Chemnitz schlägt den Raab
Natürlich musste die bekannte 40 Tonnen schwere Karl-Marx-Büste in der Chemnitzer Innenstadt am 18. Januar als Kulisse für die Eröffnung herhalten. Mit Blechbläsern und Techno-DJ, Tango und Breakdance sollte schon einmal gezeigt werden, was dieses Jahr von der sächsischen Stadt zu erwarten steht. Chemnitz ist Europäische Kulturhauptstadt 2025. »Diese Aufmerksamkeit haben Sie längst verdient«, rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Chemnitzern von der Bühne aus entgegen.
Aufmerksamkeit für Chemnitz, die galt bislang meist den Problemen der Stadt. So viele Kameras wie jetzt hatten sich zuletzt 2018 auf Chemnitz gerichtet. Damals rotteten sich nach einem tödlichen Messerangriff auf einen ansässigen Deutsch-Kubaner Neonazis aus der Stadt und dem gesamten Bundesgebiet vor dem Marx-Monument zusammen. Die Ausschreitungen schafften es bis über den Atlantik auf die Titelseite der New York Times. 2018 prägte nicht nur das Image von Chemnitz. Viele in der Stadt sagen auch: Die Ereignisse von damals sind der Grund, aus dem Chemnitz den Titel überhaupt bekommen hat.
Wer sich das Programm zur Kulturhauptstadt anschaut, der findet wenig, was offensiv die rechtsextreme Geschichte und Gegenwart von Chemnitz behandelt.
Wenn nun überall in den Medien von Chemnitzer Kleinkünstlern, dem Mikrokosmos DDR-Garage und Tausenden für ein Kunstprojekt gepflanzten Apfelbäumen zu lesen ist, dann ist bereits in Erfüllung gegangen, was sich Städte wie Chemnitz von dem Titel seit Jahren versprechen. Images aufpolieren, das war und blieb stets das Ziel des Programms »Europäische Kulturhauptstadt«, bei allem Wandel, den es in den 40 Jahren seines Bestehens durchgemacht hat.
Denn am Anfang ging es weniger um das Image ausgewählter Städte als um die Europäische Gemeinschaft (EG) selbst. Der Vorläufer der Europäischen Union war seit den Siebzigern heillos zerstritten über die Agrarpolitik. In Großbritannien wurde bereits damals ein Austritt gefordert und 1979 sagte Margaret Thatcher beim EG-Gipfel in Dublin ihr berühmtes: »I want my money back!« Die Europäische Gemeinschaft brauchte eine Erfolgsgeschichte. Besonders brauchte das die griechische Ratspräsidentschaft, die 1983 zum Fiasko zu werden drohte.
Athen war die erste
Melina Mercouri, damals griechische Kulturministerin von der sozialdemokratischen Partei Pasok, eine ehemalige Schauspielerin und Oppositionelle gegen die griechische Militärdiktatur, begann inspiriert von der erstmals 1982 in Paris zelebrierten Fête de la Musique das damals noch unter dem Namen »Europäische Kulturstadt« laufende Programm, Athen wurde 1985 die erste.
Strenge Vorgaben gab es zunächst nicht. Anders als heute beschränkte sich das Programm weitgehend auf die Sommermonate. In den ersten Jahren trugen Städte wie Florenz oder Paris den Titel, die bereits ein Image als Kulturstadt hatten.
Das ändert sich 1990 mit Glasgow. Die schottische Industriestadt in der Krise mit ihrem von Arbeitslosigkeit und Alkoholismus geprägten Schmuddelimage bekam den Titel nicht als Auszeichnung für ihre etwaige kulturelle Bedeutung. Der Titel wurde ihr vielmehr verliehen um einen gerade erst anstehenden Stadtumbau zu fördern. Ausstellungen zogen im Laufe des Kulturhauptstadtjahres in leerstehende Fabriken ein, Hafengebäude wurden umgenutzt. Die Entwicklung Glasgows wurde zu einer Blaupause für andere Städte, deren industrielles wirtschaftliches Fundament ebenfalls zerbröckelt war.
