06.02.2025
Yassin al-Haj Saleh, Schriftsteller, im Gespräch über die Lage in Syrien

»Der Weltgeist ist derzeit in Syrien«

Die »Jungle World« traf den bekannten syrischen Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh, der seit 2017 im Exil in Berlin lebt, in seiner Herkunfts­stadt Damaskus und sprach mit ihm über seine Eindrücke dort.

Wie sehen Sie die Situation in Syrien?
Die Menschen sind erleichtert, dass das Regime, die Zerstörung und das Leiden zu Ende sind. Niemand hätte gedacht, dass der Sturz des Regimes so einfach sein würde. Es gibt zurzeit viele öffentliche Debatten über die Zukunft des Landes und den Umgang mit der Vergangenheit. Ein deutscher Freund sagte mir kürzlich, der Weltgeist sei derzeit in Syrien. Und das stimmt. Vielleicht ist er morgen woanders, aber jetzt ist er hier.

Kann diese Offenheit von Dauer sein?
Es wäre schön, diese positive Atmosphäre aufrechterhalten zu können. Aber die Last, die wir geerbt haben, ist enorm. 90 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, Kinder betteln. Mit 90 Prozent Armer kann es keine Demokratie geben. Nur drei Stunden lang pro Tag Strom zu haben, ist in­akzeptabel. In Industrie und Landwirtschaft sowie in der Bildung sehe ich viel Arbeit auf Syrien zukommen. Ein bis zwei Millionen Kinder gehen nicht zur Schule. Dann ist da noch das politische Problem. Syrien wird jetzt von Islamisten regiert. Entweder sie erfinden etwas Neues oder sie werden, wie andere Islamisten, untergehen. Das ist ihre große Angst.

»Es könnte auf ein System der Notablen hinauslaufen, das anhand religiöser und ethnischer Gruppen organisiert wird. Die Notablen der Christen, der Drusen, der Alawiten würden ihre Gemeinschaften im neuen System re­präsentieren. Menschen wie wir, Demokraten, Linke, Säkulare werden nicht repräsentiert sein.«

Wie sehen Sie die Miliz Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) und den nun zum Übergangspräsidenten ausgerufenen Ahmed Hussein al-Sharaa?
Ich selbst hatte große Angst, dass es in Homs und Damaskus Massaker geben würde, aber die Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Allerdings ist es in Homs noch nicht sicher, nach sieben Uhr abends ist niemand auf der Straße. In Latakia (Provinz mit überwiegend alawitischer Bevölkerung; Anm. d. Red.) wirkt alles normal, aber ich konnte die Anspannung unter der Oberfläche spüren. Die könnte mit der Zeit nachlassen, sollten große Razzien gegen Anhänger des gestürzten Regimes auch weiterhin ausbleiben. Die HTS achtet die Interessen anderer Religionsgemeinschaften. Als sie mitbekam, dass es in christlichen Vierteln Predigten von Islamisten gab, haben sie die Prediger aufgefordert zu gehen und einen von ihnen verhaftet.

Al-Sharaa gibt sich geläutert, will ­angeblich ein Syrien für alle, Wahlen und einen Verfassungsprozess. Könnte es mit den einstigen Jihadisten eine Demokratie geben?
Al-Sharaa hat Wahlen erwähnt, auch ein Parlament, aber nie von Demokratie gesprochen, auch nicht von Souveränität. Ich glaube, dass wir die Ära der Monster hinter uns gelassen haben, die 2013 begann, mit all den Verbrechen, den Enthauptungen, Sektenkriegen und dem Erzkonservativismus bei islamistischen Gruppen. Die früheren Jihadisten geben sich nun human und moderat – ich hoffe, dass sie es tatsächlich sind. Aber selbstverständlich werden wir mit ihnen keine Demokratie bekommen. Demokratie steht im Widerspruch zu ihrer Ideologie. In ihrer Ideologie ist der Souverän Gott, nicht das Volk.

Was für ein System streben al-Sharaa und die HTS dann an?
Es könnte auf ein System der Notablen hinauslaufen, das anhand religiöser und ethnischer Gruppen organisiert wird. Die Notablen der Christen, der Drusen, der Alawiten würden ihre Gemeinschaften im neuen System re­präsentieren. Menschen wie wir, Demokraten, Linke, Säkulare werden nicht repräsentiert sein. Im Westen wird vor allem über Minderheitenrechte in ­Syrien geredet. Das ist koloniales Denken. Als Syrien französisches Mandatsgebiet war, haben die Franzosen vor ­allem die Christen und andere Minderheiten geschützt. Auch das Assad-­Regime stand in dieser Tradition der Minderheitenpolitik. Warum reden alle von Minderheiten, wenn die Mehrheit, die Sunniten, von Assad massakriert und zur Flucht gezwungen wurden? Wir brauchen keine Minderheitenrechte, sondern Staatsbürgerschaft für alle und Demokratie, Bürgerrechte und soziale Rechte.

