Auf Kafka zurückgegriffen
Der Tod von Frank Kafka jährte sich 2024 zum 100. Mal – begangen wurde dieses Jubiläum mit neuen Filmen, Veranstaltungen und Buchveröffentlichungen. Das Jüdische Museum in Berlin hat es gerade noch geschafft, pünktlich im Jubiläumsjahr seine Ausstellung über den Schriftsteller zu eröffnen: »Access Kafka« ist seit Dezember vergangenen Jahres zu sehen.
Bis zum 4. Mai 2025 beherbergt die Sonderschau im Altbau des Museums, in den ehemaligen Räumen des Berliner Kammergerichts, auf 800 Quadratmetern sowohl Kafka-Exponate aus drei Archiven – dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, den Bodleian Libraries der University of Oxford und dem Max Brod Archive der National Library Israel – als auch Werke zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, die denen Kafkas zur Seite gestellt werden.
Annähernd drei Dutzend originale Kafka-Dokumente stehen über drei Dutzend Werken von fast zwei Dutzend Künstlern gegenüber; hinzu kommen Infographiken und Wandtexte, von denen nochmal mehr als ein Dutzend gibt. Das Ausstellungskonzept ist ambitioniert, der Umfang der Ausstellung enorm. Für den Besuch braucht es Zeit. Allein die Laufzeit der Videoarbeit »The Confessions of Roee Rosen« des israelischen Konzeptkünstlers Roee Rosen beträgt 56 Minuten.
Dass Schreibende zeichnen, ist keine Seltenheit. Doch die Ausstellung geht weiter, stellt Kafka zusammen mit international bekannten Künstlerinnen und Künstlern aus – und bietet damit auch die Möglichkeit, ästhetische Grundlagenforschung zu betreiben, die in eine einzige Frage mündet: Was ist Kunst?
In Vitrinen werden die Kafka-Exponate präsentiert. Dazu gehören Hefte mit Hebräisch-Vokabeln, Manuskriptseiten, Briefe und seine Zeichnungen. Während es den Anschein hat, dass hier die Zeichnungen Kafkas (von denen einige in der Vergangenheit auch seine Buchausgaben zierten) als kostbare historische Dokumente präsentiert werden, werden die historischen Exponate wie Tagebucheinträge und Briefe ins Kunstvolle erhoben. Dies könnte die Antwort auf Kafkas Freund Max Brod sein, der mit zunehmendem Alter befürchtete, Kafkas kleine Zeichnungen würden sich in einer Ausstellung nicht behaupten können.
Bis in die fünfziger Jahre hinein bemühte Brod sich auch um die Würdigung des Zeichners Kafka – und damit um einen ergänzenden Zugang zu Kafkas Werk: weg vom Schriftsteller, hin zum Künstler, der schreibt und zeichnet. Mittlerweile wird das allgemein so gesehen. Die Kuratorin Shelley Harten folgt der Kafka-Rezeption der vergangenen Jahrzehnte, nämlich die Zeichnungen, Tagebucheinträge und Aphorismen als Elemente des Gesamtwerks anzusehen.
Dass Schreibende zeichnen, ist keine Seltenheit. Doch die Ausstellung geht weiter, stellt Kafka zusammen mit international bekannten Künstlerinnen und Künstlern aus – und bietet damit auch die Möglichkeit, ästhetische Grundlagenforschung zu betreiben, die in eine einzige Frage mündet: Was ist Kunst? Noch komplizierter wird es, wenn man die Kopien der Anfänge von fünf Erzählungen Kafkas mit berücksichtigt, die zum Mitnehmen in jedem der sechs Ausstellungsteile ausliegen. Ist das Kunst, Textauszug oder Gadget?
Die gezeichneten Selbstporträts Kafkas verraten seinen Ehrgeiz, anatomisch korrekt zu arbeiten. Seine Figuren hingegen sind schwungvoller aufs Papier geworfen. Man spürt die Freude des Zeichners und die Erleichterung des Künstlers, sich hier im Tempo der eigenen Gedanken ausgedrückt zu haben.