Professionalisierung der Projekte
Mit der Zeit wurden die Vorgaben strenger, die Vorbereitungszeit wurde länger und die Projekte wurden professioneller. Seit dem Jahr 2000 tragen mindestens zwei Städte gleichzeitig den Titel. Nach Glasgow hat sich das Programm »Europäische Kulturhauptstadt« zu einem Instrument der EU gewandelt, das wirtschaftsschwachen Regionen unter dem Mantel eines ganzjährigen Kulturevents einen Entwicklungsschub verpassen soll.
Was am Ende herauskommt, hängt von den jeweiligen Städten ab. Das zeigte sich auch 2010, als Deutschland zuletzt mit Essen eine Kulturhauptstadt präsentiert hatte, die den Titel stellvertretend für das ganze Ruhrgebiet erhielt. Während dort ehemalige Zechen in Kulturorte verwandelt wurden, betrieb das gleichzeitig ausgewählte türkische Istanbul klassisches Touristenmarketing und die dritte Kulturhauptstadt des Jahres, das ungarische Pécs, konzentrierte sich auf Infrastrukturprojekte.
Chemnitz teilt sich den Titel dieses Jahr mit den aneinandergrenzenden Städten Nova Gorica in Slowenien und Gorizia in Italien. Beworben hat sich die sächsische Stadt bereits 2016, vor den rechtsextremen Ausschreitungen. Auch abgesehen vom 2018 endgültig verfestigten Nazi-Image ersehnte man in der Stadt eine Verbesserung der Außenwirkung und des Selbstbilds. Wer das verstehen will, der muss sich eine »TV Total«-Sendung von 2009 anschauen. »Nach dem Mauerfall steigt die Lebenserwartung in Ostdeutschland an. Man lebt also länger – das ist die gute Nachricht«, bereitet Moderator Stefan Raab seine Pointe vor. »Und die schlechte Nachricht: in Chemnitz.« Zur besten Sendezeit musste die Stadt als Symbol für das trostlose Verliererdasein herhalten.
Nach 1989 verlor Chemnitz ein Viertel seiner Einwohner
Vom einstigen Produzentenstolz der Stadt, die im 19. Jahrhunderts noch als »sächsisches Manchester« galt, ist seit dem Beitritt zur Bundesrepublik nicht mehr viel übrig. Die Fabriken schlossen. Karl-Marx-Stadt – so hatte die DDR die Stadt umbenannt – verlor ein Viertel seiner Einwohner. Wer blieb, zog oft in die Einfamilienhausgebiete. Große Shoppingcenter wurden am Stadtrand gebaut und ziehen den Einzelhandel aus der Innenstadt. Leere bestimmt das Stadtzentrum.
Chemnitz, im sächsischen Städtedreieck mit Leipzig und Dresden das Problemkind, versucht seit den Neunzigern, sich neu zu erfinden. Was seinen Nachbarn gelang, blieb in Chemnitz bis heute aus. Leipzig kann sich sein Image zwischen »Hypezig«, »Klein-Venedig« und »das neue Berlin« aussuchen. Dresden steht für Touristen, Hochkultur und Chiphersteller. Und Chemnitz?
Als »Sportstadt« wollte der damalige Oberbürgermeister Peter Seifert Chemnitz in den neunziger Jahren vermarkten. Mit dem Titel ließen sich zwar nicht die Arbeitsplätze schaffen, die die Region bräuchte, sagt der SPD-Mann 1997. »Aber das Image vom ›hässlichen Entlein‹ hätten wir damit aufpolieren können.« Seine Nachfolgerin Barbara Ludwig (SPD) bewarb sich erst vergeblich um den Titel »Wissenschaftsstadt«, den Städte mit renommierten Forschungseinrichtungen verliehen bekommen – und dann erfolgreich um den Titel Europäische Kulturhauptstadt.
