Fehlende Gerichtsbarkeit
Überrascht war man in Israel nicht wirklich, als der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag am 21. November seine Entscheidung bekannt gab, Haftbefehle gegen den Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant zu erlassen. Trotzdem hat die Entscheidung in Israel für Diskussionen gesorgt, die weiter andauern.
Der Vorwurf des IStGH: Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschheit. Zwar wurde auch gegen Mohammed Deif ein Haftbefehl ausgestellt – doch der Befehlshaber der Qassam-Brigaden und Mastermind hinter dem Massaker vom 7. Oktober gilt dem Gericht als verschollen. Israel hat ihn bereits für tot erklärt.
In seinem ursprünglichen Antrag hatte der IStGH-Chefankläger, der Brite Karim Ahmad Khan, auch die Hamas-Anführer Yahya Sinwar und Ismael Haniyeh aufgeführt. Sie seien »verantwortlich für die Tötung Hunderter israelischer Zivilisten«. Doch auch diese beiden Terroristen weilen seit einigen Monaten nicht mehr unter den Lebenden.
Um zu demonstrieren, dass Israel über ein unabhängiges Justizsystem verfüge, empfahl die israelische Generalstaatsanwältin die Einrichtung einer regierungsunabhängigen Untersuchungskommission.
Während Israelis unterschiedlichster politischer Lager es als Skandal empfinden, dass Israel dadurch mit einer brutalen Terrororganisation wie der Hamas auf eine Stufe gestellt werde, betrachten viele Juristen den IStGH als gar nicht befugt, Haftbefehle gegen Angehörige der Regierung zu erlassen. Israel gehört nicht zu den Staaten, die das Römische Statut des IStGH, das dessen juristische Grundlage ist, ratifiziert haben. Genauer gesagt, man hatte es zwar unterzeichnet, dann aber, kurz nach dessen Inkrafttreten 2002, seine Unterschrift wieder zurückgezogen. Zu groß waren Befürchtungen, dieses Gremium könne als politische Waffe gegen Israel instrumentalisiert werden.
Palästina dagegen hat seit 2015 das Statut ratifiziert, obwohl es kein UN-Mitgliedsstaat ist, sondern nur den Status eines sogenannten Beobachters innerhalb der Vereinten Nationen hat. Allein die Zugehörigkeit des nicht existierenden Staates Palästina zu den Unterzeichnern des Statuts reiche allerdings aus, dass der IStGH für die Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen im Westjordanland, in Ostjerusalem und im Gaza-Streifen zuständig sei, entschied der Strafgerichtshof am 5. Februar 2021.
»Internationaler Strafgerichtshof besitzt keine Zuständigkeit«
Das wiesen israelischer Rechtsexperten scharf zurück. So attestierte die israelische Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara dem IStGH unmittelbar nach Bekanntgabe der Haftbefehle eklatantes Versagen. »Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs ist unbegründet, bedauerlich und weist grundlegende rechtliche Mängel auf. An einem solchen Tag muss ganz klar gesagt werden, dass der Internationale Strafgerichtshof in dieser Angelegenheit keine Zuständigkeit besitzt.« Israel erwäge deshalb rechtliche Schritte. Baharav-Miara ist im Übrigen jeglicher Sympathien für Netanyahu unverdächtig. Sie zählt zu den schärfsten Gegnern seiner geplanten Justizreform.
Aus Sicht des Juristen Amichai Cohen vom Israel Democracy Institute ist es zudem problematisch, dass der IStGH weder Netanyahu noch Gallant die Möglichkeit eingeräumt hat, die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu entkräften. Er befürchtet, dass diplomatische Kontakte für Israel zukünftig problematisch werden könnten. »Die bereits erlassenen Haftbefehle sind nicht unbedingt das letzte Wort des Gerichts«, schrieb Cohen in der Jerusalem Post. So sei damit zu rechnen, dass die Anklage beim IStGH die Absicht habe, Haftbefehle gegen weitere hochrangige israelische Beamte zu beantragen oder dies bereits getan habe, ohne es öffentlich zu machen.
Wie rechtlichen Schritte gegen die Entscheidung des IStGH nun aussehen könnten, ist einer kurzen Stellungnahme des Büros des Ministerpräsidenten zu entnehmen, die wenige Tage nach Bekanntgabe der Haftbefehle veröffentlicht wurde. Dort heißt es, Israel erkenne zwar keine Zuständigkeit des IStGH an, man habe aber das Gericht über die Absicht informiert, Berufung einzulegen, um zu beweisen, dass die Haftbefehle »unbegründet waren und jeder sachlichen und rechtlichen Grundlage entbehren«. Außerdem wolle man Aufschub beantragen. Auch wenn die Haftbefehle bereits erlassen wurden, liege es dennoch im Ermessen des Gerichts, sie auszusetzen, solange ein Berufungsverfahren anhängig ist. Chefankläger Khan hat die entsprechende Kammer des IStGH bereits aufgefordert, das israelische Ersuchen sofort abzulehnen.
