Der Aktivist vom Zauberberg
Die Jubiläumsfeiern zum 100. Jahrestag des Erscheinens von Thomas Manns »Zauberberg« haben eine derartige Mann-Übersättigung erzeugt, dass es schwerfällt, weiteren Veröffentlichungen mit aufgeschlossener Sympathie zu begegnen. Die Beliebtheit dieses Bildungs-, Konversations- und Rekonvaleszenzromans dürfte damit zu tun haben, dass die Haltung, aus der heraus das Buch rezipiert wird, dem ohnmächtig-abgeklärten Habitus ähnelt, den es kritisiert: Ein abgewirtschaftetes Bildungsbürgertum, das um seinen Bankrott weiß, ohne ihn sich eingestehen zu wollen, delektiert sich bei melancholischem Selbstgenuss an den Ruinen einstiger Größe. Deshalb sind Räsonnement, Aperçu, Aphorismus und geflügelte Worte bevorzugte Stilmittel des »Zauberberg«.
Wo Humanität kein lebendiger Bestandteil der Wirklichkeit mehr ist, sondern zum Kulturgut erstarrt, gerinnt das Bildungsdeutsch zum Zitatwörterschatz. Je weniger selbstverständlich unreglementierte Spontaneität und Geselligkeit im Leben sind, desto monologischer gerät ihre rhetorische Beschwörung.
Thomas Mann, der die Pathogenese des deutschen Bildungsbürgertums über alle politischen Neuorientierungen hinweg immer wieder zum Gegenstand seiner Prosa machte, wäre wenig erbaut davon, dass sein Werk mittlerweile als eine Art kulturpolitischer Gemischtwarenladen fungiert, aus dem jeder sich entsprechend der taktischen Absicht nach Belieben bedient.
Manns Verhältnis zum Judentum, das oberflächlich betrachtet fluktuierend und unentschieden wirken mag, gewinnt Sina Konsequenz ab, indem er zeigt, wie es sich gemeinsam mit seinem Verständnis des bürgerlichen Nationalstaats wandelte.
Sich für liberal-konservativ haltende Mann-Fans loben die grammatische Korrektheit und Komplexion seines Deutschs und halten sie dem heutigen Sprachverfall entgegen; Antideutsche berufen sich auf seine unter dem Titel »Deutsche Hörer!« zwischen 1940 und 1945 vom BBC ausgestrahlten antinazistischen Rundfunkreden aus der Zeit des Exils, auf sein Engagement für die zionistische Bewegung und den jungen israelischen Staat, auf seine distanzierte Sympathie für die Protagonisten der Kritischen Theorie sowie seine Reserviertheit gegenüber der jungen Bundesrepublik; linke Feinde alles Bürgerlichen werten die zwischen 1915 und 1918 entstandenen »Betrachtungen eines Unpolitischen« als Beweis seines nie überwundenen Deutschnationalismus.
Solche den Rekursen auf Mann eigentümliche Beliebigkeit korrespondiert in gewisser Weise mit der Qualität des Œuvres, das auch dort, wo es ausnahmsweise zur Parteilichkeit oder Agitation neigt, immer eine gewisse Reserve gegenüber definitiven Werturteilen bewahrt.
Diesen Gestus, der sich weniger als Relativismus denn als bestimmte Unentschiedenheit, als in die ästhetische Form eingewandertes Zögern, beschreiben lässt, rückt der Literaturwissenschaftler Kai Sina in seiner Studie »Was gut ist und was böse« in den Mittelpunkt. Darin beschäftigt er sich in einer Reihe pointillistischer Skizzen mit den politischen Interventionen, die Mann seine Laufbahn hindurch immer wieder unabhängig von seiner literarischen Arbeit unternahm.
Abwendung vom ästhetizistischen Kult als Gegenprinzip zum Leben
Anders als der Untertitel – »Thomas Mann als politischer Aktivist« – suggeriert, geht es Sina dabei um das Gegenteil dessen, was heutzutage als Aktivismus abgefeiert oder denunziert wird. Manns politische Interventionen dienen ihm zur Veranschaulichung der genuin bürgerlichen Einsicht, dass der auf Wahrheitserkenntnis zielende ästhetische Schaffensprozess in bestimmten historischen Konstellationen aus der eigenen Logik heraus dazu genötigt ist, sich in einem Registerwechsel vom Literarischen ins Politische zu überschreiten. Daher ist Sinas Studie, obwohl sie sich auf Manns politische Texte konzentriert, ein Beitrag zu dessen Ästhetik, weil sie, um den werkimmanenten Stellenwert der Interventionen zu bestimmen, die Taxonomie ästhetischer, moralischer und politischer Begriffe rekonstruiert, die diesen zugrunde liegt.