»Al-Sharaa ist 42 Jahre alt und möchte in die Geschichte als großer Führer eingehen. Er weiß, dass dieser kindische Jihadismus nicht funktioniert.«

Al-Sharaas Aussagen als Übergangspräsident sind nicht jihadistisch, aber woher stammen seine Ideen, was sind seine Vorbilder?
Er ist auf jeden Fall sehr belesen. Als Autor kann ich das beurteilen, denn er ist sehr wortgewandt, sehr klar und rhetorisch viel besser als Assad. Aber ich weiß nicht, was er liest. Ein Freund von mir hat ihn gefragt: »Welche Bücher muss ich lesen, um Sie zu verstehen?« Al-Sharaa antwortete: Philo­sophie, Geschichte, Technologie. Sein Vater war ein säkularer arabischer ­Nationalist. Ich habe die Hoffnung, dass diese frühe Erziehung einen Einfluss haben wird. Er ist 42 Jahre alt und möchte in die Geschichte als großer Führer eingehen. Er weiß, dass dieser kindische Jihadismus nicht funktioniert.

Wer ist die Opposition, die darauf drängen könnte, dass Demokratie und Bürgerrechte verwirklicht werden? Sind nicht die meisten Revolutionäre von 2011 im Ausland oder wurden ermordet?
Die offizielle Opposition unter den Assads war korrupt, weil sie vom Regime abhängig war. Trotzdem verteidige ich ihr Recht, sich an der politischen Debatte zu beteiligen. Al-Sharaa hat gesagt, sie seien als Individuen willkommen, aber nicht als Gruppe. Das sehe ich nicht so. Sie sollten nicht ausgeschlossen werden. Wenn man anfängt, Gruppen auszuschließen, schließt man am Ende alle aus. Man müsste eine Kultur der Inklusion entwickeln. Das gilt auch für Islamisten. Gegen den Kommunitarismus, den al-Sharaa anscheinend will, würde ich den politischen Pluralismus stark machen.

Gibt es Parteien, die diesen Pluralismus vertreten?
In den Neunzigern war ich Kommunist, aber die Kommunisten sind alt und haben ihre Energie verloren. Die anderen alten Parteien ebenfalls. Es gibt ein paar neue Parteien, die im Ausland gegründet wurden. Vor zwei Jahren wurde in Paris eine sozialdemokratische Partei gegründet, aber hier in Syrien habe ich nichts von ihr gehört. Man fängt also bei null an. Jetzt ist der Zeitpunkt, neue Parteien und Gewerkschaften zu gründen. Syrien ist ohne jede Form, es muss erst geformt werden. Darüber wird viel debattiert, aber bisher ist noch nichts daraus entstanden. Viele leben noch im Ausland, im Libanon oder in der Türkei.

Was ist Ihre persönliche Idee für Syrien? Wollen Sie an Ort und Stelle politisch mitgestalten?
Ich bin sehr froh, hier zu sein. Ich muss mir das erst mal anschauen und nachfühlen. Viele Syrer im Ausland haben eine unrealistische Vorstellung von dem, was passiert. Hier sieht man, wie instabil es ist. Ich bin auch gekommen, um das Verschwinden meiner Frau aufzuklären. Ich habe am 1. Januar ein Sit-in im Stadtviertel Duma organisiert, wo sie entführt wurde, und viele Interviews gegeben. Ich möchte eine Gedenktafel für sie dort anbringen lassen. Mit meiner Reise möchte ich etwas zurückgewinnen. Für mich geht es nicht darum, mein Land wieder zu mögen. Ich mag es nicht. Es hat mir viel Leid zugefügt. Ich mag das Syrien nicht, das hier war. Jetzt hat Syrien die Chance, menschlicher zu werden, und ich möchte helfen, es aufzubauen.

»Jetzt ist der Zeitpunkt, neue Parteien und Gewerkschaften zu gründen. Syrien ist ohne jede Form, es muss erst geformt werden.«

Außerdem möchte ich meine Autobiographie zu Ende schreiben. Ich habe damit aufgehört, als ich nach Europa kam. Hier kann ich über das Exil schreiben. Ich kann nicht über das Exil in Deutschland schreiben, weil mir die Distanz fehlt. Ich muss hier sein, um meine Geschichte zu Ende zu bringen. Aber für einige Zeit werde ich pendeln. Jetzt ist es zu schwierig, hier dauerhaft zu bleiben. Mit nur drei Stunden Strom am Tag und ohne Internet kann man nicht schreiben.

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Yassin al-Haj Saleh ist einer der bekanntesten oppositionellen Schriftsteller in Syrien. Er hat Bücher, Essays sowie Artikel über das syrische Regime geschrieben und gründete die kritische Zeitung »al-Jumhuriya« mit. 1980 wurde er als Vertreter des demokratischen Flügels der Kommunistischen Partei verhaftet und verbrachte 16 Jahre in syrischen Gefängnissen. Während des Bürgerkriegs übernahmen Islamisten das Viertel, in dem er in Damaskus wohnte. Auch gegen ihre Herrschaft kämpfte er gemeinsam mit seiner Frau Samira Khalil und politischen Freunden. 2013 wurden seine Frau und andere aus der Gruppe entführt, mutmaßlich von Islamisten. Saleh tauchte unter und kämpfte weiter für ihre Freilassung, doch Khalil blieb verschwunden. ­Saleh floh in die Türkei und von dort nach Berlin.