05.12.2024
Islamistische Rebellen nehmen ­Aleppo ein, das syrische Regime gerät in Bedrängnis

Pragmatischer Jihad

Die islamistische HTS hat überraschend schnell große Gebiete in Nordwestsyrien erobert, doch ist fraglich, ob sie das Regime stürzen kann.

Auch Jihadisten scheinen lernfähig zu sein. »Barmherzigkeit und Freundlichkeit« verordnete Abu Mohammed al-Julani, der Anführer der Hay’at Tahrir al-Sham (Organisation für die Befreiung der Levante, HTS), seinen Kämpfern im Umgang mit Zivilist:innen in den eroberten Gebieten. Bei ihrem am 27. November begonnenen schnellen Vormarsch brachten die HTS und mit ihr verbündete kleinere Milizen große Gebiete in Nordwestsyrien und Aleppo, die zweitgrößte Stadt des Landes, unter Kontrolle. In sozialen Medien wurde unter anderem ein Foto verbreitet, das HTS-Kämpfer zeigen soll, die in Aleppo brav in der Schlange an einem Hähnchenimbiss warten, bis sie an der Reihe sind. Tatsächlich sind bislang keine schweren Menschenrechtsverletzungen bekannt geworden.

Bereits in ihrem bisherigen Herrschaftsgebiet, der Provinz Idlib, zeigte sich die HTS pragmatisch, kooperierte mit Hilfsorganisationen und verzichtete auf die rabiate Durchsetzung der Sharia – nicht aber auf die Verfolgung von politischen Gegnern. Hervorgegangen aus einem Ableger von al-Qaida, trennte sich die HTS vom Dachverband des globalen Jihad, nicht aber von der islamistischen Ideologie. Ihre Fatwa-Abteilung gibt immer wieder antisemitische Erklärungen heraus, auch der Name ist nicht unverdächtig. Unter al-Sham wird gemeinhin ein Gebiet verstanden, das auch den Libanon, Israel und die palästinensischen Gebiete umfasst. Israelische Sicherheitsexpert:innen gehen allerdings überwiegend davon aus, dass die Interessen der HTS sich auf das syrische Staatsgebiet beschränken.

Die Frage ist nicht ob, sondern wie sehr der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Finger im Spiel hat. 

Die israelische Offensive gegen die Hizbollah, zu der auch Luftangriffe in Syrien gehörten, hat den Erfolg der HTS zweifellos begünstigt, ebenso die Schwächung des Iran und die Tatsache, dass der russische Präsident Wladimir Putin derzeit wenig Ressourcen für die Unterstützung des Regimes Bashar al-Assads erübrigen kann. Das erklärt allerdings nicht, warum Aleppo fast kampflos fiel, zumal Assad wie auch dem iranischen Regime die Gefahr klar ­gewesen sein muss. Es war bekannt, dass Assads Truppen ohne iranische und russische Unterstützung den Krieg längst verloren hätten. Offenbar mangelt es aber auch dem Iran an Ressourcen für den Erhalt kampfkräftiger Milizen in Syrien.

Erklärungsbedürftig ist allerdings auch die Kampfkraft der HTS, die nur über eine verelendete Provinz mit etwa vier Millionen Einwohn­er:innen, davon ein Großteil in Flüchtlingslagern, gebot und nun motorisierte Truppen inklusive Panzern ins Feld schicken kann. Die Frage ist hier nicht ob, sondern wie sehr der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Finger im Spiel hat. Zweifellos auf sein Konto geht die in der Öffentlichkeit weniger beachtete Offensive der von der Türkei aufgebauten Syrian National Army (SNA) gegen die überwiegend kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF). Vermutlich hofft Erdoğan, mit dem zukünftigen US-Präsidenten Donald Trump einen Deal machen zu können, der ihm die lästigen US-Truppen vom Hals schafft, die derzeit noch in von den SDF kontrollierten Gebieten Nordostsyriens stationiert sind. Dann wäre der Weg frei für eine Großoffensive.

Syrische Demokratiebewegung im Bürgerkrieg untergegangen

Weniger klar sind Erdoğans Interessen in Bezug auf Assad, noch im August war von einer Annäherung der beiden die Rede. Andererseits verdankt die HTS es einer Abmachung zwischen der Türkei und Russland, dass sie in Idlib seit 2020 unbehelligt blieb; gegen den Willen Erdoğans wäre sie wohl nicht in die Offensive gegangen. Der türkische Einfluss in Syrien basiert jedoch darauf, dass Assad die Kontrolle über weite Teile des Staatsgebiets verloren hat. Erdoğan dürfte Interesse an einer weiteren Schwächung des Regimes haben, nicht aber an dessen Sturz und einer Wiedervereinigung des Landes.

Auf friedlichem Weg ist diese nur föderal denkbar, unter Berücksichtigung der Interessen arabisch-sunnitischer, kurdischer, alawitischer und weiterer Bevölkerungsgruppen sowie mit einem System, dass deren Repräsentation nicht Kriegsherren überlässt, also demokratisch sein muss. Die syrische Demokratiebewegung aber ist im Bürgerkrieg untergegangen.

Nach einem Sieg der HTS wäre bestenfalls die Anwendung einer gemäßigten Version der Sharia zu erwarten, doch ist unwahrscheinlich, dass al-Julani oder, falls er tatsächlich, wie von Russland behauptet, bei einem Luftangriff getötet wurde, ein anderer HTS-Anführer Assad anstelle des Assads wird. Für mehr als eine Frontverschiebung dürften die 30.000 Kämpfer der HTS nicht ausreichen, zumal die Unterstützer Assads trotz ihrer Bedrängnis in der Lage sein dürften, Verstärkungen zu schicken.