Ressentiment und Rendite
Wenn der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in der Vergangenheit drohte, EU-Sanktionen gegen Russland zu blockieren, hatte er dabei meist nur den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico an seiner Seite. Derzeit steht Orbán ganz allein mit der Ansage, einer Ende Januar fälligen Verlängerung von Sanktionen unter anderem zur Einfrierung russischen Staatsvermögens bei EU-Banken nicht zustimmen zu wollen. Doch bald könnte ihm eine österreichische Regierung unter Führung der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) beispringen.
Die FPÖ hat stets gefordert, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufzuheben. Schon Ende 2014 beklagte Johannes Hübner, damals Abgeordneter der FPÖ, im österreichischen Nationalrat, dass Österreich sich in diesem »amerikanisch-russischen Krieg« nicht neutral verhalte. Später wurde er selbst von ukrainischen Behörden sanktioniert, weil er 2014 als Wahlbeobachter für das von Russland organisierte Annexionsreferendum auf die Krim gereist war und 2017 zusammen mit anderen Abgeordneten der FPÖ am Jalta-Wirtschaftsforum teilnahm, mit dem Investoren für die besetzte Halbinsel gewonnen werden sollten.
Der voraussichtlich zukünftige Kanzler Herbert Kickl (FPÖ) nannte die Sanktionen gegen Russland ein »gigantisches Programm der Massenverarmung und der Massenverelendung« für Österreich.
Hübner war 2016 federführend bei einem Versuch, eine Volksbefragung gegen die Wirtschaftssanktionen zu initiieren, mit denen man sich »in die Fänge einer ausländischen, einer nichteuropäischen Macht begeben« habe – gemeint waren die USA. Ein Kooperationsvertrag zwischen der FPÖ und Putins Partei Einiges Russland wurde ebenfalls 2016 unterzeichnet. Als dieser der Partei nach der umfassenden russischen Invasion der Ukraine 2022 peinlich wurde, übte man sich im Kleinreden: Der Vertrag sei nie mit Leben gefüllt worden und außerdem schon ausgelaufen. In diesen Ausflüchten sah Christian Stocker, der jetzt als geschäftsführender ÖVP-Vorsitzender die Koalitionsverhandlungen mit der FPÖ leitet, ein »Schuldeingeständnis der FPÖ«.
Dass das Personal der FPÖ sich gewissen Reizen Russlands nur schwer entziehen kann, weiß man spätestens, seit Heinz-Christian Strache, damals FPÖ-Vorsitzender, 2017 auf Ibiza eine vermeintliche »Oligarchennichte« beeindrucken wollte. Aber die Russland-Begeisterung hat ältere ideologische Wurzeln: Der Glaube an eine »tiefe russische Seele«, völkische Vorstellungen eines organischen Reichs, die sich gegen einen angeblich seichten westlichen Staatsbegriff richten, schlagen in der pangermanischen und der panslawistischen Tradition ähnliche Saiten an.
Russland als Projektionsfläche
Leo Löwenthal sah den »Mythos der Gemeinschaft« als einen der zentralen Gründe der deutschen Begeisterung für Fjodor Dostojewskij in der Zwischenkriegszeit an, dessen Werke, auf Deutsch herausgegeben von dem völkischen Publizisten Arthur Moeller van den Bruck, damals zu Bestsellern wurden. Heute dient Russland wieder als Projektionsfläche, als ein dem Liberalismus westlicher Prägung und den USA trotzendes Land.
Auch der voraussichtlich zukünftige Kanzler Herbert Kickl (FPÖ) ließ seinem antiamerikanischen Ressentiment freien Lauf, als er 2022 bei einer Rede im Parlament gegen die Sanktionen in Harnisch geriet. Diese seien nicht nur ein »gigantisches Programm der Massenverarmung und der Massenverelendung« für Österreich, der Krieg werde auch nur geführt, »weil die USA mit Hilfe der Nato ihre eigenen Machtinteressen seit Jahren unmittelbar vor die russische Haustür ausweiten wollen«.
