19.12.2024
Das Buch der Schwester des von ­Islamisten ermordeten Lehrers Samuel Paty

Die Lügen und ihre Vollstrecker

Am 20. Dezember fällt in Frankreich das Urteil gegen die mutmaßlichen Mittäter im Fall des von einem Islamisten geköpften Lehrers Samuel Paty im Jahr 2020. Samuels Schwester, Mickaëlle Paty, kämpft um die Erinnerung an ihren Bruder und hat ein Buch über den Prozess geschrieben.

Paris. In der Traumatherapie soll eine posttraumatische Belastungsstörung meist dadurch gelindert werden, das traumatische Ereignis von einem allgegenwärtigen Horror im Kopf der Betroffenen zu einem zeitlich gebundenen Ereignis zu machen. In vielen Sitzungen wird das Ereignis durchgegangen, im Detail über den Ort des Geschehens, Zeugen, Zeitpunkt und Umstände der Tat gesprochen. Es ist nicht leicht, aber es hilft, alles festzuhalten, fast zu protokollieren, es damit wieder fest an Zeit und Ort des Geschehnisses zu binden und dem Gehirn damit zu sagen: Was dir geschehen ist, ist wirklich geschehen, es geschieht aber jetzt gerade nicht.

Für Samuel Patys Schwester Mickaëlle Paty ist der 16. Oktober 2020, der Tag, an dem sie über das Internet und ihre Familie erfuhr, dass ihr Bruder vor seinem Arbeitsplatz, einer Schule im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine, von einem Jihadisten geköpft worden war, genau ein solcher Moment. Das im Oktober erschienene Buch »Le Cours de Monsieur Paty« (Die Klasse von Herrn Paty), dass Mickaëlle zusammen mit der Autorin Émilie Frèche geschrieben hat, liest sich in seinem ersten Teil wie ein Protokoll einer Traumatherapie.

»In Frankreich sollte man nach der Enthauptung eines Lehrers einen Punkt setzen und kein Komma.« Mickaëlle Paty

Mickaëlle beschreibt die für sie surrealen Stunden zwischen der Todesnachricht, der Fahrt zur Trauerzeremonie nach Paris und zurück in ein Leben, das sie ab sofort ihrem ermordeten Bruder widmete. Nach der Schilderung des geistigen Nebels, der sich um diese traumatischen ersten Stunden legt, folgt die Erörterung des Tathergangs. Im Detail beschreibt sie, was sich in den elf Tagen zwischen der ersten Unterrichtsstunde, in der Samuel die Mohammed-Karikaturen besprach, und dem Mord an ihm zugetragen hat.

Die Unterrichtsstunden selbst beschreibt sie ebenfalls detailliert – Unterrichtsstunden im Plural, denn zwei Mal hielt er sie innerhalb weniger Tagen und bei keiner dieser Stunden war die Schülerin anwesend, die die Lügen über ihn verbreitet hat und behauptete, er habe Muslime aus dem Klassenzimmer geschickt, bevor er den Islam und den Propheten beleidigte.

Es wird immer wieder ignoriert, wie wenig kontrovers der Inhalt dieser Unterrichtsstunden tatsächlich war, die als Auslöser der Gräueltat trotz allem oft mit einem »Ja, aber« vermittelt werden, um so anzudeuten, dass der Lehrer eben auch nicht ganz unschuldig gewesen sei: »Man hätte Samuel Paty nicht köpfen dürfen, aber … « Mickaëlle sagt entschieden zu Anfang des Buchs: »In Frankreich sollte man nach der Enthauptung eines Lehrers einen Punkt setzen und kein Komma.«

Brandrede über vermeintliche Islamophobie

Hier kommt eine andere Art von Nebel ins Spiel, die diese Tat umgibt. Er entstammt nicht einem persönlichen Trauma, sondern einer Art von Nebelkerzen, gezündet von den Dutzenden direkt und den unzähligen indirekt an dem Mord Beteiligten: religiösen Hetzern, die ihre religiöse Raumnahme mit einem vermeintlichen Antirassismus tarnen; verrohte Jugendliche; feige und fahrlässige Beamte in Klassenzimmern, Polizei und Justiz.

