09.01.2025
Die Hamas verstärkt ihre Aktivitäten in der Westbank

Die neue Front

Die Hamas verstärkt ihre Aktivitäten in der Westbank, Israelis in den angrenzenden Ortschaften fordern zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen.

Tel Aviv. An der Nordgrenze Israels hat sich die Lage entspannt, doch die Kämpfe im Gaza-Streifen dauern an – und es droht die Entstehung einer neuen Front. Wegen der steigenden Zahl an Terroraktivitäten palästinensischer Gruppen in der Westbank – allen voran der Hamas, deren Popularität dort wächst – und der fast täglichen Militäroperationen der israelischen Streitkräfte (IDF) scheint dort eine weitere Eskalation unausweichlich. Vor allem in den nahegelegenen israelischen Gemeinden geht die Angst um.

»Viele Bewohner fürchten sich vor einem ähnlichen Szenario wie am 7. Oktober«, sagt Chaim Bejerano, ein 42jähriger Polizeibeamter aus Nitzanei Oz, einer kleinen, unmittelbar an die Westbank grenzenden ländlichen Gemeinde. »Zwar hat die Präsenz der IDF in letzter Zeit zugenommen. Doch die Menschen sind besorgt, Schüsse über die Grenze hinweg sind an der Tagesordnung und man hört Geräusche, die auf den Bau von Tunneln schließen lassen.« 

enseits der Grünen Linie, der Waffenstillstandslinie, die die Grenze zu den palästinen­sischen Gebieten bildet, liegt die Stadt Tulkarem. Sie grenzt an den schmalsten Teil Israels, die Mittelmeerküste ist nur 15 Kilometer entfernt. Ein Großangriff der Hamas auf diese Region könnte Israel zweiteilen.

Die neuen palästinensischen Terrorbataillone operieren in kleinen Einheiten, mit beträchtlichen finanziellen Mitteln haben sie Kommandozentralen und Verstecke eingerichtet.

Bejerano zog vor sechs Jahren mit seiner Familie aus Nahariya nahe der libanesischen Grenze hierher. In der Nähe Nahariyas wurden zahlreiche Tunnel der libanesischen Terrororganisation Hizbollah entdeckt. Bejerano sieht Anzeichen für solche Aktivitäten in der Westbank. »In den letzten Monaten wurde unweit des Grenzzauns unter der Erde nach Löchern, Tunneln oder Grabungen gesucht«, erzählt Bejerano.

»Wir haben einige Sensoren in den Boden gesteckt, um zu versuchen, die Geräusche zu identifizieren. Einige Geologen glauben, dass der Lärm möglicherweise von Bauarbeiten an nahegelegenen Hauptstraßen kommt, doch um 3 Uhr nachts ist hier keine Menschenseele weit und breit.«

Es ist das erklärte Ziel der Hamas, ihren Krieg auch von der Westbank aus zu führen. Nachdem die Terrororganisation in den 16 Monaten des Kriegs im Gaza-Streifen große Rückschläge er­litten hat, versucht sie durch Proteste und Aufstände gegen die in der Westbank herrschende Palästinensische Autonomiebehörde (PA), Chaos zu verbreiten. Wenn die Hamas im Gaza-Streifen einen Waffenstillstand erreicht, könnte sie versuchen, auch das Westjordanland zu übernehmen. Vom iranischen Regime wird sie über eine Schmuggelroute durch Jordanien weiterhin mit Waffen beliefert.

Hamas verzeichnet Anstieg ihrer Popularität

»Bevor die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zur PA wurde, glaubte sie noch an Widerstand und Befreiung«, sagt Younes Bataineh, ein 23jähriger Politikstudent in Hebron, während einer Demonstration mit vielen grünen Flaggen und Hamas-Slogans. »Doch diese verlogene und korrupte Organisation sorgt sich nur noch darum, ihre Interessen zu schützen. Deshalb ist für einen Großteil der Bevölkerung in der Westbank die Hamas die Vertretung des palästinensischen Volks.«

Die Hamas verzeichnet seit dem 7. Oktober 2023 einen Anstieg ihrer Popularität. In der Westbank hat nur eine kleine Minderheit eine positive Einstellung zur PA, die als Marionette Israels gilt, und ihrem Präsidenten Mahmoud Abbas.

