Ebenbürtige Gegner
Es ist ein Match – und kein Massaker, wie viele zuvor befürchtet hatten. Der amtierende, zuvor schon aber angezählte Schachweltmeister Ding Liren hält sich besser als gedacht und wehrt sich aussichtsreich dagegen, den Titel an den Herausforderer Gukesh Dommaraju abzugeben. Der Ding Liren, der in Singapur um die Meisterschaft spielt, hat kaum Ähnlichkeit mit dem fahrigen und nervenschwachen Spieler, der im vergangenen Jahr bei Turnieren durchwegs zu leiden hatte. Stattdessen wirkt er locker, entspannt, bisweilen sogar fröhlich und am Brett völlig konzentriert. Während beim WM-Match des Chinesen gegen Jan Nepomnjaschtschij in der kasachischen Hauptstadt Astana 2023 beide Spieler sehr viel Zeit jenseits des Bretts im Pausenraum verbrachten, sieht man Ding nun – ebenso wie seinen Herausforderer – über die Stellung gebeugt, versunken in der Analyse.
Nach neun Partien standen die beiden Kontrahenten noch immer gleichauf. Gerade für Gukesh ist das kein gutes Zeichen, denn seine Spezialität ist Schach mit klassischer Bedenkzeit, ein Tiebreak, der bei Gleichstand nach zwölf Partien fällig wäre, würde aber im Schnellschach gespielt werden. Ein so lang währender Punktegleichstand ist jedoch kein Indiz für langweilige Partien und schnelle Remis – ganz im Gegenteil. Beide Spieler scheuen nicht vor strategisch hochkomplexen Positionen zurück. Das Match begann mit einem Sieg von Ding gleich in der ersten Partie, und dies auch noch mit den schwarzen Steinen. Bereits mit seinem ersten Zug überraschte Ding, indem er mit der französischen Verteidigung einen Zug wählte, der zwar einst fest zu seinem Repertoire gehörte, allerdings nur bis 2012.
Sieger in den Eröffnungen ist bisher meist Gukesh gewesen, während es Ding in den Mittelspielen immer wieder schafft, originelle Ideen umzusetzen.
Gukesh spielte sehr ambitioniert, womöglich sogar zu aggressiv mit einem frühen Bauernvorstoß auf dem Königsflügel. Der Angriff kam aber nicht in Gang, während Ding auf dem Damenflügel seine Figuren brillant koordinieren konnte. Eine Chance hatte Gukesh noch, in der Partie auf ein Remis zu hoffen, doch ließ er sie verstreichen. 1:0 für den Weltmeister – eine Überraschung. Seit 304 Tagen hatte Ding kein Spiel mehr im klassischen Schach gewonnen. Die Rückkehr zur Form hätte in keinem besseren Moment passieren können. Sein 18jähriger Kontrahent Gukesh im Gegenzug spielte unter seinem Niveau, was sich wahrscheinlich auch auf den enormen Druck zurückführen lässt.
Um nichts anbrennen zu lassen und sich und der Welt seine Stabilität zu demonstrieren, spielte Ding mit Weiß im zweiten Spiel eine wenig ambitionierte Variante der italienischen Eröffnung. Recht früh wurden beide Läufer getauscht und eine symmetrische Bauernstruktur erreicht, in der sich die beiden schon nach 23 Zügen per dreifacher Stellungswiederholung die Hand zum Remis geben konnten.
Momentum schien auf Gukeshs Seite zu sein
In der dritten Partie konnte Gukesh zurückschlagen. Ding platzierte in der Eröffnung recht wagemutig seinen Läufer tief in der weißen Stellung. Gekonnt sicherte er dessen Rückzug, versäumte dann aber im entscheidenden Moment, von der Fluchtroute Gebrauch zu machen. Der Läufer wurde von Gukeshs Bauern gefangen und Ding bekam zu wenig Kompensation für die verlorene Figur, um Gukesh noch ernsthafte Probleme zu bereiten.
Der spielte seinen Vorteil souverän zum Sieg. Damit war das Match wieder ausgeglichen und das Momentum schien auf Gukeshs Seite zu sein. Ding hingegen zeigte Symptome seiner letztjährigen schlechten Form: Der Sinn für Gefahr hatte ihn offenbar im Stich gelassen. Wer aber dachte, dass Dings Leistung nun einbrechen würde, wurde überrascht.
In den Partien vier, fünf und sechs erspielte sich Ding immer wieder kleine Vorteile und ließ Gukesh praktisch kaum mehr Chancen. Zu einem Sieg reichte es in diesen Partien aber nicht, denn er spielte zu vorsichtig und überführte komfortable Positionen zu schnell in ein Remis. Dies brachte ihm einige Kritik aus dem Lager der Spitzenspieler der Welt ein, wenn etwa sein Kontrahent aus dem vergangenen Jahr, Nepomnjasch-tschij, anmerkte: »You have an extra pawn, but you sacrifice two to build a fortress. Why not?« (»Du hast einen zusätzlichen Bauern, aber du opferst zwei, um eine Festung zu bauen. Warum nicht?«)
Diese allzu vorsichtige Spielweise bricht mit einem Prinzip, das insbesondere Magnus Carlsen im Spitzenschach vertritt. Trockene und völlig ausgeglichene Positionen werden bis zum bitteren Ende ausgespielt, in der Hoffnung, mit überlegener Technik etwaige Ungenauigkeiten beim Gegenüber ausnutzen zu können.
