02.01.2025
Die New Yorker Band Suicide war die erste, die den Begriff Punk für sich reklamierte

Antimusik aus New York

Suicide waren die erste Band, die ihre Musik selbst mit dem Wort Punk beschrieb. Musikalisch hatte ihr provozierendes Gesamtkonzept, bei dem Drumcomputer und Synthesizer zum Einsatz kamen und es weder Gitarren noch Schlagzeug gab, wenig mit dem gemeinsam, worauf Punk im Nachhinein reduziert wurde.

Ein Typ mit Afro und dunkler Sonnenbrille trägt ein knappes schwarzes Oberteil, das zehn Zentimeter Bauch zeigt, dazu schwarze Jeans. Lässig an die Wand gelehnt hält er in der rechten Hand etwas, das wie eine Metallstange aussieht. Sein Kollege trägt kaputte Jeans, einen breiten, möglicherweise mit Nieten besetzten Gürtel und einen Umhang. Seine langen schwarzen Haare hat er mit einem breiten Stirnband fixiert. Die beiden Männer blicken herausfordernd in die Kamera.

Das Duo nannte sich Suicide und provozierte sein Publikum mit einem krassen Sound, der seiner Zeit weit voraus war, und einer exaltierten Performance, bei der oft Blut floss. Das beschriebene Schwarzweiß-Foto stammt aus dem Jahr 1972 und wurde im Mercer Arts Center in New York City aufgenommen. Hier hatten Suicide einige ihrer frühen Auftritte. Untergebracht war es im ehemaligen Grand Central Hotel das am 3. August 1973 aus Altersschwäche einstürzte – auch ein Symbol für den desolaten Zustand der Stadt. Viele der Stammkunden und einige der Bands, die hier aufgetreten waren, zogen weiter ins CBGB, wo der Punk ­entstand, wie man ihn kennt.

Auch die Negation bürgerlicher Kunst durch die Avantgarde war für Punk ein überholtes, weil sinnloses Projekt geworden.

Patti Smith spielte hier, und auch die Ramones und Television, deren Mitglied Richard Hell den Punk-Style erfand: Ananas-Frisur, Löcher im T-Shirt, das mit Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurde. Als 1976 das ­erste Album der Ramones erschien, hatte man damit begonnen, diese neue Szene mit dem Begriff Punk zu beschreiben. Das hatte wenig mit dem Klischee von drei Akkorden und Irokesenfrisur zu tun, auf das Punk zehn Jahre später zusammenschrumpft war. Suicide werden heute gern in die Schublade des Proto-Punk gesteckt. Das ist insofern Nonsens, weil Punk anfangs kein Genre, sondern eine künstlerische Haltung beschrieben hat.

Alan Vega und Martin Rev, die später Suicide bildeten, hatten Ende 1970 zum ersten Mal zusammen gejammt. Anfangs gab es einen Gitarristen. Rev trommelte auf herumliegenden Metallteilen und Stoßdämpfern. Später kaufte er für 30 Dollar einen Drumcomputer und spielte dazu auf seiner halbkaputten Farfisa-Orgel, die er alsbald durch ­einen Synthesizer ersetzte. Das erste Album des Duos aus dem Jahr 1977 beginnt mit einem elektronischen Boogie. Der Drumcomputer gibt einen simplen Beat, darüber ein repetitives, auf einem Synthesizer gespieltes Pattern. Es klingt wie Rock ’n’ Roll aus der Zukunft, roh, treibend, maschinell und zugleich körperlich, emotional. Dann beginnt Vega zu singen, anfangs verführerisch hauchend, später schreiend, und immer etwas unheimlich, weil seine Stimme durch Halleffekt und Echo verfremdet wird.

»Ghost Rider motorcycle hero / Hey baby, baby, baby he’s a-screamin’ the truth / America, America is killin’ its youth.« Man kann hören, dass Vega mit Elvis, Buddy Holly und Chuck Berry aufgewachsen ist. Und Instrumentalist Rev versteht offensichtlich sein Handwerk. Aber dass er vor Suicide eine Free-Jazz-Band geleitet hatte, lässt sich der minimalistischen Musik nicht entnehmen.

