05.12.2024
Die jüngste Verfassungsreform in Nicaragua und die Repression gegen die Zivil­gesellschaft

Alle Macht der Familienbande

Die nicaraguanische Verfassungsreform vom 22. November festigt die Macht des ­Diktators Daniel Ortega und seiner Ehefrau Rosario Murillo, die nun zur »Co-Präsidentin« ernannt wurde. Derweil geht die Repression gegen Journalist:innen, NGOs und Kirchen weiter.

Um bürgerliche Rechte und die freie Presse ist es in Nicaragua schon seit längerem schlecht bestellt. Im Frühjahr 2018 ließ die Regierung des Präsidenten Daniel Ortega die landesweiten Proteste gegen die geplanten Rentenkürzungen brutal niederschlagen; mindestens 350 Menschen wurden getötet.

In der Folge wurden nicht nur politische Gegner:in­nen, sondern auch Dutzende von Journalist:innen verhaftet. Viele von ihnen leben inzwischen im costa-ricanischen Exil. So auch die 51jährige Journalistin Lucía Pineda Ubau, Mitglied des kritischen Journalist:innen-Netzwerks Periodistas y Comunicadores Independientes de Nicaragua (PCIN), dessen Arbeit Ende November mit dem Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet wurde.

Auch das Menschenrechtskollektiv Nicaragua Nunca Más ist in Costa Rica ansässig. Dessen Mitglied und Anwalt, Juan Carlos Arce, kritisiert, dass das Diktatorenehepaar – Ortegas Ehefrau Rosario Murillo ist seit 2017 Vizepräsidentin – seit den Protesten 2018 »die Zivilgesellschaft mit Verboten und Ausbürgerungen zum Schweigen zu bringen« versuche. Insgesamt wurden seither in mehreren Wellen 5.600 Organisationen der Zivilgesellschaft verboten. Mehr als 450 Menschen wurden allein seit Februar 2023 ausgebürgert.

Mit der Verfassungsreform unter­nehmen Ortega und Murillo einen weiteren Schritt zum Aufbau einer Familiendynastie, sagt die Leiterin des Medienportals »100 % Noticias«, Lucía Pineda Ubau.

Der neueste Coup des Regimes ist eine Verfassungsänderung, die die Legislativversammlung, das Parlament des Landes, am 22. November verabschiedet hat. In dieser hat die Regierungspartei FSLN eine erdrückende Mehrheit. Nach Einschätzung einer dreiköpfigen UN-Expert:innengruppe trägt Verfassungsänderung dazu bei, die »uneingeschränkte Macht« der Regierung zu legalisieren und zu festigen. Die Gruppe wurde vom UN-Menschenrechtsrat berufen, erstattet regelmäßig Bericht und hat Ende November ihre Stellungnahme zur Verfassungsreform vorgelegt.

Es ist die zwölfte Verfassungsreform seit der neuerlichen Wahl von Ortega zum Präsidenten des Landes im Jahr 2007. Mehr als 100 Änderungen in den Artikeln der Verfassung wurden vorgenommen. Mit absichtlich vagen Formulierungen, so die Einschätzung des Expert:in­nentrios, wird die Aufhebung der Gewaltenteilung, die in der Praxis längst stattgefunden hat, nun auch formal ­legalisiert.

Mit Verfassungsreform zum Aufbau einer Familiendynastie

Unter anderem wird die Amtszeit des Präsidenten von fünf auf sechs Jahre verlängert, die Rolle des Vizepräsidenten zum »Co-Präsidenten« aufgewertet und das verfassungsmäßige Verbot der Medienzensur aufgehoben. Mit dieser »Co-Präsidentschaft« dürfte nur die Anpassung an die Realität vollzogen sein, denn, so die Einschätzung vieler Expert:in­nen, Murillo führt faktisch längst die Regierungsgeschäfte, während sich ihr schwerkranker Gatte wohl im Hintergrund hält.

Des Weiteren sieht die Verfassungsreform vor, dass die Grundrechte während des Ausnahmezustands ausgesetzt und Militäreinsätze im Inneren leichter angeordnet werden können. Demnach sollen solche Einsätze fortan auf Antrag der Regierung möglich sein, wenn es die »Stabilität« des Landes verlangt.

