»Beim Backen Kniebeugen machen«
Die Beratungsindustrie boomt in den sozialen Medien. Egal ob Farbberatung, Paarberatung oder Life Coaching, Plattformen wie Tiktok sind voll mit Tipps für ein besseres Leben. Was hat Ihr Interesse an diesem Phänomen geweckt?
In den letzten Jahren hat sich immer stärker eine Art von Kultur in das Alltagsleben eingeschlichen, die darauf aus ist, alles in irgendeiner Form zu messen, zu maximieren und letztlich effizienter zu machen. Diese Entwicklung nehme ich auch an mir selbst wahr. Es gibt in Schweden einen Arzt, der einen Ratgeber darüber veröffentlicht hat, wie man Sportübungen in sein tägliches Leben integrieren kann. Das geht so weit, dass er empfiehlt, während des Kuchenbackens eine Kniebeuge zu machen, wenn man in den Ofen schaut. Diese Art von Denken zu analysieren, finde ich interessant.
Ratgeberliteratur legitimiert sich gerne mit Verweis auf irgendwelche wissenschaftliche Studien. Was ist falsch daran, wenn Forschungsergebnisse etwa aus der Ernährungsmedizin in populärer Form unter die Leute gebracht werden?
Wissenschaftliche Untersuchungen werden in den Medien stark vereinfacht dargestellt. Es werden Schlussfolgerungen aus komplexen Studien gezogen, die weit über das hinausgehen, was eigentlich zulässig wäre, denn oft sind die Ergebnisse viel uneindeutiger. Indem man sie vereinfacht, lassen sich Handlungsanweisungen daraus ableiten. Daraus wird dann schnell ein Produkt, eine Diät oder ein Buch, das sich verkaufen lässt. In den sozialen Medien gibt es Massen von Influencern, Experten und Ratgebern, die genau das machen: ihre Dienstleistungen und Produkte auf wissenschaftliche Erkenntnisse abstimmen und sie dann verkaufen.
»Bei so vielen Menschen, die heutzutage Stress erleben, kann es doch kaum sein, dass das alles mit der Kindheit zu tun hat. Es hat vielmehr mit Druck auf der Arbeit, prekären Arbeitsverhältnissen, geringen Einkommen und schlechten Wohnbedingungen zu tun.«
Trotzdem werden immer neue Hautcremes angeschafft und Algenöle konsumiert. Die Käuferinnen und Käufer wissen aber doch, dass ihnen da nur etwas aufgeschwatzt wird. Warum sind diese Produkte und Dienstleistungen trotzdem so begehrt?
Viele Menschen haben heute nicht mehr das Gefühl, die politische Situation in der Welt beeinflussen oder gar verändern zu können. Bei all den Dingen, die auf der Welt passieren, fühlen sie sich oft zu machtlos oder bedeutungslos, um etwas auf struktureller, auf politischer Ebene zu bewirken. Das eigene Leben hingegen kann man sehr einfach ändern, indem man einfach eine neue Morgenroutine oder eine neue Essgewohnheit einführt.
Und was genau ist falsch daran?
Für manche Menschen kann das sogar sehr hilfreich sein. Nur weil man sich auf einer strukturellen Ebene machtlos fühlt, heißt das ja nicht, dass man auf individueller Ebene aufgeben sollte. Kritisch sehe ich es allerdings, wenn diese Optimierung kein Ziel mehr hat, sondern zum Selbstzweck wird. Wenn es zum Zentrum des Lebens wird, sich stetig selbst zu verbessern, statt zu schauen, was einem wirklich hilft.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Nehmen wir die 10.000 Schritte, die jeder Mensch pro Tag gehen soll. Die können Sie über ihr Handy aufzeichnen und dann jederzeit verfolgen, wie viele Schritte Sie bereits gemacht haben. Das Wichtigste scheint dabei aber eher die Zahl der Schritte geworden zu sein und nicht, wie man sie erreicht hat. Es macht doch einen Unterschied, ob Sie die ganze Zeit nur in ihrem Wohnzimmer auf und ab gegangen sind oder mit einer Freundin einen Spaziergang gemacht haben, bei dem sie sich nett unterhalten haben. Das ist ein Beispiel dafür, dass der Inhalt des Lebens nachrangig wird, wenn die Messung beziehungsweise das Messergebnis den Lebensstil bestimmt.