Die restlichen Ausstellungsstücke beschränken sich nicht auf das Medium der Zeichnung. Zu sehen gibt es Malerei, Graphik, Skulptur, Video- und Konzeptkunst. Viele der Ausgestellten haben im 20. Jahrhundert gewirkt, von Marcel Duchamp über Marcel Broodthaers bis zu Hito Steyerl, aber auch jüngere Künstlerinnen wie Yael Bartana sind vertreten. Bei einem Drittel der 25 teilnehmenden Künstler handelt es sich um gebürtige Israelis, von denen wiederum gut die Hälfte Berlin zeitweise als Lebens- und Arbeitsmittelpunkt wählte. Der 1968 gestorbene Duchamp, ein Zeitgenosse Kafkas, dient der Kuratorin Harten nach eigenen Angaben als Scharnier, um zwischen Kafkas Lebenszeit und der Gegenwartskunst zu vermitteln – wovon sie sich einen »Dialog« zwischen diesen Epochen erhofft.
Direkte Verweise auf Kafka lassen sich bereits auf dem Weg ins Obergeschoss finden. Auf Plakaten wird mit einem Satz aus Kafkas Romanfragment »Amerika« gebeten: »Wer Künstler werden will, melde sich!« Verwendet hat den Satz, allerdings auf Englisch, die israelische Künstlerin Michal Na’aman, die Bild und Schrift malerisch miteinander kombiniert. Wenige Meter entfernt davon findet sich Martin Kippenbergers Schleudersitz auf Schienen, ein Werk ohne Titel. Die Skulptur, eben ein auf einen Ring aus Schienen montierter Sitz, entwickelte Kippenberger über die Jahre weiter. Resultat war die riesige Installation »The Happy End of Franz Kafka’s America«, deren Titel unumwunden einen Bezug zum Schriftsteller herstellt. Mit Hilfe eines QR-Codes im Begleitheft kann die vollständige Arbeit, bestehend aus 50 Tisch-Stuhl-Ensembles – die wiederum zahlreiche Verweise auf Design, Kunst- und Literaturgeschichte enthalten – virtuell angeschaut werden.
Erfreulicherweise keine vorgebene Reihenfolge
»Access Kafka« ist eine Ausstellung, die erfreulicherweise keine Reihenfolge vorgibt. Von einem zentralen Raum führen zu beiden Seiten Durchgänge in andere Räume. Gruppiert sind die Exponate um Titel wie »Access Denied« oder »Access Gesetz«. Man geht auf Werke zu, die einen anziehen, statt wie auf einem Fließband die Runde zu machen. Ebenso erfreulich: Harten entschied sich für eine reduzierte Ausstellungsarchitektur, womit sie den Besucherinnen und Besuchern einen großen Dienst erweist.
Denn die zwei mit schwarzem Stoff verhangenen Durchgänge, die in den Ausstellungsteil »Access Judentum« führen, fördern einen Stimmungswechsel. Man betritt einen dunkel gestrichenen Raum, hört eine Melodie. Eine ältere Frau steht auf einer Bühne und dirigiert. Die Filmsprache ist traumartig, spirituell aufgeladen. Es handelt sich um die Einkanalvideo- und Toninstallation »Mir Zaynen Do!« (Wir sind da!) der Multimediakünstlerin Yael Bartana. Ein afrobrasilianisches Straßenmusikensemble aus der Candomblé-Kultur und ein jüdisch-brasilianischer Chor treffen aufeinander. Ein Was-wäre-wenn-Szenario, in dem sich zwei musikalische Traditionen die Bühne teilen. Die Parallelen kann man sehen, muss man aber nicht: Den expressionistischen Hell-Dunkel-Kontrast und die Liebe zur darstellenden Kunst findet man auch bei Kafka.
