Tage des Ungehorsams
Die Straße zwischen den beiden größten serbischen Städten, Belgrad und Novi Sad, war blockiert, viele Schulen waren geschlossen und die Städte voller Demonstrierender. Ein Aufruf serbischer Studierender zum Generalstreik unter dem Motto »Tag des zivilen Ungehorsams« legte am Freitag vergangener Woche Teile der Infrastruktur und des alltäglichen Lebens lahm. Wenn es auch kein Generalstreik wurde, ist es doch die größte Protestbewegung in Serbien seit dem Sturz des Regimes von Slobodan Milošević im Oktober 2000. Am Montag begannen streikende Universitätsstudenten eine 24stündige Blockade einer wichtigen Verkehrskreuzung in Belgrad, Landwirte auf Traktoren und Tausende von Bürgern schlossen sich der Blockade an.
Der autokratisch regierende Präsident Aleksandar Vučić zog es vor, den Tag des angekündigten Generalstreiks im zentralserbischen Jagodina zu verbringen – einer Stadt mit rund 36.000 Einwohnern. Dort musste er keine großen Antiregierungsproteste befürchten, im Gegenteil: Bis zu 15.000 Menschen gingen für Vučić auf die Straße. Regierungsnahe Medien meldeten sogar bis zu 100.000, was falsch ist. Viele der Demonstranten wurden aus dem gesamten Land mit organisierten Bussen hingebracht, bezahlt von Steuergeldern der Bürgerinnen und Bürger. Unabhängigen serbischen Medien zufolge dürften einige derer, die für Vučić aufmarschierten, dadurch motiviert gewesen sein, dass die regierende Serbische Fortschrittspartei (Srpska napredna stranka, SNS) Staatsbediensteten mit Kündigung drohte, sollten sie nicht zu der Demonstration gehen.
In mehreren Fällen haben Autofahrer bewusst Demonstrierende angefahren.
Wer sich weigert, die SNS zu unterstützen – oder eine der Parteien aus der loyalen Opposition, die die Staatsmacht duldet, damit es nach Demokratie aussieht –, kann in vielen Branchen Probleme bekommen, denn Arbeitsplätze werden meist nach Parteibuch und Kontakten vergeben, nicht nach Qualifikation. Die SNS hat deutlich mehr Mitglieder in Serbien als die Kommunisten zu Zeiten Jugoslawiens.
Das orthodoxe Weihnachtsfest am 7. Januar verbrachten viele serbische Studierende auf Schlafmatten. Seit Monaten sind die Universitäten und Fakultäten im Land besetzt. Der Beginn der Studierendenproteste geht auf den Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad am 1. November zurück, bei dem 14 Personen auf der Stelle und eine Person später im Krankenhaus starben. Besonders brisant dabei: Der Hauptbahnhof von Novi Sad war frisch renoviert; die neue Schnellstrecke nach Belgrad hatte der omnipräsente Vučić in seinem Wahlkampf herausgestellt. Nun liegt die Frage nahe, wie das an einem Gebäude geschehen konnte, das doch gerade erst feierlich neueröffnet wurde. Für die meisten protestierenden Studierenden ist die Antwort klar: Korruption und Intransparenz. Das Motto der Proteste, »Ruke su vam krvave«, bedeutet sinngemäß »An euren Händen klebt Blut«.
Behauptung der Regierung stellte sich als Lüge heraus
Die Regierung behauptete, das Vordach sei nicht Teil der Bauarbeiten gewesen, was sich als Lüge herausstellte. Das Versprechen, wichtige Unterlagen zum Bau zu veröffentlichen, wurde nicht eingehalten. Die Protestierenden gehen davon aus, dass sich in den Dokumenten klare Belege dafür finden lassen, wie die Korruption der SNS zum Unglück führte. Da das Bahnhofsvordachs um 11.52 Uhr einstürzte, werden seither regelmäßig Straßen um diese Zeit für 15 Minuten besetzt – für jede Tote und jeden Toten eine Schweigeminute.
Inzwischen kam es zu mehreren Fällen, bei denen Autofahrer bewusst Demonstrierende angefahren haben. Am Freitag, als zum Generalstreik aufgerufen worden war, nahm die Polizei eine 24jährige Fahrerin im Stadtteil Neu-Belgrad fest, nachdem diese eine 26jährige Demonstrantin verletzt hatte, die ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Große Aufmerksamkeit erregte der Fall der 20jährigen Jurastudentin Sonja Ponjavić, die am 16. Januar mitten in Belgrad angefahren und mehrere Meter mitgeschleift wurde. Ponjavićs Zustand ist wieder stabil, gegen den Fahrer wird wegen versuchten Mords ermittelt. Ein Video der Tat ging viral. Der Täter könnte sich dadurch ermutigt gefühlt haben, dass Vučić nach einem ähnlichen Vorfall am 1. Dezember in Požarevac öffentlich gesagt hatte, der Fahrer solle nicht festgenommen werden, weil die Demonstranten im Weg herumgestanden seien und er doch nur habe durchfahren wollen.