Der Vietnam-Krieg war 1977, beim Erscheinen ihres ersten Albums, zwar seit zwei Jahren zu Ende, aber Amerika tötete seine Jugend weiter. Was damit gemeint war, blieb den Assoziationen derjenigen überlassen, die das Stück hörten.

»Punk Music by Suicide at the Museum«

Ihr Debütalbum bewarben Suicide mit dem Slogan: »We Never Said We are Music – We are Suicide.« Und sie zitierten Albert Camus: »An act like this – Suicide – is prepared within the silence of the heart as is a great work of art.« Suicide waren die erste Band in New York City, die ihre Nichtmusik als Punk bezeichneten.

Vega hatte den Begriff von dem bekannten Musikjournalisten Lester Bangs und seinen Kollegen vom Creem Magazine übernommen, die den harschen Sound der Detroiter Rockbands MC5 und The Stooges mit Iggy Pop in den ausgehenden Sechzigern als Punk bezeichnet hatten. »Punk Music by Suicide at the Museum. 792 Broadway. Every Friday Night. 10 PM. No Admission.« So kündigte ein Flyer, vermutlich aus den frühen bis mittleren Siebzigern, einen Auftritt von Suicide an.

Vega hatte Kunst studiert und stellte in Galerien aus, aber als er 1969 in New York City ein Konzert von The Stooges sah, fasste er einen Entschluss. »Mir wurde klar, dass ich als bildender Künstler weitermachen konnte, was unredlich wäre, oder mich verändern musste. Was immer ich als Künstler bis zu diesem Zeitpunkt gemacht hatte, war bedeutungslos«, sagte er dem Autor ­Simon Reynolds vor einigen Jahren.

Die Straße zurück ins Gesicht geschmissen

Punk lag einerseits der Umstand zugrunde, dass in einer Gesellschaft, in der Entertainment und Massenkonsum den bürgerlich-gebildeten Kunstgenuss abgelöst haben, auch die Negation bürgerlicher Kunst durch die Avantgarde ein überholtes, weil sinnloses Projekt geworden ist. Andererseits bezogen sich viele Punks der ersten Stunde auf Künstler der Romantik und folgten dem Imperativ, etwas radikal Neues zu schaffen, die Regeln zu brechen, die Kultur und – wenn auch nur für einen Moment – das Leben zu verändern.

Suicide wurde für Vega zum Vehikel, um Kunst mit anderen Mitteln zu machen, eine Kunst, in der die Trennung zwischen Künstler und Betrachter, Band und Publikum aufgebrochen wurde. Denn Suicide unterliefen konsequent noch jeden an sie herangetragenen Anspruch auf Entertainment, sprich Ablenkung. New York City war in den Siebzigern ein heruntergekommener, an manchen Ecken gefährlicher, apokalyptischer Ort und laut Vega ­gingen die Leute zu Konzerten, »um der Straße zu entkommen, aber wir haben ihnen die Straße zurück ins Gesicht geschmissen«.

In dem zehn Minuten dauernden Stück »Frankie Teardrop« erzählt Vega die Geschichte des Arbeiters Frankie, der nicht genug zu essen kaufen und die ­Miete nicht mehr bezahlen kann. Frankie sieht keinen anderen Ausweg, als sein Kind, seine Frau und dann sich selbst zu töten. Vega berichtet davon in knappen, nüchternen Sätzen und endet mit markerschütternden Schreien und den Zeilen: »Frankie’s lying in hell. We’re all Frankies. We’re all lying in hell.« Punk hieß Außenseitertum, Zerrissenheit und Entfremdung willkommen.

New York City Epizentrum des Punk

Da New York City schon allein wegen der Vielzahl der Bands als Epizentrum des Punk gelten kann, ist es nicht überraschend, dass einige seiner Pro­ta­go­nist:innen aus jüdischen Familien stammten. So auch Martin »Rev« Reverby und Alan »Vega« Ber­mowitz. Rev stammte aus einer säkularen Familie in der Bronx, der Vater war Sozialist und arbeitete für die Gewerkschaft. In Vegas Familie, die in Brooklyn lebte, wurden die orthodoxen Bräuche noch praktiziert. Als Steven Lee Beeber für sein 2006 veröffentlichtes Buch »The Heebie-Jeebies at CBGB’s« recherchierte, um die »geheime Geschichte von jüdischem Punk« zu erzählen, wollte Rev sich dazu nicht äußern.

