12.12.2024
Nach dem Sturz der Regierung in Frankreich kommt es erneut zu heftigen Bauernprotesten

Turbulenzen nach dem Sturz der Regierung

In Frankreich ist Premierminister Michel Barnier nach nur 90 Tagen im Amt durch ein Misstrauensvotum gestürzt worden. Derweil unterzeichnet Ursula von der Leyen ein umstrittenes EU-Freihandels­abkommen, was die Wut französischer Bauern anheizt.

Düstere Prophezeiungen über die Folgen eines erfolgreichen Misstrauensvotums gegen den französischen Premierminister Michel Barnier haben sich nicht bewahrheitet. Bislang kam es nicht dazu, dass, wie Barniers Amtsvorgängerin Elisabeth Borne warnte, »Krankenversicherungskarten beim Arztbesuch nicht mehr funktionieren« oder Renten nicht mehr ausbezahlt würden.

Turbulent geht es in Frankreich aber allemal zu, seitdem am 4. Dezember ein kurzlebiges Stimmbündnis von Abgeordneten sämtlicher linker Parteien sowie des rechtsextremen Rassemblement national (RN) die konservative Minderheitsregierung stürzte, die bis dahin gerade einmal 90 Tage im Amt war. Hintergrund für den Misstrauensantrag war ein vom Premierminister ohne Abstimmung durchs Parlament verabschiedeter Sparhaushalt für 2025; der Artikel 49.3 der französischen Verfassung hatte dies ermöglicht. Die Zustimmung des RN zum Misstrauensantrag spielte die entscheidende Rolle beim Sturz Barniers, denn seit September hing dessen Regierung von der parlamentarischen Tolerierung durch den RN als faktischem Mehrheitsbeschaffer ab.

Seit Ende voriger Woche flammen in Frankreich wieder heftige Bauernproteste auf. Wahlkreisbüros von Abgeordneten mehrerer Parteien wurden zugemauert oder mit Misthaufen umstellt.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wusste die zeitweilige Lähmung der französischen Regierung zu nutzen, um am 6. Dezember in Uruguays Hauptstadt Montevideo zu reisen und ein umstrittenes Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten zu unterzeichnen. Frankreich lehnt das Abkommen mit dem südamerikanischen Binnenmarkt in der bestehenden Form ab – unter anderem aus Rücksicht auf den Agrarsektor des Landes. Während das Abkommen der deutschen Industrie vor allem einen neuen Absatzmarkt für den Export von Autos und Flugzeugen eröffnen könnte, fürchtet die Landwirtschaft in Frankreich, Österreich und Polen die Konkurrenz brasilianischer und argentinischer Agrargroßbetriebe.

Von der Leyen bescherte Frankreich damit weitere Unruhen: Seit Ende voriger Woche flammen in Frankreich erneut heftige Agrarproteste auf. Zuletzt hatte es solche im Februar und März sowie erneut im November gegeben. Wahlkreisbüros von Abgeordneten mehrerer Parteien wurden zugemauert oder mit Misthaufen umstellt. Erstmals attackierten wütende Bauern dabei auch einzelne Büros des RN, während die rechtsextreme Partei bisher aufgrund ihrer protektionistischen Positionen in der Agrarpolitik bei den Bauern mehrheitlich gut angesehen war. Lediglich die linke Confédération paysanne, der drittstärkste der französischen Bauernverbände, positioniert sich klar gegen den RN.

Von der Leyen griff zu einem Verfahrenstrick

Die Wut der Bauern auf den RN rührt daher, dass dieser mit seiner Zustimmung zum Misstrauensvotum gegen Barnier dafür gesorgt hat, dass das Haushaltsgesetz für 2025, das wegen einiger früherer Proteste finanzielle Zugeständnisse an Landwirtschaftsbetriebe enthielt, nun gescheitert ist.

Ob das Mercosur-Abkommen – das die größte Freihandelszone weltweit schaffen würde – tatsächlich in Kraft tritt, steht allerdings noch nicht fest. Multilaterale Kooperationsabkommen der EU erfordern normalerweise ein Einstimmigkeitsprinzip, jedes Mitgliedsland könnte sie blockieren.

Um aber schon mal Fakten zu schaffen, griff von der Leyen zu einem Verfahrenstrick und splittete das Abkommen auf: in einen kooperationspolitischen Teil und einen rein handelspolitischen Teil, bei dem ihr zufolge nur eine qualifizierte Mehrheit im Europäischen Rat beziehungsweise EU-Parlament erforderlich ist. Inzwischen hat auch Italiens rechtsextreme Regierung Vorbehalte gegen das Abkommen geäußert. Mit Italien könnte eine Sperrminorität erreicht werden – diese muss Staaten umfassen, die mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren –, die das Freihandelsabkommen stoppt.