Mickaëlle nennt die Tat dementsprechend ein Komplott und im Detail beschreibt sie die Täter-Opfer-Umkehr im Umgang mit Samuel Paty und die tiefe Einsamkeit, die er in den letzten Tagen seines Lebens verspürte. Einige Kollegen entsolidarisierten sich von ihm, ohne überhaupt zu wissen, worum es in der Unterrichtsstunde gegangen war. Samuel Paty hatte das Thema Meinungsfreiheit behandelt, mitnichten aber beispielsweise muslimische Schüler des Raumes verwiesen, wie ihm vorgeworfen worden war.

Ein Lehrer, der ebenso wie Paty an der Schule Geschichte und Geographie unterrichtete, hielt seinen jungen Schülern unter Tränen eine 20minütige Brandrede über dessen vermeintliche Islamophobie. Was bewegte ihn, fragt man sich – die Angst vor den Drohungen der Islamisten, die schon zu diesem Zeitpunkt auf die Schule einprasselten, oder der Drang eines weinerlichen gutsituierten, nichtmigrantischen Franzosen, sich mit den angeblich Unterdrückten gemein zu machen?

Keinerlei Reue vor Gericht

Seit November läuft nun das zweite Gerichtsverfahren gegen die Beschuldigten im Mordfall Paty. Im ersten Prozess im vergangenen Jahr standen die minderjährigen mutmaßlichen Tä­ter:in­nen vor Gericht, nun sind die Volljährigen dran. Darunter: Brahim Chnina, der Vater der Schülerin, die die Lügen über Patys Unterrichtsstunde in die Welt gesetzt hatte, die ihn das Leben kosteten, und Abdelhakim Sefrioui, der islamistische Agitator, der dem Vater half, diese Lügen im Internet zu verbreiten.

Ihnen und vier weiteren Angeklagten drohen bis zu 30 Jahre Gefängnis, sollten sie der Zugehörigkeit zu einer kriminellen terroristischen Vereinigung schuldig gesprochen werden. Die anderen Angeklagten gehören dem nahen Umfeld des Täters an. Ihnen wird vorgeworfen, sich an der Hetze beteiligt und Fotos und Videos der Enthauptung im Internet verbreitet zu haben. Zweien von ihnen droht eine lebenslange Haftstrafe im Fall eines Schuldspruchs wegen Beihilfe zu einem Terroranschlag.

Die Aussagen der Beschuldigten in diesem Verfahren zeigen denselben Obskurantismus, der auch im letzten Teil des Buchs beschrieben wird. Sowohl Chnina als auch Sefrioui behaupten, man könne nicht nachweisen, dass der Attentäter unmittelbar durch ihre Videos, in denen sie gegen Paty hetzten, inspiriert worden sei. Die geistigen Brandstifter leugnen ihre tatsächlichen, aber auch ihre ideologischen Bande mit dem Mörder. Moscheen und islamische Seiten verbreiteten aber die haltlosen Anschuldigungen im Internet, niemand schritt ein.

Meldestellen für antimuslimischen Rassismus wurden in sozialen Medien zuhauf unter solchen Beiträgen markiert, um sie auf die vermeintliche antimuslimische Hetze Patys aufmerksam zu machen, und nahmen keinerlei Verantwortung wahr, einzuschreiten. Und die Schülerin, die die Lüge in die Welt gesetzt hatte, wurde Minuten vor der Tat telefonisch mit dem Täter verbunden, um zu bezeugen, was geschehen war – und sie wiederholte die Lüge über ihn erneut. Im Gerichtssaal zeigt sie keinerlei Reue.

Verbindung zur syrischen Hay’at Tahrir al-Sham

Mickaëlle Patys Beschreibung der Tat, aber auch des politischen Klimas, das diese Tat ermöglichte, ist ergreifend und schockierend, aber auch sehr klarsichtig. Unbeirrt von vermeintlich antirassistischem Relativismus und dem Versuch der ideologischen Brandstifter und jener, die sie für das kleinere Übel hielten, sich aus der Verantwortung zu ziehen, kritisiert sie die Islamisten und ihre Apologeten.

