dollar.

Dazu beigetragen haben vor allem das neue, günstigere Abonnement mit Werbeanzeigen, das rigide Vorgehen gegen das Teilen von Passwörtern sowie zwei Live-Events: der Boxkampf zwischen Mike Tyson und dem Influencer Jake Paul mit knapp 60 Millionen Zuschauern und die Übertragung zweier Spiele der US-amerikanischen Football-Liga NFL. Auch die zweite Staffel der südkoreanischen Serie »Squid Game«, die am Ende Dezember veröffentlicht wurde, sorgte für gehöriges Wachstum. Sie ist schon jetzt die dritterfolgreichste Netflix-Veröffentlichung nach der ersten Staffel und der US-amerikanischen Horrorkomödienserie »Wednesday«.

»Asura« verzichtet gänzlich auf Plottwists oder Cliffhanger, jene Tricks, mit denen Serien allzu gerne um die überstimulierte Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer buhlen.

Bei all diesen Rekordmeldungen und den gigantischen Marketing-Kampagnen, die für Flaggschiff-Produktionen wie »Squid Game« veranstaltet werden, fallen kleinere Veröffentlichungen schnell unter den Tisch. So geschehen mit der Miniserie »Asura« des japanischen Regisseurs Hirokazu Koreeda, die am 9. Januar auf Netflix startete. Die Serie wurde, so scheint es, ohne jegliches Marketing in den Streaming-Äther entlassen, wo sie schnell im schwarzen Loch der über 2.500 Netflix-Serien verschwand. Im deutschen Feuilleton wurde die Serie kaum besprochen. Auch in englischsprachigen Publikationen sind nur wenige Kritiken zu finden.

Das verwundert sehr, zumal Hirokazu Koreeda zu den bekanntesten und renommiertesten Regisseuren Japans zählt. Seine Filme, in denen er immer wieder den traditionellen Begriff von Familie hinterfragt, feiern regelmäßig Premiere in Cannes, wo er mit »Shoplifters« 2018 die Goldene Palme gewann. Die geringe Berichterstattung dürfte also nicht an fehlendem Interesse liegen, sondern schlicht daran, dass kaum jemand etwas von der Veröffentlichung mitbekommen hat.

Man fragt sich etwas verwundert, warum Netflix nicht ein Mindestmaß für die Promotion aufgewendet hat. An mangelnder Qualität kann es nicht liegen. Im Gegenteil, »Asura« ist eine feinsinnige, erheiternde und clevere Serie, die einmal mehr Koreedas Kunst der nuancierten und komplexen Figurenzeichnung beweist. Sie basiert auf einem Roman der Autorin Kuniko Mukōda, der bereits 1979 für das japanische Fernsehen adaptiert wurde. Im Zentrum der Geschichte stehen vier Geschwister, die damit konfrontiert werden, dass ihr alternder Vater eine Affäre mit einer weitaus jüngeren Frau hat. Nachdem eine der Schwestern das Geheimnis mittels eines Privatdetektivs aufgedeckt hat, bekommt die Fassade der glücklich scheinenden Familie, die allzu sehr von Traditionen und starren Rollenerwartungen im Japan der Siebziger geprägt ist, immer mehr Risse.

Ein skandalöser Vorgang – der dauernd vorkommt. Die Affäre des Vaters Kotaro (Jun Kunimura) ist nicht die einzige in der Serie

Ein skandalöser Vorgang – der dauernd vorkommt. Die Affäre des Vaters Kotaro (Jun Kunimura) ist nicht die einzige in der Serie

Bild:
Netflix

Das Format einer siebenteiligen Serie gibt Koreeda weit mehr Raum, seine Erzählung über das sorgsame Auffächern seiner Figuren voranzutreiben und deren Dynamik untereinander auszuloten, als es seine Filme bisher vermochten. Nach und nach werden die vielen Schichten freigelegt, die den Menschen in seiner Komplexität auszeichnen. So zeigt sich in der Introvertiertheit und Prüderie von Takiko (Yū Aoi), die als Bibliothekarin arbeitet, die rigide Sexualmoral Japans.

Als sich zwischen ihr und dem Privatdetektiv langsam ein Liebesverhältnis entspinnt, hat sie mit einer tiefen Körperscham zu kämpfen. Tsunako (Rie Miyazawa), die älteste Schwester, ist hingegen Witwe und hat eine Affäre mit einem Re­stau­rantbesitzer, für den sie als traditionelle Blumensteckerin arbeitet. Als selbstbestimmte und moderne Frau hadert sie mit ihrem frivolen Lebensstil, der sie gleichermaßen sozial wie emotional isoliert. Sakiko (Suzu Hirose), die Jüngste, unterwirft sich wiederum der toxischen Liebe zu ihrem Freund, der als Boxer auf den großen Durchbruch hofft. Makiko (Machiko Ono) hingegen fristet ihr Dasein als Hausfrau und hegt den Verdacht, dass auch ihr Mann, mit dem sie zwei Kinder hat und der sie in seinem Machismus immer wieder zurechtweist, eine Affäre mit seiner Sekretärin hat.