Auch wenn Staatspräsident Macron am Sonntag versicherte, Frankreich werde die Mercosur-Vereinbarung nicht unterzeichnen, warf ihm die Co-Vorsitzende der Fraktion »Die Linke im Europäischen Parlament« und Wirtschaftsexpertin Manon Aubry – sie war bei den beiden vorigen Europawahlen, 2019 und 2024, jeweils Spitzenkandidatin der linkspopulistischen Partei LFI – jahrelange Untätigkeit vor. Auch einige Konservative und Rechtsextreme monieren dies. Der RN versucht nun, als Sprachrohr der protestierenden Landwirte aufzutreten, was ihm aber wegen seiner Zustimmung zum Misstrauensvotum weniger gut gelingt.

Im Zeichen der Austeritätspolitik

Die im Bündnis Nouveau Front populaire (NFP) organisierten linken Parteien hingegen hatten andere Gründe, gegen den Entwurf der Regierung für das Haushaltsgesetz 2025 zu stimmen, das ganz im Zeichen der Austeritätspolitik stand. Zu den darin vorgesehen drastischen Einschnitten zählten die Verringerung der Rückzahlung von Arzneimittelkosten für Patientinnen und Patienten durch die gesetzliche Krankenversicherung von bislang 70 auf 60 Prozent, die Einführung von drei Karenz- oder unbezahlten Krankheitstagen statt bisher einem zu Beginn jeder Erkrankungsperiode für Staatsbedienstete sowie die Abschaffung der Inflationsanpassung für Renten und andere ähnliche Maßnahmen.

Der RN wiederum unterstützte das Misstrauensvotum weniger aus inhaltlichen Gründen, sondern vorwiegend aus taktischen Erwägungen – die Einführung der drei Karenztage jedenfalls hatten die Rechtsextremen zuvor ausdrücklich unterstützt. Denn zum einen wuchs innerhalb der Wählerschaft der extremen Rechten die Ablehnung der Regierungspolitik. War es zu Anfang der Regierungszeit Barniers ein Drittel der RN-Wählerinnen und Wähler, die dagegen waren, Barniers Kabinett zu tolerieren, waren es zum Schluss 67 Prozent.

Derweil läuft in Paris gegen die Fraktionsvorsitzende des RN in der Nationalversammlung, Marine Le Pen, und ihre Partei ein Prozess wegen der Veruntreuung mehrerer Millionen von EU-Geldern für den eigenen Parteiapparat. Die Staatsanwaltschaft forderte am 13. November neben einer mehrjährigen Haftstrafe für Le Pen auch, ihr für fünf Jahre das passive Wahlrecht zu entziehen.

Le Pen droht Verurteilung

Erwartet wird das Urteil für den 31. März kommenden Jahres. Sollte sie verurteilt werden, könnte ihr Name bei der für 2027 vorgesehenen Präsidentschaftswahl auf dem Wahlzettel fehlen. Daher läge es in Le Pens Interesse, eine vorgezogene Präsidentschaftswahl herbeizuführen. Ihrem innerparteilichen Mitstreiter und möglichen künftigen Kontrahenten Jordan Bardella möchte sie da nicht das Feld überlassen.

Um also Macron weiter in die Enge – und aus dem Amt – zu treiben, bemüht sich der RN wieder um das seit Jahrzehnten gepflegte Image als systemfeindliche Partei; eine Kehrtwende, da er in den vergangenen Monaten vor allem versucht hatte, seine bürgerliche Respektabilität und Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.

Wie es nach dem Sturz der Regierung nun weitergeht, ist ungewiss. Entgegen der Ankündigung aus dem Umfeld Macrons vom Donnerstag voriger Woche, »innerhalb von 24 Stunden« einen Nachfolger für Barnier zu bestimmen, ist bislang noch keiner benannt worden.

Am Dienstagnachmittag empfing Macron die Spitzen der Mehrzahl der im Parlament vertretenen politischen Parteien zu Gesprächen über eine mögliche Koalition – die linkspopulistische Partei LFI entschied sich jedoch zum Boykott, während der RN aufgrund seines jüngsten Positionswechsels nicht eingeladen worden war.

Macron versucht derzeit, einen Kompromiss zwischen den Parteien des NFP (ohne LFI) und den Konservativen zu erzielen, der neben der Zustimmung zu einigen Allgemeinplätzen – eine »neue Methode« der Regierungsbildung solle es geben – auch eine Erklärung zum Verzicht auf ein Misstrauensvotum enthalten soll. Ein Regierungseintritt von Teilen des Parti socialiste (PS) gilt als möglich, was aber das linke Wahlbündnis endgültig zum Platzen brächte – und den regierungswilligen Sozialdemokraten eine von LFI geführte Verratskampagne eintragen dürfte.