Mit der Verfassungsreform unternähmen Ortega und Murillo den nächsten Schritt zum Aufbau einer Familiendynastie, so Pineda Ubau, die auch das Medienportal 100 % Noticias leitet. Darin stimmt sie mit vielen Analyst:in­nen überein, die den Zweck der Reform darin sehen, Murillo und dem gemeinsamen Sohn des Präsidentenpaares, Laureano Ortega, die Nachfolge von Daniel Ortega zu garantieren. Laureano Ortega wird immer öfter von seinem Vater zur Wahrnehmung von Regierungsaufgaben bevollmächtigt, obwohl er kein offizielles Amt bekleidet.

Repression gegen Oppositionelle, Journalist:innen und Kirchen

100 % Noticias war ursprünglich ein nicaraguanischer Fernsehsender mit 60 Mitarbeiter:innen in der Hauptstadt Managua. Am 21. Dezember 2018 stürmte die Polizei die Redaktionsgebäude, verhaftete Pineda Ubau und ­ihren Kollegen und Mitgründer des Senders, Miguel Mora, wegen »Anstiftung zu Terrorismus« und schloss die Redaktion. Heutzutage werden das Haus und die Studios von Canal 15 Nicaragüense genutzt, einem Regierungskanal. Pineda Ubau saß bis Juni 2019 im Gefängnis, bevor sie ins costa-ricanische Exil ging und dort ­zusammen mit Mora und einer Hand voll Kolleg:innen 100 % Noticias in neuer Form wieder aufgebaut hat.

Das hat funktioniert. Mittlerweile berichtet 100 % Noticias als Nachrichtenportal aus San José, der Hauptstadt Costa Ricas, gemeinsam mit 19 Kolleg:in­nen darüber, was in Nicaragua und der ­Region passiert; die Verfassungsänderung vom 22. November beobachten und analysieren sie sehr genau. Die Redaktion verfügt über ein Netz von Informant:innen in Nicaragua, deren Berichte in Managua, León und anderen Städten des Landes gelesen werden.

Betroffen von der Repression in Nicaragua sind neben Oppositionellen und Journalist:innen auch Kirchen und deren Organisationen. Erst Mitte November wurde der Bischof Enrique Herrera, der Vorsitzende der nicaraguanischen Bischofskonferenz, nach ­Guatemala ausgewiesen. Unmittelbar zuvor hatte er den Versuch des sandinistischen Bürgermeisters der nördlich gelegenen Stadt Jinotega, einen Gottesdienst durch laute Musik zu stören, als »frevelhaft« bezeichnet.

Dem Präsidentenpaar gilt jeder als Verräter, der mit den Protesten 2018 im Zusammenhang zu bringen ist oder die Regierung für ihr brutales Vorgehen kritisiert.

Laut einer Studie der in Costa Rica ansässigen Menschenrechtsorganisation Colectivo Nicaragua Nunca Más ist das Vorgehen gegen Herrera kein Einzelfall: Seit 2018 wurden 74 religiöse Repräsentanten festgenommen, meist Pfarrer. 63 von ihnen wurden abgeschoben, 35 davon wiederum wurde die Staatsbürgerschaft entzogen.

Dass auch die Kirchen vom Ortega-Regime drangsaliert werden, hat damit zu tun, dass sie – vor allem die katholische – die Protestierenden im Frühjahr 2018 unterstützt haben. So fanden etwa protestierende Student:innen in der Kathedrale der Hauptstadt Unterschlupf; von hier aus wurde Essen und Geld an die Demons­trierenden verteilt. Bekannte Kardinäle und Bischöfe hatten sich öffentlich gegen die Gewalt aus­gesprochen, die die Regierung gegen Demonstrierende einsetzte. Dem Präsidentenpaar gilt jeder als Verräter, der mit den Protesten 2018 im Zusammenhang zu bringen ist oder die Regierung für ihr brutales Vorgehen kritisiert.