»Die Zahl der Todesfälle hinter Gittern steigt«
Wie kam es dazu, dass Sie mit einer Handvoll anderer Frauen nach den ersten Festnahmen bei den großen Antiregierungsprotesten am 11. Juli 2021 begannen, Daten zum Verbleib der festgenommenen Demonstranten zusammenzutragen?
Die Proteste vom 11. Juli sind bisher einzigartig. Weder vorher noch nachher hat es etwas Vergleichbares in Kuba gegeben. Wir waren überwältigt von der Größe der Proteste, aber auch von der Dimension der Repression. Wir wollten damals schlicht helfen – in einer Situation der inselweiten Unsicherheit. Ich habe an den Protesten in Havanna teilgenommen, ich war Zeugin der Festnahmen und hatte viel Glück, dass ich nicht selbst festgenommen wurde. Das hat mir zu denken gegeben. So fiel die spontane Entscheidung, dass ich oder besser wir die Fälle dokumentieren – bis alle Verhafteten wieder nach Hause zu ihren Familien zurückkehren.
Sensible Daten der Inhaftierten zu erheben, wie Geburtsdatum, Telefonnummer, Polizeistation oder das Gefängnis, in dem sie festgehalten werden, ist alles andere als einfach. Gab es Ressourcen?
Nein, natürlich nicht. Wir hatten keine Ahnung, wie es ist, in professionellen Datenplattformen zu arbeiten – all das war neu für uns. Aber wir standen unter Zeitdruck, wollten etwas tun, hatten keine Zeit, erst mal zu lernen, wie so etwas geht und was es bereits gibt – wir haben einfach angefangen mit der Excel-Datei. Später zogen wir mit unseren Daten auf eine professionelle Plattform um.
Wie haben Sie anfangs Kontakte und Reichweite erhalten?
Vor allem in den ersten Monaten haben wir viel Hilfe von Cubalex erhalten, in erster Linie von der Gründerin, der Anwältin Laritza Diversent, die damals sehr engagiert war, den Verhafteten in Kuba zu helfen, Personalien festzustellen, Anwälte zu instruieren, Hilfe zu organisieren. Diese Allianz mit Cubalex hat uns zu Kontakten zu internationalen Medien verholfen. Über Cubalex sind viele Nichtregierungsorganisationen und Journalist:innen zu uns gelangt.
»Wir haben Belege dafür, dass Familien Konsequenzen zu spüren bekamen, wenn sie Grundrechte ihrer Angehörigen in Gefängnissen oder auf den Polizeiwachen einforderten.«
Und wie kam der Kontakt zu den Familien der Verhafteten zustande?
Das war relativ einfach. Leute gaben uns spontan Auskunft, als wir ihnen erklärten, was wir machen. Niemand hätte sich damals vorstellen können, dass die Repression nach dem 11. Juli so weit reichen würde, dass selbst die Familien der Inhaftierten davon betroffen sind, vor allem weil das Gros der Protestteilnehmer vorher keinen Kontakt zur Opposition, zu Menschenrechtler:innen oder der unabhängigen, kritischen Presse hatte. Repression ist seit dem »Triumph der Revolution« 1959 Teil der kubanischen Realität. Die Familien waren aber weder vorbereitet noch hatten sie eine Ahnung, wie die gewöhnliche Repression läuft, was die Opposition an Ausgrenzung und Verfolgung erlebte. Wir haben Belege dafür, dass Familien Konsequenzen zu spüren bekamen, wenn sie Grundrechte ihrer Angehörigen in Gefängnissen oder auf den Polizeiwachen einforderten. Wir haben in diesem Jahr eine Studie veröffentlicht, in der wir die Fälle systematisieren und beschreiben, mit welcher Form von Gewalt Familien konfrontiert wurden.
Viele der Inhaftierten nach dem 11. Juli wurden erst durch Ihre Arbeit wahrgenommen. Wann begannen Ihre Probleme mit den kubanischen Behörden, der Polizei, der Staatssicherheit? Weshalb mussten Sie die Insel Ende 2022 verlassen?
Mit dem Beginn unserer Arbeit wurde der staatliche Überwachungsapparat auf uns aufmerksam, auch wenn die Behörden anfangs beinahe diskret auftraten. Zumindest gegen mich, die ich recht neu in der Menschenrechtsarbeit war, ging man nicht direkt vor. Ich hatte mich zuvor für den Tierschutz und im Rahmen der in erster Linie von Künstlern und Intellektuellen geprägten Bewegung 27N engagiert …
… das Kürzel steht für den 27. November 2020, an dem Künstler:innen vor dem Kulturministerium protestierten …
… ja, die sich gegen Repression und Zensur wehrten. Ich war jedoch neu in dieser Welt. Meine Überwachung und die Angriffe gegen mich begannen im Januar 2022. Bis März wurde die Observierung immer deutlicher, es gab Einschüchterungsversuche und von da ab wurde es immer schwieriger, unsere Arbeit zu machen. Im Dezember, an dem Tag, als in Kuba ein neues Strafgesetzbuch in Kraft trat, das unsere Arbeit weiter erschwert hätte, reiste ich ins Exil nach Mexiko aus – es gab keine andere Option. Dort lebe ich nun seit zwei Jahren.
