05.12.2024
Das Brettspiel »Dungeons & Dragons« wird 50 Jahre alt

Mit Soft Skills durch die Phantasiewelt

Dungeons & Dragons, die Mutter aller Rollenspiele, ist 50 Jahre nach dem ersten Erscheinen im Mainstream angekommen.

Stephen Colbert, der Moderator der »Late Show«, der Schauspieler Vin Diesel und Tom Morello, der Gitarrist von Rage Against the Machine, haben eine Sache gemein: Sie alle wissen, wofür man einen 20seitigen Würfel braucht. Hätte jemand vor 50 Jahren den Erfindern von Dungeons & Dragons (kurz D & D) gesagt, dass sich einmal derart prominente Figuren der Popkultur zu ihrer ­Liebe für das Rollenspiel bekennen würden – vermutlich hätten sie die Effekte des Confusion-Zaubers noch einmal nachgeschlagen, um zu überprüfen, ob hier jemand seinen Rettungswurf nicht geschafft hat.

D & D ist im Jahr 2024 definitiv im Mainstream angekommen. Ja, mehr noch als das: Dungeons & Dragons ist tatsächlich hip geworden – und das nicht erst seit einer Episode von »Stranger Things«, in der die Haupt­figuren das Spiel spielen. Youtube-Formate wie »Critical Role«, bei denen professionelle Synchronsprecher vor der Kamera eine Runde spielen, erreichen Millionen an Zuschauern. Der allgemeine kulturelle Einfluss dieses einst abseitigen Hobbys ist enorm. Und ein guter Teil der zurzeit erfolgreichen Videospiele wären ohne D & D nicht denkbar.

Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass Dun­geons & Dragons über lange Jahrzehnte so etwas wie eine Chiffre für soziales Außenseitertum war und als Hobby sozial unfähiger Teenager galt. In den Achtzigern standen Rollenspiele sogar im Zentrum einer satanic panic und das Spiel im Verdacht, junge Menschen zu Okkultismus und Suizid zu verleiten.

Es ist kein Zufall, dass die frühe Dungeons-&-Dragons-Szene ein klassischer boys’ club war.

Doch seine 50jährige Erfolgsgeschichte ist nicht nur die Geschichte einer Subkultur, die plötzlich keine mehr ist. Es ist auch die Geschichte, wie das Spielen in dieser Gesellschaft einen anderen Stellenwert errang. Und natürlich ist es auch eine Geschichte der Missverständnisse. Denn weder die Kritik an dem Hobby – dass sich hier Außenseiter noch weiter von der Gesellschaft abkapseln und ungehemmt ihrem Eskapismus frönen – noch das Lob – dass hier junge Menschen ganz wunderbare Soft Skills lernen würden – trifft ganz genau, was Rollenspiel bis heute ausmacht.

Für diejenigen, die noch nie etwas von Pen-and-paper-Rollenspielen ­gehört haben: Bei einer Runde D & D sitzen die Spieler zusammen am Tisch und erleben ein Abenteuer in ihren Köpfen. Sie denken sich Charaktere aus, die sie verkörpern werden: an der klassischen Fantasy à la J. R. R. Tolkiens »Herr der Ringe« ­orientierte Figuren wie Elfen, Zwerge oder Zauberer. Alles, was passiert, geschieht in der Vorstellung der Spieler – und was ihre Charaktere erleben, erzählen sie einander. Geleitet wird das Ganze vom »Dungeon Master«, der die Welt und ihre Bewohner verkörpert und für den Plot zuständig ist. So entsteht so etwas wie eine kollektiv erschaffene, spontane Erzählung, eine kleine, fragile Welt. Was in dieser Welt möglich ist, steht in den Regeln, und ob man das Abenteuer überlebt, entscheiden Würfel – vierseitige bis 20seitige.

An jeder Ecke wartete der sichere Tod

D & D ist so etwas wie die Mutter aller Pen-and-paper-Rollenspiele. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich aus der ursprünglichen Idee eine fast unüberschaubare Masse an vergleichbaren Spielen, die außer klassischen Fantasy-Welten auch ferne Galaxien oder die Abgründe global angelegter Verschwörungstheorien als Setting wählen. Das vielleicht skurrilste Produkt dieser Art ist vielleicht das »Dallas«-Rollenspiel von 1980, in dem die Spieler Figuren aus der gleichnamigen Fernsehserie übernehmen konnten.

Die erste Edition von D & D erschien 1974. Seine beiden Erfinder Dave ­Arneson und Gary Gygax kamen aus der Wargames-Tabletop-Szene und nahmen von dort eine besondere Begeisterung für komplexe Regelsys­teme mit. Gemeinsam gründeten sie die Firma Tactical Studies Rules (TSR), um ihre Regelbücher im Selbstverlag zu veröffentlichen.

D & D zeichnete sich in diesen ersten Jahren nicht unbedingt durch Einsteigerfreundlichkeit aus. Die Sterblichkeit der Spielercharaktere war legendär hoch, was insbesondere an absurden Designvorstellungen der damaligen Spielleiter lag. So etwas wie Spielbalance gab es nicht. Die Welt war voller böser und vor allem überlegener Gegner. An jeder Ecke wartete der sichere Tod in Form von Fallen und Monstern. Die Spieler ­repräsentierten zwar dem Namen nach Helden, fühlten sich aber ­selten so.

