Freie Bahn für Erdoğan
Mehr als 16 Millionen Syrer:innen sind von humanitärer Hilfe abhängig, und so erfreulich der Sturz Bashar al-Assads ist – die Versorgungslage im Land wird er nicht unmittelbar verbessern. Es ist daher offensichtlich, dass eine schnelle Rückkehr der etwa 6,2 Millionen Syrer:innen, die aus dem Land geflohen sind, nicht möglich sein wird. Zudem setzt die Syrian National Army (SNA) im Dienste des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ihre Offensive gegen die überwiegend kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) fort, von Frieden im Land kann also noch nicht die Rede sein.
Doch im beginnenden deutschen Wahlkampf überbieten die üblichen Verdächtigen einander nun mit Vorschlägen für die Abschiebung von Syrer:innen – mit der Begründung, dass jener Diktator gestürzt wurde, dessen sich angeblich stetig stabilisierende Herrschaft noch vor kurzem als Argument dafür galt, dass man syrische Kriegsflüchtlinge getrost abschieben könne.
Aber auch Großbritannien, Frankreich, Österreich und Griechenland haben die Bearbeitung der Asylanträge syrischer Flüchtlinge gestoppt. Don’t they know it’s Christmas? Selbst das nahende Weihnachtsfest hat westliche Politiker:innen nicht dazu bewogen, eine großzügige Zahlung für die chronisch unterfinanzierten Hilfsprogramme für Syrien wenigstens zu versprechen.
»Wir müssen jetzt sehr viel stärker mit der Türkei zusammenarbeiten, um diese Region auch politisch zu befrieden.« Friedrich Merz (CDU)
Dass keine westliche Regierung auch nur vorgibt, wenigstens jetzt eine demokratische Entwicklung Syriens nach Kräften fördern zu wollen, passt zum Verhalten in den vergangenen Jahren. Man hatte sich an Assad gewöhnt, er war auf dem Weg der Rehabilitierung. Die US-Regierung soll mit Unterstützung einiger Golfmonarchien noch versucht haben, ihn dazu zu bewegen, das Bündnis mit dem Iran aufzukündigen, als die Miliz Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) ihre Offensive begann. Nun erinnert sich die »internationale Gemeinschaft« plötzlich der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats aus dem Jahr 2015, die einen politischen Prozess und freie Wahlen vorsah – bis Sommer 2017.
Besser spät als nie. Aber wird die »internationale Gemeinschaft« nun auf freie Wahlen hinarbeiten? Resolution 2254 wurde einstimmig angenommen, also auch von Russland, dessen Regierung sicherlich keine freien Wahlen in Syrien wünschte. Verhindern kann es sie jetzt nicht mehr, aber die mit Abstand einflussreichste ausländische Macht in Syrien ist nun die Türkei. Erdoğan dürfte ebenfalls wenig Interesse an einem demokratischen Syrien haben, in dem eine kurdische Autonomie unvermeidlich wäre.
Trump hat kein Demokratisierungsbestrebungen im Ausland
Dem damaligen und künftigen US-Präsident Donald Trump fiel 2019 zu Syrien nur ein, dass es »da drüben viel Sand« gebe. Nach seiner Amtseinführung am 20. Januar dürfte er vor allem an einem Rückzug der US-Truppen aus Syrien interessiert und offen für Vereinbarungen mit Erdoğan sein. Dass er kein Interesse an der Unterstützung von Demokratisierungsbestrebungen im Ausland hat, bekundete er immer wieder. Einzig die EU oder ihre bedeutendsten Mitgliedstaaten hätten genug Einfluss und Finanzkraft, um die Demokratisierung Syriens zu unterstützen.
»Wir müssen jetzt sehr viel stärker mit der Türkei zusammenarbeiten, um diese Region auch politisch zu befrieden«, sagte Friedrich Merz (CDU) am Montag. Das dürfte nach den Wahlen im Februar die Politik der künftigen Bundesregierung sein. Vom noch amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der bei einem Besuch in der Türkei im Oktober eine engere Kooperation mit Erdoğan vereinbarte, wäre aber auch nichts anderes zu erwarten.
Scholz und von der Leyen erwähnen »Demokratie« und »freie Wahlen« nicht
Er und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vermieden in ihren ersten Stellungnahmen zum Sturz Assads Worte wie »Demokratie« und »freie Wahlen«. Sie forderten den Schutz von Minderheiten, schwiegen aber über Erdoğans Krieg gegen die kurdische Minderheit.
Bleiben als Träger:innen eines Demokratisierungsprozesses die Syrer:innen selbst. Dass auf den Straßen von Damaskus zuerst leicht bewaffnete, nichtislamistische Aufständische aus Südsyrien und Einwohner:innen der Stadt die Befreiung feiern konnten, mag an einer ausgehandelten Übergabe gelegen haben, die eine Eroberung überflüssig machte.
Es zeigt aber, dass es relevante Kräfte gibt, die Assads Diktatur nicht gegen eine sunnitisch-islamistische Herrschaft tauschen wollen. Obwohl die HTS derzeit die stärkste Miliz in Syrien ist, reicht ihre Truppenstärke nicht annähernd aus, um das ganze Land zu kontrollieren, und ihre konziliante Politik gegenüber dem Fußvolk Assads spricht dafür, dass sie es nicht versuchen wird. Es ist unwahrscheinlich, dass sie ihre Waffen abgibt und sich in ein demokratisches System einfügt, aber eine durchaus erwartbare Gliederung des Landes in informelle Autonomiegebiete wäre ein erster Fortschritt.