Ukrainisches Sowjetboxen
Kurz vor Weihnachten sind in einer Sportbar in Berlin-Mitte alle Plätze vor den Bildschirmen belegt. Gleich steigen Oleksandr Ussyk und Tyson Fury zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate zusammen in den Ring, um auszumachen, wer den Weltmeistertitel aller fünf internationalen Boxverbände im Schwergewicht, der Königsklasse des Profiboxens, tragen darf. Es treten nicht nur zwei körperlich sehr unterschiedliche Athleten – Fury wiegt über 20 Kilogramm mehr als Ussyk – gegeneinander an, sondern auch historisch konträre Boxschulen und Sportauffassungen.
Der Ukrainer Ussyk hat in dieser Sportbar viele Anhänger unter seinen exilierten Landsleuten. Eine Frau bekreuzigt sich. Dabei hat Ussyks sportlicher Erfolg – er war Olympiasieger, später Weltmeister im Halbschwergewicht, bis er dann mit Gewichtsnachteilen in die Schwergewichtsklasse aufstieg – wenig mit Gottesfügung zu tun, aber viel mit dem Boxsystem der atheistischen ehemaligen Sowjetunion. Deren Boxauffassung und -praxis brachte auch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus noch viele Champions hervor. Die bekanntesten in Deutschland dürften die ebenfalls aus der Ukraine stammenden Klitschko-Brüder sein.
Im Unterschied zum radikal individualistischen westlichen Berufsboxen sollten die Sportler der Sowjetunion deren gesellschaftliches Ideal vertreten. Dieses beinhaltete, gebildet, fair und solidarisch zu sein.
Der Brite Tyson Fury verkörpert hingegen klischeehaft den Typus des westlichen Profiboxers. Er stammt aus einer Irish travellers-Familie und tritt als ungehobelter Showman auf inklusive Drogenexzessen. Wie viele Ausnahmesportler glaubt er, Gott habe ihn auserwählt.
Noch kein Abonnement?
Um diesen Inhalt zu lesen, wird ein Online-Abo benötigt::