Ding zeigt große Varianz in seinem Eröffnungsspiel
Das heißt jedoch noch lange nicht, Ding wäre in seiner Spielweise nicht ambitioniert. Im Gegenteil zeigt er eine große Varianz in seinem Eröffnungsspiel, in dem er in seinen vier Spielen mit Weiß jeweils mit einem anderen ersten Zug startete (1.e4, 1.Sf3, 1.d4 und 1.c4). Auch mit Schwarz strebte er in manchen Spielen unausgeglichene Stellungen an, als er zweimal auf die französische Verteidigung baute. Gegen diese hatte Gukesh keine gute Antwort und spielte die als langweilig geltende, weil absolut symmetrische Abtauschvariante.
So unwahrscheinlich es vor dem Match auch geklungen hätte: In den ersten sechs Spielen gab Ding den Ton an. Er kreierte immer wieder Chancen, scheute sich nicht, selbst in den Eröffnungsphasen viel Zeit zum Nachdenken zu nutzen, und schien bis auf den Ausrutscher in der dritten Partie praktisch keine Angriffsfläche zu bieten. Das ändert sich nach dem zweiten Ruhetag. Gukesh erhöht den Druck und zeigt die außergewöhnliche Vorbereitung seines Teams.
Beim Spitzenschach geht es in den Eröffnungsvorbereitungen vor allem darum, neue und zumeist sehr nuancierte Ideen zu finden, die nicht unmittelbar einen Vorteil bringen, aber den Gegner in unbekannte Gefilde führen. Ziel ist es, Positionen zu finden, mit deren strategischen Plänen man vertrauter ist. Das gelang Gukesh hervorragend in der siebten Partie.
Kampf mit offenem Visier
In einer populären Variante des königsindischen Angriffs fand er bereits bei Zug sieben eine Neuerung, die den Charakter der Position erheblich beeinflusste. Gukesh überspielte daraufhin Ding in zwei Phasen der Partie, konnte diesen Vorteil aber nicht in den vollen Punkt umsetzen. Nachdem Gukesh bereits recht früh im Spiel fast Dings Dame einfangen hatte können, konsolidierte sich Ding mit beeindruckender Resilienz. Erneut gelangte Gukesh durch raffiniertes Spiel zu einem deutlichen Vorteil, verpasste aber den Todesstoß.
Beide Kontrahenten liefern sich einen Kampf mit offenem Visier, verpassen aber beide wiederholt zu punkten. So auch in Spiel acht, das wohl besonders durch seine außergewöhnliche Bauernstruktur in Erinnerung bleiben wird. Ding zog erst in Zug 19 das erste Mal einen Zentralbauern, was so radikal wie ungewöhnlich ist. Sowohl er als auch Gukesh hatten in der Partie theoretische, jedoch praktisch sehr schwer umsetzbare Gewinnstellungen auf dem Brett.
Etwas ruhiger wurde es in der neunten Partie. Gukesh eröffnete konservativer mit den weißen Steinen und das Spiel endete nach 54 Zügen remis. trahenten früh aus der bekannten Eröffnungstheorie abweichen und hochkomplexe strategische Mittelspiele anstreben. Sieger in den Eröffnungen ist bisher meist Gukesh gewesen, während es Ding in den Mittelspielen immer wieder schafft, originelle Ideen umzusetzen.
Dings Zeitmanagement teilweise haarsträubend
Dings Spiel ist keinesfalls fehlerfrei, insbesondere sein Zeitmanagement ist teilweise haarsträubend, jedoch bleiben die prognostizierten Aussetzer bisher beinahe gänzlich aus. Er wirkt deutlich gelöster als bei der vergangenen Weltmeisterschaft, macht Witze auf den Pressekonferenzen und stellt sich in vielen Interviews den anwesenden Journalist:innen. Auf die Frage, was er denn nach einem möglichen Gewinn machen würde, antwortete Ding: »Last time i cried after the win of the title, this time i may smile.« (»Letztes Mal weinte ich nach dem Gewinn des Titels, diesmal lächle ich vielleicht.«)
Gukesh hingegen wirkt so fokussiert und professionell wie immer. Allerdings steigt mit jedem weiteren ergebnislosen Spiel auch der Druck. Drei Spiele hat Gukesh noch, um Ding im klassischen Schach zu besiegen. Der ehemalige Weltmeister und Nummer eins der Weltrangliste, Magnus Carlsen, sagte im Stream seiner neuen Schach-App »Take Take Take«: »We finally arrived at a point where Gukesh is not a favorite in this match anymore.« (»Wir haben letztlich einen Punkt erreicht, an dem Gukesh in diesem Match nicht mehr Favorit ist.«)
Diese Einschätzung wird noch immer von vielen nicht geteilt, allerdings ist sich die Schachwelt einig: Kommt es zum Tiebreak und damit zu verkürzten Zugzeiten, dann ist Ding aufgrund seiner intuitiveren Spielweise mindestens ebenbürtig und vielleicht sogar der Favorit.