Auch Vega hatte anfangs wenig Lust, über diesen Teil seiner Geschichte Auskunft zu geben, erzählte dann aber sogar, er hätte sich während des Yom-Kippur-Kriegs fast freiwillig zum Militärdienst in Israel gemeldet, weil er den arabischen Überraschungsangriff so unfair fand. Das ist eine starke Aus­sage für jemanden, der Patriotismus generell für einen »Scheiß« hält, »für den die einen sterben, während die anderen daran Geld verdienen«, wie er dem Autor im Jahr 2002 bei einem Interview sagte.

Auch wenn manche die Kunst von Suicide als dunkel empfinden können, suche er die Verbindung zu seinem inneren Licht, erzählte Martin Rev bei diesem Gespräch über seine Musik. Als Künstler habe man keinen Auftrag, vielmehr brauche man eine Beziehung zum Leben und zur Welt, um zu wissen, was an dem, was man sieht, richtig oder falsch ist: »So viel liegt unter der Oberfläche. Vielleicht liegt es an dem scheelen Blick, den dir deine Mutter zugeworfen hat, als du drei Jahre alt warst?«

Betrunken bei Nacht schreiben

Er schreibe betrunken bei Nacht, sagte Vega. »Morgens stelle ich meist fest, dass 90 Prozent davon scheiße sind, aber zehn Prozent toll, das hebe ich dann auf. Ich mag diesen stream of consciousness, diese Sachen, die aus ­einem weit entfernten Ort herauskommen, die ich unterdrücke, wenn ich nüchtern bin.«
Rev und Vega hatten ihren eigenen Modus gefunden, auf die Wirklichkeit zu reagieren, die sie umgab. Vor Suicide hatte niemand solche Musik gemacht, und es gab nur wenige, die sie mochten. Wo Suicide auftraten, gab es Krawall. Diese Band ohne Schlagzeug und Gitarre, die mit Drumcomputer, Synthie und Effektgeräten eine aggressive wall of sound aufrichtete und deren Sänger sich selbst mit dem Messer schnitt, brachte das Publikum zuverlässig gegen sich auf. Klopapierrollen, Gläser, Stühle und diverse andere Gegenstände (einmal sogar eine Axt) flogen auf die Bühne, und es kam vor, dass Vega körperlich angegriffen wurde.

Vega bezweifelte später, dass Suicide jemals eine Punkband waren, doch habe einmal jemand gesagt, dass alle Suicide hassten, inklusive der Punks – »ergo waren Suicide die ultimative Punkband!«

»Wenn nach dem Gig niemand zu uns in die Garderobe kam, wussten wir, dass es ein guter Auftritt war«, erzählte Vega. Als Vorgruppe von Elvis Costello und auch von The Clash tourten Suicide durch Europa. Hier fanden sich nun hin und wieder neugierige junge Leute in ihrer Garderobe ein. Trotzdem blieben Suicide bis weit in die Achtziger ein obskurer Act, der anders als die längst zu Starensemblen avancierten britischen Punkbands jenseits gewisser Zirkel vollkommen unbekannt war. Wer dagegen in New York City lebte und Musik machte, hatte das erste Suicide-Album im Regal, wird kolportiert. Bruce Springsteen war ein früher Fan, Ric Ocasek von The Cars produzierte die Band und nahm sie mit auf Tour.

Vega bezweifelte später, dass Suicide jemals eine Punkband waren, doch habe einmal jemand gesagt, dass alle Suicide hassten, inklusive der Punks – »ergo waren Suicide die ultimative Punkband!« Vega starb 2016 im Alter von 78 Jahren. Rev spielt weiterhin live, sein bislang letztes Album erschien im Jahr 2017.