06.03.2025
In »Adornos Kritik der politischen Ökonomie« referiert Dirk Braunstein die Marxlektüre von Adorno

Sieben Mal unterstrichen

Dass Theodor W. Adorno Marx las, und vor allem wie er ihn las, darüber hat Dirk Braunstein, der Archivleiter des Instituts für Sozialforschung, schon vor Jahren ein detailreiches Buch geschrieben, das nun in dritter, erweiterter Auflage in einem neuen Verlag erschienen ist.

Der Ça-ira-Verlag druckt bei manchen seiner Bücher ein besonders wichtiges Zitat direkt aufs Cover. Die Neuausgabe von Dirk Braunsteins »Adornos Kritik der politischen Ökonomie« trägt auf ihrem Buchdeckel die Worte: »›Mit politischer Ökonomie hat sich Adorno nie befaßt‹, sagt Jürgen Habermas, und das Gegenteil ist wahr.«

Es ist der erste Satz des Buchs, der dessen Inhalt treffend zusammenfasst. Braunstein zeigt auf knapp 300 eng bedruckten Seiten, dass Theodor W. Adorno sehr wohl Marx gelesen hat – und wie er ihn gelesen hat.

»Adornos Kritik der politischen Ökonomie« erscheint nun bereits in dritter Auflage. Die erste kam 2011 im Transcript-Verlag heraus. Die zweite folgte fünf Jahre später, dann eine englische Übersetzung. Mit der dritten Auflage übernimmt nun der Ça-ira-Verlag den Titel. Für eine Dissertation, die das Buch von Braunstein zunächst war, ist das ein großer Erfolg.

Einst schrieben Adorno und Max Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung«: »Was nicht konformiert, wird mit einer ökonomischen Ohnmacht geschlagen, die sich in der geistigen des Eigenbrötlers fortsetzt. Vom Betrieb ausgeschaltet, wird er leicht der Unzulänglichkeit überführt.« Der Erfolg des Eigenbrötlers Braunstein beweist, dass auch die berühmten Herren nicht immer recht behielten.

Es geht Braunstein nicht darum, Adorno an Marx zu messen, sondern ihn als eigenständigen Kritiker der politischen Ökonomie zu präsentieren.

In 14 Kapiteln erklärt Braunstein, wann sich Adorno wie mit Marx beschäftigt hat. Die Marx-Aneignung, Marx-Interpretation und, welch Frevel, Marx-Kritik Adornos bindet Braunstein an Adornos Biographie. Los geht es im ersten von drei Teilen damit, wie Adorno erstmals mit der Kritik der politischen Ökonomie in Berührung kam, nämlich über einen Umweg: Er las Georg Lukács und Walter Benjamin.

Wahrscheinlich arbeitete Adorno erst 1938 systematisch das »Kapital« durch. Vorher mussten ihn seine Kollegen Max Horkheimer und Friedrich Pollock manches Mal korrigieren, wenn er in Artikeln für die Zeitschrift für Sozialforschung mit Marx’schen Begriffen hantierte, die gar nicht so richtig passen wollten. Das hielt Adorno allerdings nicht davon ab, seinerseits Walter Benjamin vorzuhalten, er solle mal gründlich Marx lesen und sich mit »Welthandel und Imperialismus« beschäftigen.

Der zweite Teil des Buchs handelt vom Exil, von der Debatte über den Staatskapitalismus, von der Arbeit an der »Dialektik der Aufklärung« und den »Minima Moralia«. Im dritten Teil beschreibt Braunstein, wie Adorno nach seiner Rückkehr nach Frankfurt, ab Ende der fünfziger Jahre, sich wieder mit Marx beschäftigte. Intensiv behandelte er ihn in seinen Seminaren, und die stetige Auseinandersetzung ging ein in die »Negative Dialektik«.

Adorno’sche Fassung einer Kritik der politischen Ökonomie

Braunstein zeigt, dass es eine »genuin Adorno’sche Fassung einer Kritik der politischen Ökonomie« gibt, außerdem: »wie sie aussieht, worauf sie zielt und wie sie erarbeitet wurde«. Adornos Grundintention war, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie zu verallgemeinern. Aus einer Kritik kapitalistischer Warenproduktion machte er eine Kritik des Tauschs und des Identitätsprinzips. Damit gab Adorno auf, was Marx auszeichnete: das exakte Verständnis von Ware, Geld und Mehrwert. Im Gegenzug gewann er eine negative Geschichtsphilosophie. Adorno galt die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft als »Sonderfall der Ökonomie«, als besondere Form von Herrschaft, die »sich zuzeiten in Form des Kapitalverhältnisses durchsetzt«.

Mit seiner eigenen Ökonomiekritik ging Adorno über Marx hinaus – und fiel gleichzeitig hinter ihn zurück. Wenn Adorno eine eigenwillige bis falsche Interpretation von Marx liefert, dann kritisiert Braunstein ihn dafür. Es geht ihm aber nicht darum, Adorno an Marx zu messen, sondern ihn als eigenständigen Kritiker der politischen Ökonomie zu präsentieren.

Dafür greift Braunstein auf Unmengen von Material zurück. Als das Buch vor fast 15 Jahren in erster Auf­lage erschien, berief er sich wesentlich auf Archivmaterial – auf Vorlesungen und Briefe Adornos sowie die Sitzungsprotokolle seiner Frankfurter Seminare. Vieles davon ist ­inzwischen veröffentlicht wurden, in Briefeditionen und den »Nach­gelassenen Schriften«. Die Seminarprotokolle hat Braunstein selbst ­herausgegeben. Seit 2014 leitet er das Archiv des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.

Streckenweise grenzt Braunsteins Stil an eine Montage

Nach wie vor ist die Stärke der Studie ihre Materialfülle. Braunstein zitiert Absatz um Absatz, Schnipsel um Schnipsel von Adorno. Im Unterschied zu vielen Texten, in denen an einzelnen Sätzen Adornos seitenlang heruminterpretiert wird, ist Braunsteins direkter. Wie er selbst schreibt: »Das Zeigen ist der vorherrschende Gestus der Arbeit.« Zu großen Teilen besteht das Buch aus Zitaten – streckenweise grenzt Braunsteins Stil an eine Montage.

Man merkt dem Buch immer noch an, dass es mal eine Doktorarbeit war. Die Sätze sind lang, die Worte schwierig, nicht zuletzt wegen der vielen Zitate. »Adornos Kritik der politischen Ökonomie« ist nicht für den Strand gedacht, sondern für den Schreibtisch. Es setzt voraus, dass man sich mit der Geschichte des Marxismus und der Kritischen Theorie auskennt.

Adorno hat sicher mehr unterstrichen. Seiten aus dem dritten Band von Karl Marx’ »Das Kapital« in der MEW-Ausgabe

Adorno hat sicher mehr unterstrichen. Seiten aus dem dritten Band von Karl Marx’ »Das Kapital« in der MEW-Ausgabe

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picture alliance / imageBroker / Klaus Wagenhäuser

Trotz ihrer akademischen Herkunft ist die Studie kurzweilig. Biographische Anekdoten und Scherze des Autors sind immer wieder eingestreut. Braunstein erzählt viel, das man nicht wissen muss, das aber die Mundwinkel zucken lässt: etwa wie Adorno mit seinem ersten Versuch einer Habilitation scheiterte oder dass er eine besonders wichtige Stelle im »Kapital« gleich sieben Mal angestrichen hat. Die Kapitel heißen zum Beispiel »Mein wackliges Luxushotel« und »So’n-Rätsel« (ein Namenswitz auf Kosten von Alfred Sohn-Rethel) – Anspielungen auf Formulierungen von Adorno, die sich selbst nicht zu ernst nehmen.