Selbst Tennisstar Novak Đoković solidarisierte sich mit den Studierenden
Nach diesem Vorfall solidarisierte sich der bisher nicht als regimekritisch bekannte serbische Tennisspieler und »Nationalheld« Novak Đoković mit den Studierenden und richtete Genesungswünsche an die angefahrene Ponjavić: »Leider ist dies nicht die einzige Situation der Gewalt gegen Studenten und junge Menschen.« Und weiter sagte Đoković auf einer Pressekonferenz bei den Australian Open: »Meine Unterstützung gilt immer den jungen Menschen, den Studenten und allen, denen die Zukunft unseres Landes gehört.«
Über 50.000 Demonstrierende versammelten sich am 17. Januar in Belgrad vor dem Gebäude des öffentlich-rechtlichen Senders RTS. Ihre Forderung lautete: Die Proteste sollen nicht weiter von dem Sender ignoriert oder systematisch diskreditiert werden, das öffentlich-rechtliche Fernsehen solle sich in den Dienst der serbischen Bürgerinnen und Bürger stellen und keine Propagandaschleuder für die Regierungspartei sein. Auch im Sender selbst scheinen das viele zu unterstützen. Ihre Vertreter forderten, unabhängig über die Proteste berichten zu können, und sagen damit auch offen, dass das derzeit nicht möglich sei. Inzwischen hat RTS auf seiner Homepage einen Livestream zu den Protesten eingerichtet.
Vučić reagiert mit Repression, Überwachung und Verschwörungserzählungen. Er äußerte nach Beginn der Proteste die absurde Anschuldigung, dass die Studierenden vom »Westen« bezahlt seien, und sagte, dass er nicht wie der gestürzte syrische Präsident Bashar al-Assad nach Moskau fliehen werde. Nach dem Vorbild Russlands werden die Proteste nun auf ausländischen Einfluss zurückgeführt und Aktivistinnen und Aktivisten mit dieser Begründung drangsaliert und festgenommen. In der Nacht auf den 23. Januar kamen serbische Polizisten in Zivil in ein Hotel, in dem sich Teilnehmer der Fortbildung »NGO Academy« befanden.
Spyware auf dem Handy
Die Veranstaltung wurde von der »Ersten Stiftung« des österreichischen Sparkassenverbandes ausgerichtet. Die Teilnehmer wurden festgenommen und über Nacht auf dem Revier befragt. Dann wurde ihnen mitgeteilt, dass sie als »Sicherheitsrisiko« eingestuft würden und das Land innerhalb von 24 Stunden verlassen müssten. Diese Repressalie hat vermutlich den Hintergrund, dass unter den 13 Personen fünf kroatische Staatsbürger waren und die serbische Regierung und die regierungsnahen Medien die Lüge verbreiten, dass Kroatien ebenfalls hinter den Protesten stecke. Das kroatische Außenministerium riet seinen Staatsbürgern daraufhin von unnötigen Reisen nach Serbien ab.
Eine weitere Methode des Regimes lernte der Student Nikola Ristić kennen. Er hatte am 3. November einen Protest auf dem Platz der Republik in Belgrad organisiert und wurde von Polizisten um 10 Uhr morgens zu einem Gespräch mit dem Geheimdienst BIA einbestellt. Anfangs wollte er nicht mitkommen, weil die Beamten keine formelle Grundlage für eine solche Befragung vorlegen konnten, doch nachdem sie ihm versichert hatten, dass es schnell gehen werde, ging er mit. Die Befragung dauerte bis 13.30 Uhr und Ristić gibt an, bei dem Gespräch bedroht und eingeschüchtert worden zu sein. Vor allem aber bemerkte er ungewöhnliche Aktivitäten auf seinem Handy, nachdem er es für das Gespräch hatte abgeben müssen. Er sendete das Gerät an das Security Lab von Amnesty International, die Organisation konnte die Spyware-Applikation »Novispy« auf seinem Gerät identifizieren.
Man werde zu einem Gespräch einbestellt, müsse währenddessen seine elektronischen Gegenstände abgeben und bekomme sie mit installierter Spyware zurück. Das könnte auch erklären, warum die serbischen Behörden vermehrt Menschen zu Gesprächen auf Polizeistationen einbestellen.
Janik Besendorf vom Digital Security Lab von der NGO Reporter ohne Grenzen sagte dazu im Gespräch mit der Jungle World: »Die serbischen Behörden haben zuvor die Staatstrojaner Predator und Pegasus genutzt, doch bei Novispy brauchen die Behörden physischen Zugang auf ein entsperrtes Smartphone.« Die Benutzercodes hätten die Polizei durch das Beobachten beim Entsperren bekommen oder Software des Unternehmens Cellebrite genutzt, um die Sperrung zu umgehen.
Bei Novispy sei es durchaus möglich, schnell zu erkennen, ob man ausgehorcht werde, sagte Besendorf. In einem Bericht hat Amnesty International 13 Fälle ausgewertet, bei denen der serbische Geheimdienst Novispy eingesetzt hatte. Das Vorgehen gegen kritische Journalisten, Aktivistinnen und Demonstrierende sei dabei immer gleich. Man werde zu einem Gespräch einbestellt, müsse währenddessen seine elektronischen Gegenstände abgeben und bekomme sie mit installierter Spyware zurück. Das könnte auch erklären, warum die serbischen Behörden vermehrt Menschen zu Gesprächen auf Polizeistationen einbestellen.
Am Dienstagmorgen hat der serbische Ministerpräsident Miloš Vučević seinen Rücktritt erklärt. Vermutlich hat Vučić den Ministerpräsidenten geopfert, um den Protesten Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Präsident kündigte eine Regierungsumbildung an.