»Die Umweltvorschriften sind lasch«

Alejandra Méndez Serrano ist Umweltschützerin und Menschenrechtlerin und leitet das katholische »Centro Fray Julián Garcés« für Menschenrechte und lokale Entwicklung im mexikanischen Tlaxcala. Sie koordiniert die Organisationsbemühungen und die Rechtsberatung von Gemeindegruppen und lokalen Kollektiven, um deren Position gegenüber dem Staat zu stärken und gegen die Verschmutzung des Alto-Atoyac-Beckens in Zentralmexiko vorzugehen. Im März 2002 wurde das Zentrum als Bürgervereinigung eingetragen.
Die Umweltzerstörung im Atoyac-Becken wurde mit dem Bau der Autobahn und der anschließenden Ansiedlung der großen Autofabriken von Volkswagen ab 1964 in großen Maßstab in Gang gesetzt. Welche Rolle spielt der Konzern bei der Umweltzerstörung und der Zunahme der sozialen Probleme in der Region?
Die Umweltvorschriften sind lasch und es gab wenig Kontrolle bei der Ansiedlung der Industrie in Mexiko. Es ist schwer festzustellen, welches Unternehmen in seinen Produktionsstätten welche Einleitungen und Emissionen in die Umwelt abgibt. Der Autonomen Universität von Mexiko zufolge wurden in der Region der Flüsse Atoyac und Zahuapan und ihrer Nebenflüsse mindestens 18 umweltschädliche Elemente und organische Verbindungen im Wasser und der Luft gefunden, die mit der Automobilindustrie in Verbindung gebracht werden, darunter Nickel, Blei, Kupfer, Chrom, Quecksilber, Arsen, Benzol, Toluol, Xylole und Nitrate.
Gibt es gesundheitliche Auswirkungen?
Es treten vermehrt chronische nicht übertragbare Krankheiten wie Reproduktions- oder neurologische Schäden auf. Einer Analyse offizieller Informationen über die Region durch das Institut für Statistik, Geographie und Informatik zufolge ist zwischen 2015 und 2019 statistisch alle zweieinhalb Stunden eine Person im Oberen Atoyac-Becken an solchen Krankheiten gestorben.
»Die unkontrollierte Industrialisierung des Alto-Atoyac-Beckens wird ungebremst vorangetrieben.«
Welche deutschen Konzerne haben außer der Volkswagengruppe noch Produktionsstätten im Atoyac-Becken?
In den angrenzenden Bundesstaaten Puebla und Tlaxcala gibt es 180 deutsche Unternehmen. Davon sind 35 Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes im Umkreis von zehn Kilometer rund um die Hauptfabrik von VW angesiedelt. Den Kern bilden drei Betriebe zur Herstellung von Personenkraftwagen und Lieferwagen. Daneben gibt es weitere, die Teile und elektrische Ausrüstungen für Kraftfahrzeuge, Werkstoffe für die metallverarbeitende Industrie oder Stoffe zur Oberflächenveredelung für die Automobilproduktion herstellen. Hinzu kommen Fabriken zur Herstellung von Klimaanlagen und Heizungssystemen, von Profilen, Rohren und Formstücken aus Hartplastik, von Werkstoffen und Ausrüstungen für das sonstige verarbeitende Gewerbe, von Handwerkzeugen aus Metall und von Pappe für die Automobilindustrie – die ganze Zulieferindustrie ist an Ort und Stelle.
Hat sexuelle Ausbeutung in der Nähe der großen Industrieansiedlungen zugenommen?
Ja, darüber gibt es allerdings keine detaillierten Informationen. Die Orte uns bekannter Aktivitäten im Zusammenhang mit Menschenhandel decken sich mit den Standorten und dem Wachstum der Industriegebiete. Darüber hinaus stellen die von uns begleiteten Gemeinden fest, dass viele Leute, die mit der Inbetriebnahme der Fabriken ankommen, von Frauen sexuelle Dienstleistungen verlangen.
Wie groß ist der Protest dagegen und gegen die Umweltverschmutzung in den Gemeinden?
Die Verbreitung von Informationen darüber begannen Bewohner verschiedener Gemeinden an den Ufern des Atoyac, die im kirchlichen Sozialdienst der Diözese Tlaxcala aktiv sind. Das Zentrum Fray Julián Garcés begleitet die Gruppen und ihre Aktivitäten. Auch wenn nicht alle Gemeinden die Proteste unterstützen, so besteht doch bei vielen Einwohner:innen ein deutliches Interesse daran, darüber auf dem Laufenden zu bleiben. Es gibt Unterstützung durch die Diözese und den kirchlichen Sozialdienst sowie durch engagierte Forscher, die die Entwicklung seit 2003 begleiten, von Universitäten wie der Autonomen Universität, der Iberoamerikanischen Universität von Puebla, der Autonomen Universität von Tlaxcala bis hin zur Universität von Chapingo. Ohne sie hätten wir keine Umweltdaten.
