Urszenen einer Kanzlerschaft
Ein paar aufmunternde Worte vorneweg: Wer Angela Merkels Regierungszeit, also diese 16 bräsigen, bleiernen, nicht enden wollenden Jahre der Verwaltung des Bestehenden überstanden hat, schafft auch locker die 700 Seiten ihrer Memoiren, die die Altkanzlerin unter dem Titel »Freiheit. Erinnerungen 1954–2021« veröffentlicht hat. Doch wie schon für die Amtszeit gilt auch für die Lektüre: Sie ist mit erheblichen Zumutungen verbunden.
Denn was Kapitelüberschriften wie »Eigenheimbesitzerin«, »Die Kirche bleibt im Dorf«, »Die Mühen der Ebene«, »Die Sparergarantie« bereits ahnen lassen, stellt sich prompt ein: Langeweile. Die »hinlänglich bekannte Liebe zum Detail«, der sich Merkel auch in ihrer Autobiographie hingibt, regiert unerbittlich die Dramaturgie und den Stil des Buchs. Eine »glückliche Kindheit« hatte die »relativ rustikale« kleine Angela demnach. Rege war der Kreis ihre Freundinnen und Freunde: »Uns war nie langweilig.« Dafür konnte sich Merkel aber offenbar auch schon in jungen Jahren öde Einzelheiten einprägen: »Umgekehrt konnten zumindest theoretisch Schülerinnen und Schüler mit sehr gutem Abschluss der Polytechnischen Oberschule noch auf die Erweiterte Oberschule wechseln. (…) Die Hermann-Matern-Schule war dreizügig angelegt. Es gab also jeweils drei Klassen pro Jahrgang – a, b und c. Ich gehörte zur b-Klasse.« Aha!
Schon früh hatte Merkel ihre Probleme mit dem Realsozialismus: »Vielleicht ist meine heutige Vorliebe für farbenfrohe Blazer auch auf die Urerfahrung zurückzuführen, dass ich im DDR-Alltag kräftige Farben oft vermisste.« Das trübte ihre Stimmung als Studentin an der Universität Leipzig allerdings nicht sonderlich: »Jedoch erlebte ich das Studium als die fachliche Herausforderung, die ich mir gewünscht hatte, und das Leben als im Wesentlichen unbeschwert.«
Je weiter man in Merkels politische Laufbahn vordringt, desto zäher wird es. Sitzungen, Empfänge, Beratungen, Konferenzen, Versammlungen, Tagungen und Parteitage schildert sie mit derselben gnadenlosen Pedanterie wie ihre Dienstreisen im Aus- und Inland.
Immer beschwerlicher wird dagegen das Lesen des Buchs, das die ehemalige Kanzlerin gemeinsam mit ihrer ehemaligen Büroleiterin und langjährigen Beraterin Beate Baumann verfasst hat. Je weiter man in Merkels politische Laufbahn vordringt, desto zäher wird es. Sitzungen, Empfänge, Beratungen, Konferenzen, Versammlungen, Tagungen und Parteitage schildert sie mit derselben gnadenlosen Pedanterie wie ihre Dienstreisen im Aus- und Inland: »10.30 Uhr ab Berlin, 12.05 Uhr an Paris – 15.05 Uhr ab Paris, 15.40 Uhr an Brüssel – 20.30 Uhr ab Brüssel, 21.45 Uhr an Berlin«; »Flüge innerhalb des Landes wurden unter anderem von Petra Anders, im Kanzlerbüro für protokollarische Fragen der Inlandsreisen zuständig, zusammen mit der Flugbereitschaft der Bundeswehr oder im Falle von Hubschrauberflügen auch mit der Bundespolizei geplant.«
Wer Sätze wie »In besonderer Weise waren die Kommunen gefordert, die für viele der Verwaltungsleistungen zuständig waren« über sich ergehen lässt, ohne das Buch zuzuklappen, wird schließlich mit einem Höhepunkt der Ödnis belohnt: dem Abschnitt »Routinen meiner 16 Jahre Kanzlerzeit«. Darin berichtet Merkel auf zehn Seiten über wiederkehrende Termine mit verschiedenen Organisationen und zu unterschiedlichen Anlässen, von A wie Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen bis W wie Weihnachten (»Entgegennahme von drei Weihnachtsbäumen für das Kanzleramt und einer Schachfigur für mein Büro, übergeben durch die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände e. V.«).