»Er hat seine Versprechen nicht gehalten«, sagt Bataineh verärgert. »Jetzt ist es an der Zeit, dass er seinen Platz räumt. Meine Generation hat die Hoffnung auf eine politische Lösung aufgegeben. Daher sind wir überzeugt, dass die Hamas und andere Gruppierungen in Gaza die Antwort haben.«

Drei Israelis von Terroristen erschossen

Am Montag wurden nahe al-Funduq drei Israelis von bislang nicht identifizierten Terroristen erschossen. Nach Angaben des Instituts für nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv wurden seit Kriegsbeginn in der Westbank bei palästinensischen Terroranschlägen über 50 Israelis getötet und fast 300 verletzt. Im gleichen Zeitraum wurden auch fast 800 Palästinenser, überwiegend militante Islamisten, getötet. Die neuen palästinensischen Terrorbataillone operieren in kleinen Einheiten, mit beträchtlichen finanziellen Mitteln haben sie Kommandozentralen und Verstecke eingerichtet. Sie installieren Kameranetzwerke, um israelische Truppenbewegungen zu beobachten und Aufzeichnungen von Kämpfen in den sozialen Medien zu veröffentlichen. Häufig werden Kinder als Wachposten und für Botengänge eingesetzt.

»Diese neue Bedrohung wird nur durch die Fähigkeit Israels begrenzt, solche Angriffe zu vereiteln und darauf zu reagieren«, sagt Ido Zelkovitz, Leiter des Studiengangs für Nahost-Studien an der Hochschule in der Jezreel-Ebene und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Geostrategie an der Universität Haifa. »Die Motivation militanter palästinensischer Organisationen ist seit dem 7. Oktober gewachsen, die Versuche, israelisches Territorium zu überfallen, werden zahlreicher.«

Wegen der steigenden Bedrohung plädieren einige israelische Minister für eine noch stärkere Militärpräsenz, manche mit weitergehenden Zielen. Mittlerweile leben über 500.000 jüdische Siedler in der Westbank und weitere 200.000 Israelis in Ostjerusalem. Der ultrarechte Minister Bezalel Smotrich forderte die vollständige Annexion der Westbank.

Abbas’ politischer Einfluss schwindet weiter

»Die Tatsache, dass wir uns inmitten regionaler Instabilität befinden und Israel von der rechtsextremsten Regierung aller Zeiten regiert wird, mindert das Vertrauen der Palästinenser in jeden politischen Prozess«, sagt Zelkovitz. »Die Motivation, Angriffe durchzuführen, wird jedoch nicht durch dieses Scheitern beeinflusst, sondern vielmehr durch die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 und eine radikale Ideologie. Ein politischer Prozess wird diese Motivation nicht verringern, aber die Legitimität der PA stärken.«

Die Verhandlungen zwischen Israel und der PA kommen seit einem Jahrzehnt nicht voran, Abbas’ politischer Einfluss hat abgenommen. 2005 für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt, verlor er 2007 die Kontrolle über den Gaza-Streifen. Wiederholt verschobene Wahlen haben die Legitimität seiner Führung weiter untergraben, die Loyalität der palästinensischen Sicherheitskräfte zur PA ist fraglich. Während einige bei der Terrorbekämpfung mit Israel kooperieren, sind andere weniger zuverlässig und in manchen Fällen ­sogar selbst an Anschlägen beteiligt.

»Die israelische Regierung muss alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass wir keinen zweiten 7. Oktober erleben.«, Chaim Bejerano, Polizeibeamter aus Nitzanei Oz

»Wir brauchen eine Pufferzone ­zwischen der israelischen und der palästinensischen Seite«, glaubt Chaim Bejerano. »Das würde zwar international verurteilt werden, aus Sicherheitsgründen aber ist es notwendig. Die andere Seite könnte mit Land, Geld oder auf andere Weise entschädigt werden.«

Ihm zufolge fordern die meisten ­Israelis aus den Gemeinden unweit der Grünen Linie eine unüberwindbare Grenze – eine hohe Mauer mit elektronischen Überwachungsgeräten, zudem eine permanente Militärpräsenz der IDF. »Die israelische Regierung muss alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass wir keinen zweiten 7. Oktober erleben«, sagt Bejerano. »Denn wir sind jetzt die Frontlinie des jüdischen Staates.«