2023 wurden rund 60 Regionen in Mexiko ausgewiesen, in denen eine »gesundheitliche und ökologische Notlage« herrscht. Von wem?
Ende 2019 und Anfang 2020 hatten wir eine Reihe von Treffen mit dem damaligen Umweltminister, Víctor Toledo. Mit ihm haben wir über die Regionen geredet, die im Dezember 2019 von Politikern und Wissenschaftlern aus der EU und den USA sowie deutschen und lateinamerikanischen Organisationen besucht wurden, im Rahmen der von uns organisierten »Toxi Tour«-Karawane, einer Reise zu sechs Brennpunkten der Umweltzerstörung durch große Unternehmen. Bald darauf wurden der Generaldirektor des Rats für Geisteswissenschaften, Wissenschaften und Technologien und der Gesundheitsminister hinzugezogen.
Wird angesichts der Ergebnisse der umfangreichen Datenerhebung genug gegen die industriell verursachten Umweltschäden unternommen?
Insbesondere die Regierungen von Tlaxcala und Puebla halten an dem von ihnen geförderten neoliberalen Wirtschaftsmodell fest. Ihr Ziel ist es, die Vernetzung zwischen Unternehmen, akademischen Institutionen und Regierungsstellen in der Region Puebla-Tlaxcala zu fördern und mit dem Central Zone Automotive Cluster den führenden Standort für die Automobilproduktion in Lateinamerika zu etablieren. Die Industrialisierung und Urbanisierung der gesamten Region wird unkontrolliert vorangetrieben, letztlich mit Duldung der Bundesministerien für Umwelt und für Agrar-, Territorial- und Stadtentwicklung.
»Die ausländischen Unternehmen machen hier die Drecksarbeit, die sie in ihren eigenen Ländern nicht machen können.«
Sind die mexikanischen Umweltgesetze so lasch?
Sie wurden als Antwort auf die neoliberale Industrialisierung formuliert, die von der Regierung Deregulierung verlangt und die Selbstregulierung der Unternehmen fördert, im Vertrauen darauf, dass der Druck des Marktes sie dazu zwingt, Menschen und Umweltressourcen gut zu behandeln. Das hat nicht funktioniert. Dieses Modell hat es ausländischen Unternehmen erleichtert, sich in Mexiko mit Produktionsverfahren niederzulassen, die sie in ihren Herkunftsländern nicht einmal vorzuschlagen wagen würden. Sie machen hier die Drecksarbeit, die sie in ihren eigenen Ländern nicht machen können.
Wie hat sich die Situation seit 1994 durch das Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta verändert?
Zum Schlechteren, da das Nafta die Unterwerfung unter die Dynamik des Marktes vorantreibt. Seit dem Beitritt Mexikos zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) 1988 begann die Privatisierung aller Bereiche des Landes, die Deregulierung der Umweltbestimmungen, die Senkung und Abschaffung von Zöllen. Die notwendigen Voraussetzungen für eine nahezu unkontrollierte Industrialisierung und Urbanisierung wurden geschaffen. Auf administrativer Ebene gelang es dem Privatsektor, über internationale Finanzorganisationen nach und nach die nationalen Behörden und Beamten zu korrumpieren und die Bundesregierung zu dominieren.
Víctor Toledo hat im Juni, während des Präsidentschaftswahlkampfs, in einem Artikel für die Zeitung »La Jornada« die Konflikte im Bereich Umweltschutz als eines der wichtigsten politischen Themen in Mexiko bezeichnet. Was erwarten Sie von der Regierung von Präsidentin Claudia Sheinbaum, die im Oktober ihre Arbeit aufgenommen hat?
Wir werden darauf drängen müssen, die Politik und Gesetzesvorschläge so zu gestalten, dass sie Umweltverschmutzung sowie den Klimawandel bekämpfen. Wir bestehen darauf, dass die Regierung für eine Sanierung der Umweltschäden sorgt und Bedingungen schafft, unter denen die Umweltverschmutzung aufhört. Die Regierung sollte offen sein für Vorschläge aus den Universitäten und der Zivilgesellschaft zur Lösung öffentlicher Probleme.
Was könnte die Situation verbessern?
Die Regierungen Mexikos und der einzelnen Bundesstaaten sollten aufhören, dem Druck des Privatsektors nachzugeben, den Kurs korrigieren und Mechanismen zur Regulierung der Industrie im Alto-Atoyac-Becken und im ganzen Land schaffen.