Die EU lasse »sich vor den amerikanischen Karren spannen«, und zwar mit dem »Ziel, eine Weltordnung zu schaffen, in der es nur eine Weltmacht gibt, das sind die Amerikaner, und dem wird alles untergeordnet«; die Ukraine solle zum »Vasallenstaat« gemacht werden. Wieder war es Stocker, der Kickl scharf kritisierte: »Sie erzählen die Geschichte Putins zu diesem Krieg, und somit weiß man auch, auf wessen Seite Sie stehen.«
Kein russisches Gas per Pipeline mehr
Aber auch in der ÖVP zeigte sich der Wirtschaftsflügel nicht spröde gegen eine profitträchtige Lockerung der Sanktionen. Kickl berief sich in seiner damaligen Rede auf den ÖVP-Politiker Harald Mahrer, seit 2018 Präsident der Wirtschaftskammer Österreichs, der der EU-Kommission vorgeworfen hatte, die Sanktionen seien »ein Anschlag auf die gesamte europäische Wettbewerbsfähigkeit«.
In dasselbe Horn hatte früher schon Georg Knill gestoßen, der Präsident der österreichischen Industriellenvereinigung, dessen Firmengruppe, die Knill-Gruppe, auch in Russland aktiv ist. Er meinte, man könne »die Wirtschaft, wie wir sie kennen, ohne Gas aus Russland nicht aufrechterhalten«. Sanktionen gegen die österreichischen Gasimporte aus Russland gab es freilich nie, doch seit Anfang des Jahres erhält Österreich erstmals seit Jahrzehnten kein russisches Gas per Pipeline mehr, weil der Transitvertrag zwischen der Ukraine und Russland ausgelaufen ist.
Ein weiterer im Machtgefüge der ÖVP zentraler Faktor ist die Raiffeisenbank, die mit ihrer Tochter Raiffeisenbank International (RBI) bis heute die westliche Bank mit dem größten Russland-Geschäft ist. Weil die Europäischen Zentralbank fordert, dass sich die Raiffeisenbank aus Russland zurückzieht, sucht diese derzeit nach Wegen, ihr Russland-Geschäft möglichst ohne Verluste abzustoßen und die in den vergangenen Jahren akkumulierte Profite in Gesamthöhe von mehreren Milliarden Euro aus Russland heraus zu transferieren.
»Umkehr der Abkehr von Putin«
Dieser Flügel hat sich offenbar in der ÖVP durchgesetzt, weshalb die Koalitionsgespräche mit der sozialdemokratischen SPÖ abgebrochen wurden. Zum einen hielt man wohl den Versuch der SPÖ, das Budgetdefizit nicht nur durch Kürzungen, sondern auch mit einer Bankenabgabe und Kapitalsteuern zu verringern, für eine Zumutung, zum anderen erscheint diesem Flügel auch eine Zusammenarbeit mit Russland attraktiv.
Zu dieser Einschätzung kommt selbst jemand wie der Chefkommentator der konservativen Oberösterreichischen Nachrichten, Gerald Mandlbauer: »In der Ukraine halten Soldaten die Stellung, in Österreich träumt man wieder von billigem Gas. Raiffeisen ist für Blau-Schwarz, weil Raiffeisen International sein Geld aus Russland herausbekommen will.« Eine »Umkehr der Abkehr von Putin« sei an der Tagesordnung bei der ÖVP und ihrem neuen Parteivorsitzenden Stocker.
In einem seiner jüngsten Interviews zeigte sich Stocker verwundert, dass wegen seiner Kehrtwendung so viel Aufhebens gemacht werde: »Geändert hat sich nur, dass ich jetzt etwas anderes mache, als ich vorhergesagt habe.« In Österreich, wo der vielbeschworene Hausverstand sich meist als Mischung aus Opportunismus, Ressentiment und rücksichtsloser Renditegier herausstellt, kann man mit so einem Spruch gut durchkommen. Und so dürfte Österreich bald – unter dem Vorwand, damit nur die Neutralität des Landes zu wahren – den putinfreundlichen Block in der EU vergrößern.