»Asura« verzichtet gänzlich auf Plottwists oder Cliffhanger, jene Tricks, mit denen Serien allzu gerne um die überstimulierte Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer buhlen. Die Serie ist klassisches, figurenzentriertes Erzählfernsehen. Die sieben Folgen, die über mehrere Jahre hinweg aus dem Leben der Geschwister erzählen, enden dabei so unaufgeregt, wie sie beginnen. Zuweilen erinnern die familieninternen Konflikte, das Gefühlschaos der Schwestern und die oft melodramatische Tonalität an eine Seifenoper, die jedoch viel zu intelligent angelegt ist, als dass sie je in Rührseligkeit oder Kitsch kippte.

»Sind Frauen wirklich glücklich, wenn sie leben, ohne Aufsehen zu erregen?«

Nicht, was passiert, steht im Zentrum der Erzählung, sondern wie die Figuren mit dem Passierten umgehen. So wird zwar die Affäre des Vaters bereits zu Beginn der ersten Folge aufgedeckt, die genauen Umstände – seit wann führt er die Affäre und wer ist die Frau überhaupt? – bleiben bis zum Schluss unklar.

Ebenso, ob seine Ehefrau von der Affäre weiß, und wenn ja, wie sie darüber denkt. Nur ein anonymer Leserbrief, der in der örtlichen Tageszeitung veröffentlicht wird und hinter dem die Töchter ihre Mutter vermuten, gibt ein wenig Aufschluss. Darin heißt es: »Sind Frauen wirklich glücklich, wenn sie leben, ohne Aufsehen zu erregen?«

Um diese Frage dreht sich die Serie im Kern. Es ist das internalisierte Patriarchat eines konservativen, prüden und von Traditionen bestimmten Japan, das die Frauen in sich tragen. Für das Fehlverhalten der Männer werden nicht diese selbst, sondern die Frauen verantwortlich gemacht. »Es ist teilweise Mamas Schuld, wenn er woanders sucht«, reagiert eine der Schwestern ungehalten auf die Tatsache, dass ihr Vater fremdgeht. An anderer Stelle wird der Jüngsten der Schwestern von ihrer Schwiegermutter die Schuld gegeben, dass ihr vom Ehrgeiz getriebener Partner beim Boxen sein Leben riskiert: »Und doch hast du ihn dazu gezwungen. Du bist eine furchteinflößende Frau.« Koreeda zeichnet seine Figuren dabei nicht als reine Opfer einer männerdominierten Gesellschaft. In ihrer Vielschichtigkeit sind sie Menschen, die ebenso sehr Produkt der Gesellschaft sein können, wie sie für ihr eigenes Tun verantwortlich sind.

Ungleiche Schwestern. »Asura« kreist um vier Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten

Ungleiche Schwestern. »Asura« kreist um vier Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten 

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Netflix

In »Asura« wie auch in seinen Filmen erzählt Koreeda nicht in dichotomen Kategorien wie Gut und Böse. Das Ergründen menschlichen Verhaltens und die Verständigung untereinander stehen im Zentrum, nicht die Skandalisierung von Missständen und menschlichen Verfehlungen. Das zeigen vor allem die zahlreichen Momente, in denen die Figuren beisammensitzen, sich gegenseitig necken, Pläne schmieden und nicht zuletzt gemeinsam essen. Immer wieder ist die japanische Esskultur Thema, etwa wenn dem Vater Lachsrogen als Geschenk mitgebracht, im elterlichen Garten gemeinsam Kraut eingelegt oder in einer großartigen Szene Sukiyaki, ein japanischer Eintopf, zubereitet wird und sich alle darüber freuen, wie das hauchdünn geschnittene Rindfleisch langsam gart.

Die Traditionen – einige der Charaktere tragen noch Kimonos als Alltagskleidung – und die vielen Rituale, die den Alltag bestimmen, sind hier Fluch und Segen zugleich. Einerseits sind sie Ausdruck der gesellschaftlichen Normen, die die Frauen an einem unabhängigen, modernen Leben hindern. Andererseits geben sie den Schwestern in ihren Erinnerungen an das gemeinsame Aufwachsen tiefen Halt und spenden eine Wärme, der man sich auch als Zuschauer nur schwer entziehen kann.

»Asura« (Japan 2025) kann bei Netflix ­gestreamt werden.