Und so tauchen auch die Islamisten der Hay’at Tahrir al-Sham, die gerade in Syrien die Macht übernehmen und alle Welt davon überzeugen wollen, sie verträten eine Light-Version des Jihadismus, in diesem Komplott auf. Abdoullakh Anzorov, der Mörder Patys, stammte aus Tschetschenien und radikalisierte sich, seinem Umfeld zufolge, ungefähr ein Jahr bevor er die Tat beging.

Zwei Monate bevor er Paty ermordete, soll er– so heißt es in der Tageszeitung Le Parisien – über Instagram mit Jihadisten in Idlib in Kontakt getreten sein. Anzorov war nicht nur ein ausgesprochener Bewunderer der HTS, sondern stand sogar mit einem Mitglied der Miliz in Idlib, Farrouk Faizimtov, in Verbindung. Mit diesem tauschte er sich nicht nur aus, Tage bevor er den Lehrer enthauptete, sondern schickte ihm auch direkt danach ein Foto von der Tat.

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Info – Der Fall Samuel Paty

Der Familienvater Samuel Paty war 47 Jahre alt, als er am 16. Oktober 2020 auf offener Straße getötet und enthauptet wurde. Der Mörder hieß Abdoullakh Anzorov, ein 18jähriger tschetschenischer Herkunft, und wurde kurz nach der Tat von Polizisten erschossen. Sein Motiv: Paty habe den Propheten Mohammed beleidigt.

Paty war Geschichts- und Geographielehrer im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine. Zehn Tage vor seinem Tod hatte er im Unterricht, dem Lehrplan folgend, das Recht auf Meinungsfreiheit behandelt. Dabei zeigte er zwei Klassen Karikaturen der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, darunter eine, die den Propheten Mohammed mit nacktem Hintern darstellt. Vorher warnte er seine Schüler: Sie könnten das Klassenzimmer verlassen, wenn sie die Bilder nicht sehen wollten.

Eine 13jährige Schülerin, die die Unterrichtsstunde wegen Krankheit verpasst hatte, erzählte ihrem Vater, Brahim Chnina, Paty habe sie und alle muslimischen Mitschüler aus dem Klassenzimmer ausgeschlossen. Der verbreitete dann in sozialen Medien, dass Paty alle muslimischen Schüler aufgefordert hätte, die Hand zu heben und das Klassenzimmer zu verlassen, bevor er den Propheten beleidigte und tat, was im Islam verboten sei, nämlich die Bilder des Propheten zu zeigen. Chnina forderte seine »Brüder und Schwestern« dazu auf, dagegen zu protestieren.

Er selbst werde zur Schule gehen und sich beschweren, sagte Chni­na, und nannte Patys Namen sowie den der Schule. Unterstützt wurde er vom bekannten Islamisten Abdelhakim Sefrioui, der unter anderem eine führende Rolle beim Collectif Cheikh Yassine spielte, einer Gruppe von Unterstützern der Hamas – Ahmed Yassin war der Gründer der Hamas.

Sefrioui hetzte in den sozialen Medien unerlässlich gegen Paty. In einem Youtube-Video interviewte er Chnina und seine Tochter, die die Vorwürfe wiederholten. Der Titel des Videos: »In einem staatlichen Gymnasium werden der Islam und der Prophet beschimpft.«

Gemeinsam mit Chnina besuchte Sefrioui sogar die Schule, um sich zu beschweren. Die Schulleiterin schrieb am Tag darauf eine E-Mail an das gesamte Kollegium. Darin bezeichnete sie Patys vermeintliche Segregation der muslimischen Schüler als »Ungeschicklichkeit« und unbeabsichtigte Diskriminierung. Einige Lehrer distanzierten sich von Patys Verhalten.

Der Fall schlug immer höhere Wellen und erregte den Zorn und Hass der Islamisten, bis einer von ihnen, eben Anzorov, zur Tat schritt. Dabei wurde er von mehreren Schülern unterstützt. Anzorov hatte ihnen gesagt, er wolle Paty schlagen und demütigen und dabei filmen. Für insgesamt 300 Euro erzählten sie ihm, wie der Lehrer aussieht und wo man ihn erwischen könnte. Zwei Schüler identifizierten Paty schließlich, als er das Schulgebäude verließ. Anzorov rief mehrmals »Allahu akbar«, während er auf Paty einstach und ihn schließlich mit einem 35 Zentimeter langem Messer enthauptete.  js