Programmatisch hierfür steht ein Passus aus Manns 1952 entstandenem Essay »Der Künstler und die Gesellschaft«, der Sina als Leitmotiv dient: »Gut und böse – gut und schlecht: Nietzsche hat viel psychologischen Federlesens gemacht von diesem Gegensatzpaar, aber es fragt sich, ob schlecht und böse wirklich so verschiedene Dinge sind, wie er wahrhaben wollte. In der ästhetischen Welt, das ist wahr, braucht das Böse (…) nicht das Schlechte zu sein. Es habe nur Qualität, so ist es ›gut‹. In der Welt des Lebens und der menschlichen Gesellschaft aber ist das Schlechte, Dumme und Falsche auch das Böse, nämlich das Menschenunwürdige und Verderbliche, und sobald der Kritizismus der Kunst sich nach außen wendet, (…) wird der Künstler zum sozialen Moralisten.«
Damit rekapituliert und bekräftigt Mann seine seit den zwanziger Jahren stattgefundene Abwendung vom ästhetizistischen Kult als Gegenprinzip zum Leben.
Die Kunst bleibt demnach eine eigengesetzliche Sphäre, in der anders als in der Gesellschaft und der Politik das Böse eigenes Geltungsrecht hat. Andererseits dürfe, so Mann, bei der Kunst- wie Gesellschaftserfahrung nie vergessen werden, dass das in der Kunst als Teil des Schönen geadelte Böse politisch und sozial mit dem Schlechten konvergiere: dass Dummheit, Stümperei und Lüge, die im Ästhetischen (etwa in Gustave Flauberts literarischer Thematisierung der Dummheit) eigenen Rang haben können, im gesellschaftlichen Leben Verderbnis bringen.
Vertrauen auf ästhetische Differenziertheit und Urteilskraft
Sina zeigt, wie Manns seit dem Ende der Weimarer Republik ausgebildete Auffassung eingreifender Kunst sich nicht nur von solchem ästhetischen Absolutismus unterscheidet, sondern auch von der etwa von Bertolt Brecht vertretenen engagierten Literatur, die ästhetischen Genuss, Kontemplation und Weltflucht politisch in ihre Schranken wies. Was Sina als Manns »Aktivismus« bezeichnet und sich in dessen tagespolitischen Einsprüchen und Parteinahmen niederschlug, meint weniger ein Engagement, bei dem der Dichter seine Distanz aufgibt, als das Vertrauen auf ästhetische Differenziertheit und Urteilskraft auch in der Sphäre der Gesellschaft. »Aktivismus« bedeutet, die ästhetische Wahrnehmung und die Literatur als ihre sprachliche Ausdrucksform als Schule für die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Lebens aufzufassen.
Deshalb kommt Sina immer wieder auf Manns scheinbar vorpolitische Urteile über Tagespolitik und Gesellschaft zu sprechen, etwa wenn dieser in der Frühzeit der nationalsozialistischen Bewegung den »Hakenkreuz-Unfug« vorwarf oder bei Massenveranstaltungen das »Scharren im Parkett« als Publikumsäußerung sah, die sowohl demokratische Unzufriedenheit mit der Dummheit der Vortragenden wie protonazistische Ungeduld angesichts lästiger Reflexion signalisieren könne.
Manns Verhältnis zum Judentum, das oberflächlich betrachtet fluktuierend und unentschieden wirken mag, gewinnt Sina Konsequenz ab, indem er zeigt, wie es sich gemeinsam mit seinem Verständnis des bürgerlichen Nationalstaats wandelte. Teilte Mann noch in der Zeit der »Betrachtungen eines Unpolitischen« deutschnationale Vorbehalte gegen die vermeintliche Nichtassimilierbarkeit der Juden als Bürger, erkannte er mit Erstarken des Nationalsozialismus die historische Bedeutung des Zionismus als bürgerliche Befreiungsbewegung und verteidigte früh die Notwendigkeit des jüdischen Staates, mit dem er seit dessen Gründung Solidarität zeigte.
Eigentümlich unberechenbare Zuverlässigkeit der Mannschen Urteile
Von Manns teils antidemokratischen, teils liberalen Interventionen in der Weimarer Republik über die »Deutsche Hörer!«-Ansprachen aus der Zeit des Exils bis zu den späten, von Respekt wie auch Ekel zeugenden Kontaktaufnahmen mit dem Deutschland der »Stunde null« zeigt Sina so, wie elementar Manns Eingriffe geprägt waren von seiner ästhetischen Empfindlichkeit, weshalb Abscheu, Degout, Empörung über Stilbrüche, Idiosynkrasien und mimetische Impulse wie das Gänsehautgefühl für sein politisches Urteilsvermögen prägender waren als unbewegliche und unrevidierbare Überzeugungen. Eben das begründete die eigentümlich unberechenbare Zuverlässigkeit seiner Urteile.
Besonders anzurechnen ist dem Buch, dass es diese Einsichten wie am Rande entfaltet, statt sich als endgültige politische Biographie aufzuspreizen. Dass der Band außerdem hervorragend geschrieben, erfrischend schmal ausfällt und spannend erzählt ist, sollte gerade Leser mit übergroßem Mann-Respekt zur Lektüre ermutigen.
Kai Sina: Was gut ist und was böse. Thomas Mann als politischer Aktivist. Ullstein, Berlin 2024, 304 Seiten, 24 Euro