Frauen vor allem im Ketten­bikini

Das hat seine Ursprünge in der Tradition, in die sich D & D einschrieb. Angeregt waren die Inhalte des Spiels nämlich weniger, wie man annehmen würde, durch »Herr der Ringe« als durch Autoren wie Fritz Leiber, Robert E. Howard oder Edgar Rice Burroughs, die eher wenig Interesse an großen Epen und schicksalshaften Geschichten hatten. Die Protagonisten dieser Literatur erinnern an die typischen D&D-Charaktere: Antihelden, eher zufällig zusammengeworfen und mit zweifelhaften moralischen Standards ausgestattet. Am Ende geht es weniger darum, die Welt zu retten, als darum, so schnell wie möglich reich zu werden.

Zweifelhafte Standards anderer Natur bestimmten allerdings auch die weiteren Jahre von TSR. Zwar fand D & D sehr schnell eine wachsende Fangemeinde mitsamt Conventions, auf denen die Szene zusammenkam – doch TSR stand immer wieder kurz vor dem Zusammenbruch und zeichnete sich durch eher zwielichtige Geschäftspraktiken aus. Mitgründer Arneson wurde von Tantiemen ausgeschlossen und musste sein Geld einklagen. Gygax flog nach langjährigem Missmanagement aus seiner ­eigenen Firma raus.

Es gibt kaum Gründe, diese Anfangszeit zu glorifizieren, wie es Hobbynostalgiker heutzutage gerne tun. So ist es beispielsweise kein Zufall, dass die frühe D & D-Szene ein klassischer boys’ club war. Nicht nur tauchten Frauen in den Illustrationen der Regelbücher vor allem im Ketten­bikini auf, Gygax selbst war als überzeugter Anhänger des Biologismus der Ansicht, dass Frauen keinen Spaß an Rollenspielen empfinden könnten, weil ihr Hirn anders als das der Männer funktioniere. Ihnen gehe es einfach weniger um das Spiel als solches denn um Geselligkeit.

Verzweiflung und Kulturkampf 

Das ist aus vielen Gründen eine bizarre Aussage – auch deshalb, weil D & D ein zutiefst geselliges Spiel ist, in dem die Immersion, also das Eintauchen in die Geschichte und ihre Welt, ja gerade kollektiv hergestellt wird. Der Reiz, wie auch die Herausforderung, an einer D & D-Runde teilzunehmen, besteht darin, dass jede Sitzung eine Aushandlung über die gemeinsam erschaffene Welt ist, was auch gleichzeitig den gern erhobenen Vorwurf entkräftet, hier ­würden sich Menschen immer weiter aus dem Bereich des Sozialen entfernen.

2014 ist die fünfte Edition von D & D erschienen – und das Image wurde umgekrempelt. 1997 übernahm Wizards of the Coast, zwei Jahre später wurde dieses Unternehmen seinerseits von Hasbro übernommen. ­Damit hielten auch modernere Geschäftspraktiken Einzug. Wizards ­implementierte die sogenannte Open Gaming License mit dem Ziel, das D & D-Spielsystem mit 20seitigen Würfeln als universelles System für Rollenspiele durchzusetzen.

D & D hat sich auch in Hinblick auf Einsteigerfreundlichkeit und Ästhetik geglättet. Regelbücher früherer Jahre waren noch voller Illustrationen, in denen die Helden der Geschichte von irgendwelchen Monstern gefressen wurden oder in Fallen umkamen. Spätestens in der fünften Edition verschwand dieser Stil. Wizards entdeckte zugleich Inklusion für sich und gab sich Mühe, Kriegerinnen in Rüstungen zu kleiden, die sie auch tatsächlich gegen Angriffe schützen könnten, was konservative Dungeon Master zur Verzweiflung und in den Kulturkampf trieb. D&D wurde in diesen Jahren zwar insgesamt zugänglicher, aber auch vorhersehbarer und generischer.

D & D-Session als per­fekte Teambuilding-Maßnahme

Das entsprach einer Debatte, die das Spiel endgültig von seinem Schmuddelimage befreien wollte und Rollenspiel als Grundlage betrachtete, um wichtige Soft Skills zu erlernen. Die Erkenntnis setzte sich durch, dass auch Erwachsene auf allen erdenklichen Medien spielen – mit der unangenehmen Folge, dass eine gamification einsetzte, die ein nicht unwesentlicher Aspekt digitaler Arbeitsverhältnisse im 21. Jahrhundert geworden ist. Es gibt mittlerweile nicht wenige ­Artikel und Youtube-Videos, die eine D & D-Session als die per­fekte Teambuilding-Maßnahme präsentieren.

Das hat dieses Spiel nun wirklich nicht verdient, denn es trifft nicht den Kern dessen, was Rollenspiele bis heute für Spieler interessant macht. Im Vergleich zu großen, höchst immersiven Computerspielen wie beispielsweise bei »World of Warcraft« haben die Spieler gerade dank der Reduktion auf die eigene Vorstellungskraft weitaus mehr Freiheit zu bestimmen, was geschieht.

Und das ist vielleicht der Grund, warum Rollenspiele mit Würfel und Papier immer noch existieren. Medialer Maximalismus lässt sein Gegenstück in einem neuen Licht erscheinen. Doch anders als es die arrivierten Verteidiger des Spiels sehen wollen, ist D & D nichts inhärent Verwertbares zu eigen. Das Schöne an Dun­geons & Dragons ist gerade, dass Menschen hier viel Zeit und Mühe darauf verwenden, etwas zu erschaffen, das keinen weiteren Zweck hat als den, für ein paar Menschen eine interessante Erfahrung zu sein.