Routine ist zu einem Zauberwort des Geschäfts mit self-care geworden, angefangen bei der Morgenroutine über die Trinkroutine bis zur Schlafroutine. Wie klingt das in Ihren Ohren?
Der Drang nach Struktur ist eine Konsequenz aus den vielen Möglichkeiten, die wir heutzutage haben. Deswegen ist es auch so schwer, im Alltag zu entscheiden, was wir genau tun wollen. Ich selbst finde mich sehr oft im Kaninchenbau wieder und lese endlose Wikipedia-Artikel. Die Fähigkeit zu priorisieren wird immer wichtiger, um eben nicht den vielen Impulsen nachzugeben, die die ganze Zeit an meiner Konzentration zerren. Eine Routine kann also eine Möglichkeit sein, sich selbstbestimmter zu fühlen.
In der griechischen Mythologie haben Sie nun eine Influencerin entdeckt, die ganz nach Ihrem Geschmack ist: das Orakel von Delphi. Es ist ein Mädchen, das mit den Göttern in Verbindung steht und Weissagungen trifft. Was fasziniert Sie an dieser Figur?
Es ist eine romantische, fast schon kindliche Vorstellung, so ein Orakel zu haben, das einem einmal im Monat eine Weissagung macht. Weil die Ratschläge des Orakels sehr kryptisch sind, müssen sie interpretiert werden und sind damit weniger autoritär als ein heutiger Ratgeber mit seinen Anweisungen.
Die US-amerikanische Psychologin Nicole LePera ist ein Star auf Instagram. Sie predigt, dass jeder Mensch in der Lage sei, seine Traumata selbst zu heilen. Sie sehen das kritisch. Warum?
Weil der Kern von Therapie darin besteht, eine individuelle Antwort auf ein allgemeines Problem zu geben. Das Leiden wird dabei als etwas gesehen, das man beheben kann, indem man an sich selbst arbeitet. Damit verkennt man aber die strukturelle Ebene. Bei so vielen Menschen, die heutzutage Stress erleben, kann es doch kaum sein, dass das alles mit der Kindheit zu tun hat. Es hat vielmehr mit Druck auf der Arbeit, prekären Arbeitsverhältnissen, geringen Einkommen und schlechten Wohnbedingungen zu tun. Diese Dinge werden nicht dadurch gelöst, dass alle zur Therapie gehen. Erst wenn diese Probleme auf einer strukturelle Ebene verhandelt werden, sieht man die vielen Gemeinsamkeiten und somit, dass es besser ist, kollektive Maßnahmen zu ergreifen.
Wie soll das gehen?
Es ist schwierig, gerade weil diese Kultur der Individualität, sich nur um sich selbst zu kümmern und anderen Grenzen zu setzen, immer weiter wächst. Viele der angebotenen Lösungen bestehen dann darin, den Kontakt zu Leuten abzubrechen. Menschen werden da ein bisschen so betrachtet, als würden sie einem die Energie stehlen. Ich denke, das kann nicht der Weg sein. Bei Gruppentreffen, in denen man sich mit anderen Menschen hinsetzt, seine Gefühle teilt, einander spiegelt, können Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. Das ist definitiv besser, als nur darüber nachzudenken, wie man sich selbst verändern kann.
Auch im Privaten gibt es in unserer Gesellschaft den Hang dazu, alle möglichen ungefragten Ratschläge zu verteilen. Warum fällt es Menschen so schwer, es auszuhalten, wenn es bei jemandem mal nicht so rund läuft oder ihm nicht gut geht?
Es fühlt sich einfach gut an, Ratschläge zu geben. Leider ertappe ich mich selbst auch immer wieder dabei. Man spricht mit einer Freundin, die ein bisschen niedergeschlagen ist, fängt an, ihr irgendwelche Ratschläge zu geben, und danach hat man so ein regelrechtes kleines High. Dabei weiß doch jeder, dass die Person von selbst kommen sollte, Rat zu suchen. Wenn der Ratgeber zu mächtig ist, wird es sehr schwer, etwas zu verändern. Das hat auch etwas mit der Macht in der Beziehung zu tun.
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Liv Strömquist wurde 1978 in Lund geboren und ist eine der einflussreichsten feministischen Comiczeichnerinnen. Die studierte Politikwissenschaftlerin zeichnete regelmäßig für unterschiedliche schwedische Magazine und Zeitungen und arbeitete als Radiomoderatorin.
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Liv Strömquist: Das Orakel spricht. Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant-Verlag, Berlin 2024, 248 Seiten, 25 Euro