Unabhängige und starke Justiz
Israelische Juristen kritisieren dessen Verhalten scharf, monieren aber auch große Versäumnisse der israelischen Regierung. Baharav-Miara hatte schon im Mai, als Khan bekanntgab, dass er nun Haftbefehle gegen Netanyahu und Gallant beantragen werde, darauf verwiesen, dass Israel eine unabhängige und starke Justiz habe. Diese werde sofort aktiv, wenn Verdachtsmomente vorliegen. »Wir werden nicht zögern, selbst Staatsoberhäupter und Militärs strafrechtlich zu verfolgen.«
Genau das sei aber nicht geschehen, sagt Eran Shamir-Borer vom Israel Democracy Institute und vormals Leiter der Abteilung für internationales Recht bei der israelischen Armee. Der Tageszeitung Haaretz sagte er, die Entscheidung des IStGH sei »in vielerlei Hinsicht empörend, aber das Verhalten des Staats hat zu dieser Entscheidung beigetragen«. So habe im Mai, als Khan die Haftbefehle beantragte, die Möglichkeit bestanden, eine unabhängige und ernsthafte Untersuchung der Vorwürfe in Israel einzuleiten, um dem IStGH nicht das Feld zu überlassen. Doch passiert sei rein gar nichts. Die Verantwortlichen in Jerusalem hätten sich vehement gegen jegliche gezielte Untersuchung gewehrt. »Man hat den Kopf einfach in den Sand gesteckt«, so Shamir-Borer weiter.
Der Jurist betont, dass sich das Gericht in Den Haag eigentlich nur mit Ereignissen befassen könne, die sich bis zur Einreichung des Antrags für die Haftbefehle ereignet haben, doch wiesen die Richter in Den Haag ausdrücklich darauf hin, dass ihrer Ansicht nach die Verbrechen, die den Haftbefehlen zugrunde lägen, weiterhin begangen würden. Bis jetzt habe das Gericht nur eine kurze Zusammenfassung der Haftbefehle veröffentlicht, so dass nicht ganz klar sei, welche Vorfälle im Mittelpunkt der Ermittlungen stehen. So sei die Rede von Angriffen auf Krankenhäuser, der Behinderung der Einfuhr von humanitärer Hilfe sowie zwei vorsätzlichen Angriffen auf palästinensische Zivilisten.
Warnung vor weiterer Untätigkeit
Auch Baharav-Miara kritisiert die Versäumnisse der israelischen Regierung und drängte bereits Anfang September auf die Einrichtung einer Untersuchungskommission. Nach Angaben des Fernsehkanals Keshet12 hatte die Generalstaatsanwältin in einem Schreiben an Netanyahu sowie einen kleineren Kreis von Regierungsvertretern vor weiterer Untätigkeit gewarnt: »Es gibt außerordentlich viele Fragestellungen und ernste Gefahren im Bereich der internationalen Beziehungen.« Um diesen zu begegnen und zu demonstrieren, dass Israel über ein solides und unabhängiges Justizsystem verfügt, empfahl sie die Einrichtung einer unabhängigen staatlichen Kommission zur Untersuchung von Fehlverhalten im Gaza-Krieg. Versäume die Regierung eine solche einzusetzen, widerspräche das ihrer grundlegenden Verantwortung und könne einen Ausnahmefall darstellen, der ein gerichtliches Eingreifen rechtfertige. Sie appellierte dringend, rasch zu handeln.
Netanyahu will aber offenbar keine unabhängige staatliche Untersuchung, sondern wäre allenfalls für eine mit weniger Befugnissen ausgestattete Regierungskommission zu gewinnen, auf die er dann natürlich mehr Einfluss hätte. Der Ministerpräsident dürfte die große Mehrheit der Israelis auf seiner Seite haben, wenn es um die Ablehnung der Entscheidung des IStGH geht.
Israelis seien sehr ungehalten, wenn sie glauben, die Welt sei gegen sie, und unterstützten ihren Regierungschef, selbst wenn er viel Kritik einstecken müsse, so Yonatan Freeman, Experte für internationale Beziehungen an der Hebräischen Universität Jerusalem, in der Times of Israel. Politisches Kapital lässt sich daraus aber nicht schlagen: Meinungsumfragen zufolge gab es keine nennenswerte Veränderung zugunsten der Regierungspartei Likud.