»Im Dezember, an dem Tag, als in Kuba ein neues Strafgesetzbuch in Kraft trat, das unsere Arbeit weiter erschwert hätte, reiste ich ins Exil nach Mexiko aus – es gab keine andere Option.«
Wie erging es anderen Mitgliedern von Justicia 11J?
Gegen viele wurde sehr viel früher vorgegangen, weil sie bereits zuvor in anderen Organisationen tätig waren, wie die Journalistinnen Cynthia de la Cantera oder María Matienzo. Beide schrieben für unabhängige Medien. Folgerichtig verließen sie Kuba früher – das gilt auch für Kirenia Yalit, die längst ihre eigene Organisation in der Jugendarbeit gegründet hatte.
Justicia 11J hat sich um die Festgenommenen nach dem 11. Juli gekümmert. Wie viele Menschen sind Ihren Quellen zufolge in Kuba aus politischen Gründen inhaftiert?
Wir wissen von 848 Menschen. Die Situation in den 163 Gefängnissen dokumentiert das Centro de Documentación de Prisiones Cubanas (CDPC), das eng mit uns zusammenarbeitet und dem gleichen Trägerverein Iniciativa para la Investigación y la Incidencia A.C. (Initiative für Forschung und Einflussnahme) angehört, den ich nach meiner Ankunft im mexikanischen Exil gegründet habe.
Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge ist die Situation in den kubanischen Gefängnissen misslich. Klagen über die schlechte Ernährung, die miese medizinische Versorgung sind weitverbreitet. Welche Auswirkung hat das?
Die schlechten Haftbedingungen haben dazu geführt, dass bestimmte Krankheiten hinter Gittern gehäuft auftreten. Jeden Monat erscheinen zu diesem Thema zwei Berichte des CDPC zur generellen Situation und zur gesundheitlichen Situation von bekannten Häftlingen mit gravierenden Gesundheitsproblemen. Generell treten in den Gefängnissen vermehrt Hauterkrankungen, aber auch Entzündungen im Mund- und Rachenraum auf. Hinzu kommen Infektionskrankheiten wie das Denguefieber, Darmparasiten, Atemwegserkrankungen, Krätze und Koliken. In einer ganzen Reihe von Vollzugsanstalten ist zudem Tuberkulose dokumentiert. Gravierend ist, dass die Zahl der unterernährten Häftlinge in Kuba gestiegen ist. In mehreren Gefängnissen wurden stark untergewichtige Häftlinge zusammengelegt, um sie besser zu versorgen.
»2023 haben wir 24 Todesfälle dokumentiert, im Jahr 2024 waren es Ende Dezember 49.«
Ist es zu vermehrten Todesfällen in Haft gekommen?
Es hat von 2023 auf 2024 einen Anstieg der Zahl der Todesfälle hinter Gittern gegeben. 2023 haben wir 24 Todesfälle dokumentiert, im Jahr 2024 waren es Ende Dezember 49.
Einer der international bekannten politischen Gefangenen der Insel ist José Daniel Ferrer, der Anführer der oppositionellen Bewegung Unión Patriótica de Cuba (Unpacu). Wie ist seine Situation?
Ferrer ist seit dem 11.Juli 2021 im Gefängnis Mar Verde von Santiago de Cuba inhaftiert. Unseren Informationen zufolge wird er immer wieder angefeindet, wurde mehrfach in einer sogenannten Strafzelle allein weggesperrt, zuletzt wurde er von den Wärtern brutal verprügelt und anschließend ins Krankenhaus verlegt. Danach trat er in den Hungerstreik, um durchzusetzen, dass seine Familie ihn wieder besuchen darf – seit März 2023 war ihm das verweigert worden. Der Fall Ferrer ist beispiellos, denn er wurde nach dem 11. Juli 2021 festgenommen, obwohl er an den Protesten gar nicht teilgenommen hatte – er stand damals unter Hausarrest. Dieser wurde dann in eine Haftstraße umgewandelt, vorbeugend, hieß es. Allerdings ist die Haftstrafe von über vier Jahren, zu der Ferrer 2020 verurteilt wurde, mittlerweile abgelaufen. Er wird also unserem Informationsstand zufolge ohne Urteil weiterhin festgehalten.
Wird in kubanischen Gefängnissen gefoltert?
Ja. Das CDPC hat gerade eine Studie zu den Formen der Folter in kubanischen Gefängnissen veröffentlicht. Zwischen dem 1. Januar und dem 10. Oktober wurden demnach 73 Opfer körperlicher Folter in kubanischen Gefängnissen registriert, darunter 38 politische Gefangene.
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