Große Hoffnungen auf langfristige wirtschaftliche Effekte
Dass es mit dem Titel nicht allen vorrangig um Kunst geht, machte der seit 2020 amtierende Chemnitzer Oberbürgermeister, Sven Schulze (SPD), 2023 deutlich. Die im Stadtrat vertretene rechtsextreme Gruppe Pro Chemnitz nannte das Projekt »Größenwahn« und forderte den Ausstieg. Schulze verwies daraufhin im MDR-Interview auf den Zugang zu Förderprogrammen und Geld, das man sonst nie bekommen hätte: »Insofern ist das eine ganz wichtige Investition in diese Stadt und nicht nur in irgendwelche abstrakten Kunst- oder Kulturobjekte.«
Rund 90 Millionen Euro sollen dank der Auszeichnung in die Stadt fließen. Der überwiegende Teil kommt von Bund und Land. Lediglich anderthalb Millionen Euro sind als EU-Preisgeld direkt an den Titel Europäische Kulturhauptstadt geknüpft. Seit 1990 sind darüber hinaus auch die Hoffnungen auf langfristige wirtschaftliche Effekte des Titels und einen Umbau der städtischen Ökonomie von der Industrieproduktion hin zur Kreativwirtschaft groß. Doch selbst das als Paradebeispiel geltende Glasgow liefert keine Belege für dauerhaften ökonomischen Nutzen.
Auch ob sich die Kulturhauptstadt dauerhaft bemüht, den Nazi-Einfluss in der Stadt zu begrenzen, bleibt fraglich. In seinem Bewerbungsbuch thematisierte die Stadt ganz prominent die Ausschreitungen von 2018, ebenso wie die Gegenproteste, die in einem Konzertevent mit 65.000 Besuchern unter dem Slogan »Wir sind mehr« mündeten. Erklärtes Ziel ist es, mit dem Kulturhauptstadtprogramm die »stille Mitte« der Stadt zu erreichen.
»Der Umgang der Kulturhauptstadt mit den für Chemnitz typischen Problemen reiht sich ein in die Tradition, wie in Sachsen und Chemnitz immer schon mit diesen Problemen umgegangen wurde: ignorieren und leugnen.« Felix Kummer, Sänger der Chemnitzer Band Kraftklub
Wer sich nun das Programm anschaut, der findet wenig, was offensiv die rechtsextreme Geschichte und Gegenwart der Stadt behandelt. Für Irritationen sorgte hingegen Stefan Schmidtke, der Geschäftsführer der Chemnitzer Kulturhauptstadt gGmbH, im November bei einer Diskussionsveranstaltung der Lokalzeitung Freie Presse. Bei Garagenkonzerten des Vorprogramms der Kulturhauptstadt komme ein bunter Haufen zusammen, auch stadtbekannte Nazis. Man komme dabei ins Gespräch. »Ich finde, das ist richtig und gut«, zitierte ihn die Tageszeitung.
Das hatten sich viele anders vorgestellt. Auch Felix Kummer, der Sänger der überregional bekannten Chemnitzer Musikgruppe Kraftklub, kritisierte das in seinem Podcast. »Der Umgang der Kulturhauptstadt mit den für Chemnitz typischen Problemen reiht sich ein in die Tradition, wie in Sachsen und Chemnitz immer schon mit diesen Problemen umgegangen wurde: ignorieren und leugnen.«
Am Ende bleibt ein Jahresprogramm, das sich mehr als in anderen Kulturhauptstädten an die Chemnitzer selbst richtet und sich vielleicht auch an diesen ausrichtet. So stehen die Chancen gut, dass es zwar kaum jemand in Chemnitz uneingeschränkt toll findet, was dieses Jahr passiert, aber auch kaum einer alles kategorisch ablehnen wird.