30.01.2025
Jüdisches Leben ist in Deutschland 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz gefährdet wie lange nicht mehr

Der große Rückzug

Jüdische Gemeinden in Deutschland meiden 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz immer mehr den öffentlichen Raum.

Zwar ist es lange schon Standard, dass jüdisches Leben in Deutschland hinter Panzerglas und unter Polizeischutz stattfinden muss. Die Lage hat sich aber nochmal erheblich verschlechtert. Seit dem 7. Oktober 2023 hat Antisemitismus in allen Lebensbereichen zu­genommen. Jüdische Gemeinden sprechen von einem Leben davor und einem danach. Sie berichten von stark vermehrten antisemi­tischen Angriffen – diese finden nun fast täglich statt. Die Zahlen zivilgesellschaftlicher Monitoring-Einrichtungen wie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias), aber auch die Polizeistatistik bestätigen das.

Zentrum der antisemitischen Bewegung ist Berlin. Rias Berlin spricht hier von einem »neuen Ausmaß«. Bislang präsentierte die Recherchestelle einmal jährlich die Zahlen für das gesamte Vorjahr. Der Trend lasse es nun aber zu, so Rias Berlin, Halbjahreszahlen vorzulegen: Allein in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres dokumentierte das Projekt 1.383 antisemitische Vorfälle in der Hauptstadt. Damit hat es – seit Beginn der Dokumentation 2015 – mehr Vorfälle erfasst als je zuvor innerhalb eines gesamten Jahres. Es ist keine Übertreibung mehr, gewisse Orte als No-go-Areas für Jüdinnen und Juden zu bezeichnen.

Notgedrungen ziehen sich jüdische Gemeinden immer mehr aus dem öffentlichen Raum zurück und raten ihren Mitgliedern sogar, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr erkennbar jüdisch zu kleiden. Das Sicherheitsgefühl schwindet immer mehr.

Antisemitismus prägt den Alltag. Die Tatorte sind häufig solche, die Jüdinnen und Juden regelmäßig aufsuchen und nicht meiden können. Das ist eine Belastung, die das private, aber auch das organisierte jüdische Leben in Deutschland verändert. Notgedrungen ziehen sich Gemeinden immer mehr aus dem öffentlichen Raum zurück und raten ihren Mitgliedern sogar, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr erkennbar jüdisch zu kleiden. Das Sicherheitsgefühl schwindet immer mehr.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kann noch so oft betonen, sie wolle alles für den Schutz von Jüdinnen und Juden tun – am Ende ist davon wenig zu merken. Jüdische Schulen und Kitas müssen Aktivitäten außerhalb ihrer Einrichtungen absagen, weil sie die Sicherheit der Kinder und Jugendlichen nicht gewährleisten können. Ein jüdisches Ferienlager musste erstmals rund um die Uhr von einer privaten Sicherheitsfirma bewacht werden. Die örtliche Polizei hatte das empfohlen, darum kümmern mussten sich die Veranstalter selbst. Und jüdische Vereine berichten, dass sie ihre Aktivitäten stark reduziert zu haben. Es fehlten die finanziellen Mittel, für ausreichend Sicherheit zu sorgen. Die muss in der Regel nämlich aus der eigenen Tasche bezahlt werden.

Demos gegen Antisemitismus sind rar und schlecht besucht

Die Polizei scheint resigniert zu haben, wenn sie Betroffenen antisemitischer Gewalt rät, umzuziehen, weil sie ihnen nicht helfen könne. Wenig überraschend ist es somit, dass nach solchen Erfahrungen einige das Vertrauen in die Polizei verlieren und noch ­weniger Vorfälle melden als zuvor schon. Im Kampf gegen Antisemitismus fühlen sie sich nicht ohne Grund allein gelassen.

Zwar erfährt der Slogan »Nie wieder ist jetzt« seit dem vergangenen Jahr wieder große Beliebtheit – allerdings nur im Kampf gegen die AfD, der noch immer – vollkommen zu Recht – Abertausende Menschen auf die Straßen treibt. Jüdinnen und Juden wird hingegen die Solidarität verweigert. Demonstrationen gegen Antisemitismus sind seit dem 7. Oktober 2023 nicht nur rar, sondern zudem meist schlecht besucht.

Ihre Umgebung erleben Jüdinnen und Juden, so liest man immer wieder, vielfach als feindlich und große Teile der Gesellschaft als empathielos und unsolidarisch. Einige denken darüber nach, Deutschland zu verlassen. So viel zur Bilanz jüdischen Lebens in Deutschland 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz.