23.01.2025
Die Unionsparteien übernehmen in ihrem Wahlprogramm viel von der AfD

Kanzler anstelle des Kanzlers

Friedrich Merz, der Kanzlerkandidat der Unionsparteien, will um jeden Preis regieren. Während ein gutes Leben weiterhin nur Anlegern und Superreichen vorbehalten bleiben soll, ist für Arbeitslose und Migranten strenge Erziehung vorgesehen. Viele Punkte des Wahlprogramms lesen sich wie ein Abklatsch der AfD-Forderungen.

Als der FDP-Vorsitzende Christian Lindner 2017 die Sondierungsgespräche für eine Koalition aus Union, FDP und Grünen platzen ließ, sagte er, es sei besser, gar nicht zu regieren, als falsch zu regieren – ein Satz, den er vermutlich oft bereut hat. Denn natürlich fliegt einem so was tausendfach um die Ohren, sobald man dann doch in eine Regierung einsteigt und die ersten Probleme auftreten.

Auch Friedrich Merz werden zahlreiche Äußerungen immer wieder vorgehalten, aber nichts derart Grundlegendes. Schließlich kann man dem CDU-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten der Unionsparteien auch beim besten Willen (welcher hier keineswegs behauptet werden soll) nicht unterstellen, er plane, »gut« zu regieren, oder habe überhaupt eine Vorstellung davon, was genau das sein könne. Merz will einfach nur regieren.

Seine kurze Zeit als konservativer Hoffnungsträger, der so knallige Themen setzte wie die auf einen Bierdeckel passende Steuererklärung, ist lange her. Von der späteren Kanzlerin Angela Merkel (CDU) aus allen relevanten Positionen gedrängt, musste er 16 Jahre lang ein zwar enorm einträgliches, aber seinen überbordenden Geltungsdrang offenbar nicht befriedigendes Dasein als Rechtsanwalt und Lobbyist fristen, weshalb er nach dem Abgang seiner Gegnerin auch gleich zurück in die Politik drängte. Nicht weil er irgendwelche zündenden politischen Ideen hätte, sondern weil er dem ehrgeizzerfressenen Großwesir Isnogud in der gleichnamigen Comicserie gleicht: er will einfach endlich »Kalif anstelle des Kalifen« werden.

Der Klimawandel wird nicht geleugnet, man möchte nur nichts weiter gegen ihn tun.

Und weil so ein Kalif zwar hierzulande Kanzler heißt, aber doch bestimmt über ähnliche Machtfülle verfügt wie ein amerikanischer Präsident, kündigt er schon mal ein »faktisches Einreiseverbot« für Migranten an, das er am allerersten Tag seiner Regierung dekretieren möchte. Dass die Verfassung einem solchen Vorgehen im Weg steht – egal. So egal, wie die Tatsache, dass Merz noch gar nicht gewählt ist. Von derlei albernen Formsachen lässt sich ein Merz nicht abhalten. Die Union kündigt an, einen Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen, um dauerhafte Grenzkontrollen und die Zurückweisung ausnahmslos aller Menschen, die keine gültigen Einreisedokumente haben, zu ermöglichen. Außerdem sollen ausreisepflichtige Personen »unmittelbar in Haft genommen« und das Aufenthaltsrecht für Straftäter und sogenannte Gefährder verschärft werden. Bleibt nur noch die Frage, wer einem solchen Gesetzentwurf wohl zustimmen könnte. Die verbliebenen Regierungsparteien SPD und Grüne aus Prinzip wohl eher nicht. Mithin bleiben nur FDP und AfD, und weil es gegen letztere ja eigentlich eine »Brandmauer« der Unionsparteien geben sollte, hat sich der gewitzte Merz einen kleinen Trick überlegt: diese Partei einfach in der Erläuterung zum Gesetzestext ein bisschen anprangern und darauf vertrauen, dass sie (im Wissen darum, dass derlei Antragsprosa ohnehin niemanden interessiert) trotzdem zustimmt. So geht Wahlkampf à la Merz: offensiv, laut, erratisch. Das hat er sich bei Donald Trump abgeschaut.

Natürlich, ein ordnungsgemäßes Wahlprogramm braucht es schon auch, wenn man gewählt werden will, aber wer diesbezüglich so offen ist wie Merz, hat einen klaren Vorteil. Da schaut man halt einfach, wer in den vergangenen Jahren mit welchen Themen reüssierte und welche Haltungen in der Bevölkerung gerade ziehen. Und so ist der Umgang der von Merz geführten Unionsparteien mit der AfD inzwischen weniger von dem fatalen Irrglauben der anderen Parteien geprägt, man könne den Aufstieg der Rechtsextremen aufhalten, indem man ihre Themen partiell übernimmt. Man versucht vielmehr, eine umfassende AfD-Doublette unter dem eigenen Parteilogo zu erstellen. Merz’ Parteifreundin Julia Klöckner, unter Angela Merkel Landwirtschaftsministerin, brachte dieses Vorhaben mit einer Wähleransprache via Instagram auf den Punkt: »Für das, was ihr wollt, müsst ihr nicht die AfD wählen. Dafür gibt es eine demokratische Alternative: die CDU.«

»Haltung. Herz. Heimat.«

Gut, das war vielleicht etwas zu offenherzig, weshalb Klöckner (eigener Slogan: »Haltung. Herz. Heimat.«) den Post auch wieder zurückziehen musste. Aber im Grunde fasste sie damit das Wahlprogramm der Unionsparteien ganz gut zusammen – auch jenseits der Großthemen Migration und Sozialabbau. Was Erstere angeht, tun CDU und CSU ja ohnehin alles, um im laufenden Überbietungswettbewerb sämtlicher etablierter Parteien die Nase vorn zu behalten, und haben mit der – derzeit nicht verfassungskonformen – Idee, Leuten, die straffällig werden, den deutschen Pass zu entziehen, sofern sie noch über einen anderen verfügen, sogar die AfD-Forderung nach »Remigration« mit einem eigenen Label versehen.

Für »anerkannte Schutzberechtigte« soll es »verpflichtende Integrationsvereinbarungen« geben, mit streng zu kontrollierenden »Etappenzielen«. Zudem sollen diese Schutzberechtigten zu einem »gemeinnützigen integrativen Dienst« verpflichtet werden, um sie »an den Arbeitsmarkt heranzuführen«. Und für alle sonstigen Arbeitslosen hat man die – verfassungsrechtlich ebenfalls problematische – Idee, selbst die Grundsicherung komplett zu streichen, »wenn jemand grundsätzlich nicht bereit ist, Arbeit anzunehmen«.

Bei all den anderen Themen, die oft eher unter dem Radar laufen, weil sich auch die Medien seit Jahren auf Migranten und »faule Arbeitslose« konzentrieren, sieht es nicht besser aus: Die vom anfänglichen Fetisch inzwischen zu einem nach Blutopfern gierenden Götzen mutierte »Schuldenbremse«, die Investitionen in marode Infrastruktur, den kaputtgesparten Bildungssektor und alle anderen Bereiche, die einst staatliche Kernaufgaben waren, verhindert, soll unbedingt bleiben. Und um ihre katastrophale Wirkung zu verstärken, möchten die Unionsparteien zudem Unternehmen- und Erbschaftsteuern senken, die Einkommensgrenze für den Spitzensteuersatz hochsetzen und den Solidaritätszuschlag für Reiche abschaffen.

Blackrock gefällt das

Zum Ausgleich will man nicht nur bei Migranten und Arbeitslosen sparen, auch die ohnehin immer dysfunktionaler werdende Bahn soll weiter »verschlankt« werden. Schließlich sagt man im Wahlprogramm »ja zum Auto« und will daher auch das auf EU-Ebene beschlossene Aus für Neuwagen mit Verbrennermotoren (ab 2035) rückgängig machen. Außerdem soll das Fliegen noch günstiger werden, um den »Luftverkehrsstandort Deutschland zu erhalten«.

Immerhin, der Klimawandel wird nicht geleugnet, man möchte nur nichts weiter gegen ihn tun. Beeindruckend ist in diesem Kontext folgender Satz des Wahlprogramms: »Die Entwicklung von Finanzprodukten und ihre Bewertung durch den Anleger dürfen durch regulatorische Vorgaben nicht unnötig erschwert werden. Die EU-Taxonomie wollen wir entschärfen.« Das bedeutet eine Abkehr Deutschlands von der eigentlich ganz pfiffigen Idee der EU, Unternehmen anhand konkreter Kriterien für Ökologie, soziale Verantwortung und gute Unternehmensführung zu bewerten, um damit entsprechende Investitionen von großen Fonds und anderen Finanzmarktteilnehmern zu erleichtern und zu fördern. Der großen Investmentgesellschaft Blackrock, bei der Merz bis 2020 im Aufsichtsrat saß, wird der Satz gefallen. Wobei natürlich Blackrock, wie viele andere US-Unternehmen, ohnehin bereits den Wahlsieg von Donald Trump zum Anlass genommen hat, sich von derlei »woken« Investitionsstrategien zu verabschieden.

Die EU erscheint im Wahlprogramm vor allem als Bürokratiemonster, das man dringend auf seine Hauptaufgaben (»Schutz der EU-Außengrenzen« sowie »Energieunion« und »Kapitalmarktunion«) schrumpfen muss.

Auch abgesehen von sogenannten Nachhaltigkeitsthemen erscheint die EU im Wahlprogramm vor allem als Bürokratiemonster, das man dringend auf seine Hauptaufgaben (»Schutz der EU-Außengrenzen« sowie »Energieunion« und »Kapitalmarktunion«) schrumpfen muss: »Wir wollen einen sofortigen Belastungsstopp für neue und laufende EU-Initiativen, einen EU-Wettbewerbsfähigkeits-Check und einen unabhängigen europäischen Normenkontrollrat, der die Bürokratiekosten misst.« Damit gehen CDU und CSU nicht nur hinter die Europapolitik der Ära Merkel zurück, sondern selbst noch hinter Helmut Kohl, den die beiden Parteien doch jahrzehntelang stolz als »großen Europäer« ehrten.

Gut, einen Austritt aus der EU und die Wiedereinführung der D-Mark will die Union nicht. Wenigstens das unterscheidet sie noch von der AfD. Aber dafür stößt man bei kulturellen und zivilgesellschaftlichen Fragen wieder ins selbe Horn: Zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) heißt es beispielsweise, es brauche »ein Informationsangebot, das nicht überwältigt, belehrt oder bevormundet, nicht tendenziös oder einseitig ist. Wir verpflichten den ÖRR zu seinem Kernauftrag: Sparsamkeit, mehr Meinungsvielfalt und Neutralität.« Ansonsten ist man selbstverständlich gegen »Gendersprache«, und Kultur soll sich gefälligst stärker selbst finanzieren: »Kultur-Sponsoring, Mäzenatentum und Wirtschaftskooperationen müssen selbstverständlicher Bestandteil im Management moderner Kultureinrichtungen sein.« Unterschiedliche Lebensentwürfe will man zwar »respektieren«, aber grundsätzlich gilt das »Leitbild von Ehe und Familie«, weshalb man die Aufzucht neuer deutscher Kinder mit allerlei Steuergeschenken und höherem Kindergeld fördern möchte.

Wut gegen »das System«

Der Grundtenor bei allen innenpolitischen Themen ist die Abkehr von jenem gesellschaftlichen Liberalismus, der sich seit Jahrzehnten im Schatten des weiterhin proklamierten Wirtschaftsliberalismus entwickelt hat. Außenpolitisch sieht die Union ihre »Verantwortung in der Welt« vor allem durch eine »verteidigungsfähige Bundeswehr« wahrgenommen.

Zum hiesigen Rechtsextremismus gibt es nur eine einzige Passage, die mit dem Satz endet: »Wir bekämpfen sie mit voller Härte auf der Basis unseres 2020 gestarteten Maßnahmenpakets.« Gemeint ist damit offenbar eine Reihe von Gesetzesänderungen, die vom vergangenen Merkel-Kabinett (also unter Mitwirkung der SPD) verabschiedet wurden. Ob es dem Geiste dieses »Maßnahmenpakets« entspricht, Gesetze mithilfe der AfD durch den Bundestag zu bringen und sich sein derzeitiges Wahlprogramm über weite Strecken von dieser Partei diktieren zu lassen, darüber schweigen dessen Autoren leider. Aber ist ja auch nicht so wichtig, am Ende wird man sowieso mit mindestens einer, vielleicht sogar zwei Parteien der bisherigen Regierung koalieren und also Kompromisse finden müssen, um den eigentlichen Kernpunkt des Programms durchzusetzen, nämlich den nervigen alten Isnogud endlich zum Kalif anstelle des Kalifen zu machen. Dass so die von der AfD geschürte Wut gegen »das System« weiter angeheizt wird, was dieser Partei umso bessere Aussichten für kommende Wahlen verschafft – egal.

aktualisiert am 28.1.2025