Vielleicht liegt es an Kafkas Liebe zum Kino und dessen Nachleben in seinen Texten, dass es in der Ausstellung die Bewegtbilder sind, die mühelos in Kafkas Kosmos reichen. In Marcel Broodthaers’ tragikomischem »La Pluie (projet pour un texte)« von 1969, einem kurzen 16-mm-Film ohne Ton, versucht der belgische Künstler in strömendem Regen vergeblich, etwas schriftlich festzuhalten, doch das Wasser spült die Tinte fortlaufend weg. Kafka und seine Biographie liegen so nah: das Leben, das beim Schreiben stört. Und doch wäre es schade, Broodthaers’ pointierten Aberwitz allein als die Illustration der Arbeit eines anderen zu betrachten.
Im Gefängnis von Diyarbakır entstanden
Die Überraschung der Schau: ein perforiertes A4-Blatt in der Farbe von braunem Backpapier. Es gehört zur Serie »The Other History: Read« der kurdischen Künstlerin Fatoş İrwen. Die Serie entstand zwischen 2019 und 2020 im Gefängnis von Diyarbakır im Südosten der Türkei – İrwen war aus politischen Gründen eingesperrt worden. Auf dem Blatt sind 14 Zeilen mit Nadeln ausgestochen worden; die Form, die die Löcher bilden, erinnert an eine Sanduhr.
Dem Ausstellungskatalog zufolge wurde die Gefängniswache, angesichts der Mischung aus konkreter Poesie und Zygalski-Lochblatt, misstrauisch. Die kleinen Punktreihen – unterschiedlich lang, mit unterschiedlichen Abständen zwischen den Löchern – erwecken den Eindruck, es handle sich um eine codierte Botschaft. Das Besondere an İrwens Œuvre: Mit einfachen Mitteln und Naturmaterialien wie Haaren und Erde gelingt es ihr, präzise Gefühle einzufangen – und auszulösen.
Eine konsequent aberwitzige Ausbruchsstrategie entwickelt der für seine Low- und No-Budget-Produktionen bekannte israelische Videokünstler Guy Ben-Ner. In der Arbeit »House Hold« von 2001 versucht er, sich aus einem vergitterten Kinderbett zu befreien. Dazu nutzt er, was seine Kinder vor den Gitterstäben fallen lassen und er greifen kann. Eine Möhre wird zum entscheidenden Objekt auf dem Weg in die Freiheit. Die Nähe von Mary Flanagans Video-Serie »[Borders]« mit ihren menschenleeren digitalen Landschaften zu Kafka hingegen ist nicht sofort offensichtlich. Der Künstlerin und Game-Designerin gelingt taghelle Unheimlichkeit mit großartigem Sound. Man folgt einer ruckeligen Kamera, als säße man selbst im Kopf eines NPC – ohne Einfluss auf das Spiel.
Vielleicht liegt es an Kafkas Liebe zum Kino und dessen Nachleben in seinen Texten, dass es in der Ausstellung die Bewegtbilder sind, die mühelos in Kafkas Kosmos reichen.
Bedauerlicherweise kommen Kafkas Körperwandlungen zu kurz – seine vielen Verweise auf Tiere, man denke an »In der Akademie«, »Der Riesenmaulwurf« und natürlich »Die Verwandlung«, spielen in der Ausstellung keine nennenswerte Rolle. Ist das als Topos etwa schon auserzählt? Kafkas Tiergeschichten ragen genial ins Vorsprachliche hinein. Sie sind mehr als nur eine kreative Beilage. Das Video »Seduction of a Cyborg« der Künstlerin Lynn Hershman Leeson bringt zwar Transhumanismus in die Schau. Aber sind Menschen Maschinen wirklich näher als Tieren?
Natürlich ist der von der Kuratorin erhoffte »Dialog« eine Metapher, die nicht eingelöst werden kann. Man kann »Access Kafka« aber zum Anlass nehmen, dem Experiment zu folgen und nach Herzenslust die vielseitigen Positionen, Themen und künstlerischen Mittel zu entdecken.
Die Ausstellung »Access Kafka« im Jüdischen Museum Berlin ist noch bis zum 4. Mai zu sehen.