An Herz- und Gefühlskitsch mangelt es nicht
So arbeitet sie ihr eigenes Leben als Kanzlerin wie einen Verwaltungsvorgang ab, und das in einem Polit-, Beamten- und Funktionärsjargon, der Leserinnen und Leser mit Ausdrücken wie »Schuldenbremse«, »gelebte soziale Marktwirtschaft«, »Bundesnotbremse«, »Abwrackprämie«, »No-Bail-Out-Klausel«, »Aufwuchs des Verteidigungshaushalts« und »europäische Finanzstabilisierungsfazilität« martert.
Zwischendurch soll es offenbar aber auch ein wenig menscheln, und so tauchen allerlei Gefühle auf: ein »außerordentlich gutes Gefühl«, ein »erhebendes Gefühl«, ein »erfüllendes Gefühl«, »Lebensgefühl«, »Fingerspitzengefühl«, »Mitgefühl«, auch mal »gemischte Gefühle« oder gar ein »Gefühl der Unsicherheit« beziehungsweise ein »Gefühl der Schmach«, meist aber »positive Gefühle«, »Glücksgefühl«, »Freiheitsgefühl«, ein »sicheres Gefühl«. Zudem gibt es ein bisschen Eheglück auf der Hochzeitsreise nach Hiddensee: »Wir hatten nur sehr wenig Geld. Trotzdem war es uns irgendwie gelungen, ein Zimmer zu finden. Wie Goldstaub.« Obendrein Rührung: »Zu meinem sechzigsten Geburtstag am 17.Juli 2014 schenkte Peer Steinbrück mir mein Namensschild vom Konferenztisch in Pittsburgh. Er hatte es damals mitgenommen. Das berührte mich sehr.« Und ganz wichtig: »immer mit Fröhlichkeit im Herzen an die Arbeit machen«.
An unbeholfenem Herz- und Gefühlskitsch mangelt es also nicht. Dafür fehlt aber jede Spur von Informationen, die nicht bereits bekannt gewesen wären, ob zur Russland-, Pandemie-, Flüchtlings-, Energie- oder Nahost-Politik. Denn lieber erklärt Merkel nicht nur nochmals im Detail, wie das so war mit dem Regieren, sondern auch, dass alles genau so sein musste, denn ihre Politik war: »notwendig«, »unumgänglich«, »alternativlos«.
Kanzlerin des Sachzwangs
Dass die Kanzlerin des Sachzwangs ihre »Traurigkeit« angesichts der »Opfer der notwendigen Veränderungen« kundtut, wird diese sicher ebenso trösten wie der Tenor, dass das Elend der ALG-II-Empfänger oder verarmter griechischer Rentner der höheren Sache diente: der »freiheitlichen Wirtschaftsordnung«. Mit der von der Regierung Schröder verabschiedeten und von Merkel übernommenen »Agenda 2010«, die »ein christdemokratischer Bundeskanzler oder eine christdemokratische Bundeskanzlerin auch hätte vorschlagen können«, sei beispielsweise »die Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitik von Bremsklötzen befreit, mehr Freiheit gewagt worden«.
Was es mit dieser titelgebenden Freiheit noch auf sich hat, erläutert die ehemalige Kanzlerin in ihrem großen Epilog: »Freiheit – das ist für mich herauszufinden, wo meine eigenen Grenzen liegen, und an meine eigenen Grenzen zu gehen. Freiheit – das ist für mich, nicht aufzuhören zu lernen, nicht stehenbleiben zu müssen, sondern weitergehen zu dürfen.«
Das Lied von der Freiheit ohne Bremsklötze
Ergänzt werden diese Wellness-Weisheiten durch staatsbürgerliche Bekenntnisse: »Wahre Freiheit ist nicht allein die Freiheit von etwas – von Diktatur und Unrecht –, sondern zeigt sich in der Verantwortung für etwas: für den Nächsten, für die Gemeinschaft, für unser Gemeinwesen.« Und dann endet das »entschiedene Plädoyer für die Freiheit« (Klappentext) auch schon.
Das alles ist unsäglich platt und kaum leserlich. Doch es erfüllt den höchsten Zweck deutscher Kanzlermemoiren: im Namen der Herrschaft von Staat und Kapital das Lied von der Freiheit ohne Bremsklötze zu singen. Merkel hat ihre Mission also erfüllt. »Das Parteitagsprotokoll verzeichnet lang anhaltenden, lebhaften Beifall.«
Angela Merkel: Freiheit. Erinnerungen 1954–2021. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 736 Seiten, 42 Euro