Lohnt sich die Neuauflage auch für jene, die »Adornos Kritik der politischen Ökonomie« bereits kennen? Bedingt. Viel hat sich nicht geändert. Einige Fehler wurden kor­rigiert, vor allem Literaturverweise verändert, wenn Archivdokumente zwischenzeitlich veröffentlicht worden sind.

Mit Haut und Haaren von dieser Gesellschaft gefressen

Ein augenfälliger Unterschied zu den vorherigen Auflagen betrifft die Fußnoten: Sie wurden in einen Apparat am Ende des Buchs verbannt. So sehen die Seiten weniger akademisch aus. Die Entscheidung hat aber ihre Nachteile. Man sieht nicht mehr auf einen Blick, ob ein Zitat von ­Adorno stammt oder aus der Sekundärliteratur. Um herauszufinden, dass Adorno selbst schrieb, dass »jeder von uns mit Haut und Haaren von dieser Gesellschaft gefressen wird«, muss man nun umständlich blättern. Und wenn Braunstein sich den Scherz erlaubt, die Oktoberrevolution mit dem Zitat »Endlich! Endlich!« zu garnieren, dann funktioniert das einfach besser, wenn man sofort sieht: Georg Lukács war der, der sich so freute.

Der größte Gewinn, den die Neuauflage bietet, ist ihr Anhang. Er enthält zwei Texte über Rolf Tiedemann. Beide sind sie kurz, beide würdigen sie den 2018 verstorbenen Philosophen und Editor, der unter anderem die Schriften Adornos und Benjamins herausgab.

Braunstein erzählt Anekdoten, schreibt zart und persönlich über seinen Freund und Kollegen, dem er das ganze Buch gewidmet hat. Er schätzt Tiedemanns Suche nach einer deutschen Sprache jenseits derer, »die die Nationalsozialisten zum Befehls- und Vollzugsbetätigungs­instrument herunterbrachten«. Sein Stil war darum literarisch und polemisch, manchmal etwas altmodisch.

Der Anhang enthält zwei Texte über Rolf Tiedemann. Beide sind sie kurz, beide würdigen sie den 2018 verstorbenen Philosophen und Editor.

Braunstein lobt auch seine Editionen: Tiedemann hielt sich zurück mit ­Erläuterungen, weil er mündige Leser voraussetzte. Er griff in den Originaltext ein, wo es sinnvoll war, und das konnte er, eben weil er philologisch redlich vorging. Man muss seine Auffassung von editorischer Arbeit nicht teilen, um die Leistung zu schätzen, aus der unvollendeten »Ästhetischen Theorie« Adornos ein lesbares Buch gemacht zu haben.

Wenn Braunstein über seinen verstorbenen Freund schreibt, dann schreibt er auch über sich selbst. Die kurzen Texte im Anhang erklären, wie er sein Buch verfasst hat. Braunstein zitiert so ausführlich, weil er Texttreue für eine Voraussetzung ernstzunehmender Philosophie hält. Ihm kommt es auf die Sprache an: Sei es, wenn er selbst formuliert, nämlich sehr genau, oft anspruchsvoll, aber nie angeberhaft unverständlich. Sei es, wenn er ab und an austeilt gegen Leute, die in ihren Texten irgendetwas hinschludern, ohne sich Gedanken zu machen über ihren Ausdruck.

Wer »Adornos Kritik der politischen Ökonomie« noch nicht gelesen hat, der hat mit der Neuauflage eine günstige Gelegenheit, es jetzt zu tun. Mit 29 Euro ist das Buch auch günstiger zu haben als früher bei Transcript – eine Entwicklung, die man sich bei anderen Waren nur sehnlichst wünschen kann.


Buchcover

Dirk Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie. 3., um einen Anhang ­erweiterte Auflage. Ça-ira-Verlag, Freiburg und Wien 2025, 464 Seiten, 29 Euro